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A. Teil A: Problemaufriss

Eine effektive Gefahrenabwehr vor Produktrisiken setzt grundsätzlich beim Hersteller an. Er bringt vorrangig ein potenziell gefährliches Produkt in den Verkehr und besitzt das ergiebigste Wissen darüber. Daher ist es unerlässlich, dass der Hersteller als wesentlicher Wirtschaftsakteur1 des Produktsicherheitsrechts identifizierbar ist, um eine effektive Gefahrenabwehr zu gewährleisten.

Der Begriff „Hersteller“ ist trotz seiner Legaldefinition im Produktsicherheitsgesetz (ProdSG)2 und in den europäischen produktsicherheitsrechtlichen Normen unscharf. In der Legaldefinition des § 2 Nr. 14 ProdSG werden fünf verschiedene Fälle beschrieben,3 in denen ein Wirtschaftsteilnehmer4 als Hersteller anzusehen ist. Durch das Vorliegen mehrerer paralleler Fallgruppen, die mehrere Wirtschaftsteilnehmer gleichzeitig erfüllen können, entsteht eine erhebliche Rechtsunsicherheit. Dies ergibt sich unter anderem aus der Sachlage, dass sich die Fallgruppen zum einen nach dem jeweiligen Wortlaut nicht trennscharf abgrenzen lassen und zum anderen jede einzelne Fallgruppe aufgrund der mangelnden Bestimmtheit des Wortlauts einer umfassenden Auslegung zugänglich ist.

In der vorliegenden Arbeit wird das Ziel verfolgt, diese Rechtsunsicherheit durch eine Konkretisierung des Begriffs „Hersteller“ zu beseitigen. Das Bedürfnis zu dieser Konkretisierung ergibt sich zum einen aus dem mangelnden Kenntnisstand der betreffenden Wirtschaftsteilnehmer. Das Produktsicherheitsrecht ist in den Rechtsabteilungen vieler Unternehmen regelmäßig allenfalls ein in Grundzügen beherrschtes Terrain. Zum anderen findet eine rechtswissenschaftliche Begleitung allenfalls punktuell und aus Praktikersicht statt. Bislang besteht keine allgemeine, aus dem Produktsicherheitsrecht hervorgehende Annäherung. Somit spiegelt sich die beträchtliche praktische Bedeutung des europäischen Produktsicherheitsrechts nicht in der Aufarbeitung in der Rechtswissenschaft wider. Ferner hat im Gegensatz zum Produkthaftungsrecht das Produktsicherheitsrecht in der Rechtsprechung5 und der Literatur bisher wenig Resonanz gefunden.

Des Weiteren hat die dieser Ausarbeitung zugrunde liegende Forschungsfrage nach der Auslegung des Herstellerbegriffs im Produktsicherheitsrecht sowohl für die Wirtschaftsteilnehmer im europäischen Binnenmarkt als auch für die Marktüberwachungsbehörden eine erhebliche praktische und rechtliche Bedeutung. Erst mit der Konkretisierung beziehungsweise der begrifflichen Schärfung des Herstellerbegriffs lässt sich die erforderliche Rechtssicherheit im Produktsicherheitsrecht hinreichend gewährleisten. Denn jede Unsicherheit über die eigene Rolle als Wirtschaftsteilnehmer im Wirtschaftsverkehr führt dazu, dass die abverlangten Vorkehrungen und Verpflichtungen – etwa als Hersteller – nicht oder nur unzureichend erfüllt werden und weitere Maßnahmen nach sich ziehen, zum Beispiel die Anordnung von Produktrückrufen oder das Auslösen zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche.

Bei der Konkretisierung des Herstellerbegriffs ist zu berücksichtigen, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtsquellen im Produktsicherheitsrecht vorliegt und die Ausgestaltung der Rechtsnormen selbst für Wirtschaftsteilnehmer, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, nicht leicht zu handhaben ist. Aufgrund der aufgezeigten Handhabungsschwierigkeiten und mangelnder Kenntnisse im allgemeinen Produktsicherheitsrecht ist eine grundlegende Konkretisierung des Herstellerbegriffs anhand des deutschen Produktsicherheitsgesetzes und der europäischen Harmonisierungsvorschriften geboten.

Das Ziel ist es, jede Fallgruppe der Legaldefinition so weit zu konkretisieren, dass Wirtschaftsteilnehmer und Marktüberwachungsbehörden ohne erhebliche Hindernisse den hauptverantwortlichen Hersteller im Sinne des ProdSG für ein Produkt identifizieren können. Im Fokus steht die Herausarbeitung konkreter Kriterien, anhand derer eine Identifikation des Herstellers im produktsicherheitsrechtlichen Sinne möglich ist. Allerdings darf das allgemeine Sprachverständnis für den Herstellerbegriff nicht zu einer unzutreffenden Auslegung führen, die insbesondere für den Wirtschaftsteilnehmer, der seine Herstellereigenschaft verkennt, erhebliche negative Folgen haben kann.

Diese Untersuchung erfordert indes methodische Vorüberlegungen: Angesichts der praktischen Handhabbarkeit führt eine allein rechtsaktbezogene Untersuchung nicht weiter. Vielmehr muss ein Ansatz nach dem Sinn und Zweck der Regelungsmaterie verfolgt werden, der auf folgender Frage basiert: Wie lässt sich das Steuerungsziel „Produktsicherheit“ am effektivsten verwirklichen?

1 Wirtschaftsakteure sind nach der Legaldefinition des § 2 Nr. 29 ProdSG Hersteller, Bevollmächtigte, Einführer und Händler im Sinne des ProdSG. 2 Produktsicherheitsgesetz vom 8. November 2011 (BGBl. I S. 2178, 2179; 2012 I S. 131), das durch Art. 435 der Verordnung vom 31. August 2015 (BGBl. I S. 1474) geändert wurde. 3 Siehe dazu instruktiv Teil F II. 4 Als Wirtschaftsteilnehmer werden in der vorliegenden Arbeit sämtliche natürlichen und juristischen Personen bezeichnet, die am Wirtschaftsleben teilhaben wie Wirtschaftsakteure und Personen, die nicht unter die Definition des Wirtschaftsakteurs fallen. 5 Bezeichnenderweise besteht die größte Anzahl der nationalen Rechtsprechung zum Produktsicherheitsrecht aus Urteilen zum Wettbewerbsrecht, unter anderem im Rahmen des § 3a UWG.

B. Teil B: Rechtsrahmen und Forschungsfrage

In diesem Kapitel werden die gesetzlichen Grundlagen des Herstellerbegriffs sowie dessen Unzulänglichkeiten im deutschen und europäischen Produktsicherheitsrecht dargestellt. Des Weiteren wird herausgearbeitet, weshalb es aus Unternehmersicht und aus staatlicher Sicht einer Schärfung beziehungsweise Konkretisierung dieses Begriffs bedarf.

I. Gesetzliche Grundlagen

Die Auslegung des Herstellerbegriffs erfolgt im Wesentlichen auf der Grundlage der Legaldefinition des Produktsicherheitsgesetzes in § 2 Nr. 14 ProdSG. Neben dieser Definition bestehen im Produktsicherheitsrecht weitere Herstellerdefinitionen in sektoralen Harmonisierungsrechtsakt6, Verordnungen zum Produktsicherheitsgesetz und speziellen Produktsicherheitsgesetzen. Die Definitionen gehen auf die Musterdefinition aus Art. R1 Nr. 3 des Beschluss 768/2008/EG zurück und sind aufgrund der europäischen Harmonisierung nach der „neuen Konzeption“ sowie der Verordnung (EG) 765/2008 und dem Beschluss 768/2008/EG nahezu identisch.7 Zu diesen Rechtsakten bestehen stellenweise Auslegungshilfen, wie Leitfäden,8 die aufgrund des Gleichlaufs der Herstellerbegriffe durch die europäische Harmonisierung in ihren Grundzügen auch Geltung für den Herstellerbegriff aus § 2 Nr. 14 ProdSG haben können. Umgekehrt entfaltet die Auslegung des Herstellerbegriffs des § 2 Nr. 14 ProdSG unter der Beachtung von sektoralen Eigenheiten im Wesentlichen auch Geltung für die Herstellerdefinitionen in den weiteren produktsicherheitsrechtlichen Rechtsvorschriften.

1. Das Produktsicherheitsgesetz (ProdSG)

Das zentrale Gesetz für die Beurteilung, welcher Marktteilnehmer in Deutschland als „Hersteller“ anzusehen ist, ist das Produktsicherheitsgesetz, das am 1. Dezember 2011 in Kraft getreten ist. Das Produktsicherheitsgesetz setzt die europäische „Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit“ 2001/95/EG9 in Deutschland nahezu eins zu eins in nationales Recht um. Die Allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG definiert Anforderungen für diejenigen Produkte, die nicht von einem sektoralen Harmonisierungsrechtsakt erfasst werden.

Das ProdSG dient insbesondere dem Schutz der Sicherheit und Gesundheit von Personen (§ 3 Abs. 2 S. 1 ProdSG). Dazu werden in § 3 ProdSG verschiedene Anforderungen an das Produkt formuliert. Die Marktteilnehmer – und damit auch die Hersteller – dürfen nur sichere Produkte auf dem Markt bereitstellen.

2. Europäische Rechtsnormen

Neben das ProdSG als nationales Produktsicherheitsrecht, das die Allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG in nationales Recht umsetzt, tritt ein komplexes System weiterer europäischer Normen, die für die Auslegung des Herstellerbegriffs von maßgeblicher Bedeutung sind. Dies ergibt sich aus der europäischen Harmonisierung des Produktsicherheitsrechts und damit auch des Herstellerbegriffs. Dieses System besteht im Wesentlichen aus Rechtsvorschriften im Rahmen der sogenannten „neuen Konzeption“, dem sogenannten „Globalen Konzept“ und dem sogenannten „New Legislative Framework“ (NLF), der Europäischen Union, deren Sinn und Zweck beziehungsweise dessen Ziele als auslegungsleitende Grundsätze herangezogen10 und im Folgenden näher dargestellt werden.

Die sogenannte „neue Konzeption“ der Europäischen Union legt einheitliche, grundlegende Produktsicherheitsanforderungen in sektoralen Harmonisierungsrechtsakten fest, die auf der Grundlage des Art. 114 AEUV11 erlassen wurden und werden.12 Indem europaweit in den sektoralen Harmonisierungsrechtsakten einheitliche Anforderungen an Produkte gestellt werden, soll dem freien europäischen Warenverkehr zur Durchsetzung verholfen werden. Ein Produkt, das unter den Anwendungsbereich eines sektoralen Harmonisierungsrechtsakts fällt, darf nur dann in Verkehr gebracht werden, wenn die Konformität dieses Produkts mit den Anforderungen der darauf anwendbaren EU-Richtlinie(n) oder EU-Verordnung(en) bescheinigt wird (Konformitätserklärung) und durch das Anbringen des CE-Kennzeichens auf dem Produkt bestätigt wird.13 Der Hersteller erklärt mit dem Anbringen des CE-Kennzeichens auf dem Produkt gegenüber den Marktüberwachungsbehörden, dass er der Auffassung ist, die Anforderungen dieser Harmonisierungsrechtsakte eingehalten zu haben.14 Dadurch ist das Produkt mit dem CE-Kennzeichen im Europäischen Wirtschaftsraum frei verkehrsfähig.

Die „neue Konzeption“ wird durch das sogenannte „Globale Konzept“ ergänzt: Die nationalen Marktüberwachungsbehörden erkennen die Konformitätserklärungen von Herstellern aus anderen Mitgliedstaaten gegenseitig an.15 Dazu wurden gemeinsame Regeln für eine einheitlich gestaltete CE-Konformitätskennzeichnung geschaffen und die Konformitätsbewertung harmonisiert.16 Umgesetzt wurde das „Globale Konzept“ durch den „Beschluss über die in den Harmonisierungsrichtlinien zu verwendenden Module für die verschiedenen Phasen der Konformitätsbewertung und die Regeln für das Anbringen und Verwendung der CE-Konformitätskennzeichnung“.17 Dieser sogenannte „Modulbeschluss“ enthielt verschiedene Verfahren, wie die Konformität von Produkten festgestellt werden soll. Je nach Gefährlichkeit und Komplexität des Produkts ändern sich die Anforderungen an das Konformitätsbewertungsverfahren, wodurch ein entsprechendes Modul mit entsprechenden Anforderungen an das Konformitätsbewertungsverfahren anzuwenden war.18 Ein Modul schreibt beispielsweise vor, dass der Hersteller über ein vollständiges Qualitätssicherungssystem verfügen muss. Durch den Beschluss Nr. 768/2008/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juni 2008 „über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten und zur Aufhebung des Beschlusses 93/465/EWG des Rates“ wurde der Modulbeschluss unter Beibehaltung des Modulprinzips durch weitere Präzisierungen ersetzt.19 Für die ab 2008 erlassenen sektoralen Harmonisierungsrechtsakte bzw. für die Überarbeitung vorhandener Harmonisierungsrechtsakte galt bzw. gilt nun der Beschluss 768/2008/EG. Dieser enthält unter anderem gemeinsame Grundsätze und Musterbestimmungen für die Anwendung in allen sektoralen Harmonisierungsrechtsakten. Dieser Beschluss bildet einen allgemeinen umspannenden Rahmen für Rechtsvorschriften zur Harmonisierung des Binnenmarktes und enthält zudem verschiedene Definitionen für bestimmte grundlegende Begriffe, wie den Herstellerbegriff. Die sektoralen Harmonisierungsrechtsakte, die auf der Basis des Beschlusses 768/2008/EG erlassen wurden und werden, beinhalten folglich grundsätzlich die gleichlautenden Definitionen des Beschluss 768/2008/EG. Zuvor wurde in den sektoralen Harmonisierungsrechtsakten eine ganze Reihe von Begriffen verwendet, die teilweise nicht oder unterschiedlich definiert waren und deshalb zu einer rechtlichen Unklarheit in dem Mitgliedstaaten der Europäischen Union geführt haben. Dazu gehörte unter anderem auch der Herstellerbegriff.

Seit dem 1. Januar 2010 gilt der „New Legislative Framework“ der den Beschluss Nr. 768/2008/EG mit der EU-Verordnung Nr. 765/2008 und der Verordnung 764/2008/EG ergänzt. Die Verordnung (EU) 765/2008 gibt einen neuen allgemeinen Rechtsrahmen für die Überwachung der Sicherheit von Produkten in der EU vor. Auf der Grundlage dieser Verordnung sollen die einzelnen Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission das System der Markt- und Produktüberwachung auf Verwaltungsebene organisieren, um die verschiedenen produktsicherheitsrechtlichen Vorschriften gegenüber den Wirtschaftsakteuren zu kontrollieren und durchsetzen.

3. Verhältnis ProdSG, Allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG und sonstige sektoralen Harmonisierungsrechtsakten

Die Auslegung des Herstellerbegriffs findet zwar maßgeblich anhand der Definition in § 2 Nr. 14 ProdSG statt. Für die Auslegung werden jedoch auch Auslegungshilfen, wie Leitfäden zu sektoralen Harmonisierungsrechtsakten herangezogen, die Aussagen über den „Hersteller“ des entsprechenden Harmonisierungsrechtsakts enthalten. Die Heranziehung dieser Auslegungshilfen ist grundsätzlich möglich, da die Herstellerdefinitionen in den Harmonisierungsrechtsakte aufgrund der europäischen Harmonisierung durch den Musterbeschluss 768/2008/EG – wie bereits dargelegt – nahezu identisch sind. Die Auslegung des Herstellerbegriffs des Produktsicherheitsgesetzes entfaltet ferner allgemeingültige Geltung für den jeweiligen Herstellerbegriff aus den sektoralen Harmonisierungsrechtsakten. Zu berücksichtigen ist hierbei jedoch, dass spezifische Modifikationen des Herstellerbegriffs bestehen können, die für den jeweiligen Sektor zu beachten sind. Dies ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen der Allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG, die durch das ProdSG in nationales Recht umgesetzt wird und den sektoralen Harmonisierungsrechtsakten:

Die Allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG hat keine übergeordnete Allgemeingültigkeit gegenüber den sektoralen Harmonisierungsrechtsakten. Vielmehr stehen die sektoralen Harmonisierungsrechtsakte auf der gleichen Ebene wie die Allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG und können daher allenfalls modifizierend wirken. Der Revisionsentwurf20 zur Allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG der Europäischen Kommission verdeutlicht in Art. 1 sowie in Art. 4 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 E-RaPS, dass gegenüber den anderen sektoralen Harmonisierungsrechtsakten keine übergeordnete Geltung bestehen soll, sondern die Allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG soll nur dann zur Anwendung kommen, wenn ein Produkt weder von einem Harmonisierungsrechtsakt noch von einer nationalen Vorschrift erfasst ist.21 Denn nach Art. 1 Abs. 2 RaPS gehen die Vorgaben der Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit gegenüber den spezifischen Sicherheitsanforderungen22 im Gemeinschaftsrecht nur dann vor, soweit gewisse Aspekte, Risiken oder Risikokategorien darin nicht geregelt sind. Dazu heißt es im Wortlaut Art. 1 Abs. 2 RaPS:

„Jede Vorschrift dieser Richtlinie gilt insoweit, als es im Rahmen gemeinschaftlicher Rechtsvorschriften keine spezifischen Bestimmungen über die Sicherheit der betreffenden Produkte gibt, mit denen dasselbe Ziel verfolgt wird. Sind für Produkte in Gemeinschaftsvorschriften spezifische Sicherheitsanforderungen festgelegt, so gilt diese Richtlinie nur für Aspekte, Risiken oder Risikokategorien, die nicht unter diese Anforderungen fallen.“

Infolgedessen können in EU-Richtlinien und EU-Verordnungen auch geringere Sicherheitsanforderungen an ein Produkt gestellt werden, als sie in der Allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG beziehungsweise dem ProdSG konstituiert sind. Diese Möglichkeit ist bei näherer Betrachtung auch überzeugend, da dadurch in den sektoralen Harmonisierungsrechtsakten auf spezifische Eigenheiten eines speziellen Produkts und seines Einsatzfelds, zum Beispiel in der Zulieferindustrie, eingegangen werden kann.

Demnach würde eine Vorrangregelung dem System des EU-Produktsicherheitsrechts widersprechen. Dies ergibt sich daraus, dass die sektoralen Harmonisierungsrechtsakte in erster Linie den Warenverkehr durch einheitliche Sicherheitsstandards zwischen den Mitgliedstaaten im EU-Binnenmarkt gewährleisten sollen.23 Würden durch nationale Umsetzungsgesetze oder durch Gemeinschaftsrechtsakte höhere Sicherheitsstandards mit einem Vorrang gegenüber der jeweiligen EU-Richtlinie statuiert, würden die sektoralen Harmonisierungsrechtsakte und die damit verbundene EU-Harmonisierung ihren Sinn verlieren, da in diesem Fall nur noch die Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit benötigt werden würde.

4. Sachliche Anwendungsbereiche

Die Herstellerdefinition des ProdSG wird erst dann relevant, wenn der sachliche Anwendungsbereich des ProdSG eröffnet ist. Dies richtet sich maßgeblich nach dem jeweils hergestellten Produkt. Grundsätzlich sind alle Produkte vom ProdSG umfasst, die im Rahmen einer Geschäftstätigkeit auf dem Markt bereitgestellt, ausgestellt oder erstmals verwendet werden. Ausnahmen bilden Lebensmittel, lebende Pflanzen und Tiere, Antiquitäten oder Militärprodukte. Für sie gelten spezielle Gesetze und Regelungen, die neben dem ProdSG stehen.24 Spezielle Verordnungen zum Produktsicherheitsgesetz (ProdSV) stellen besondere Anforderungen an Produkte, die zwar bereits vom ProdSG umfasst sind, aber den sachlichen Anwendungsbereich des ProdSG nicht erweitern. Die Verordnungen zum Produktsicherheitsgesetz wurden auf der Grundlage europäischer Richtlinien25 erlassen, die ihrerseits – wie bereits dargestellt – auf der Grundlage des Beschlusses 768/2008/EG erlassen wurden. Diese EU-Richtlinien26 teilen sich in zwei Arten auf: in die horizontalen (produktunabhängigen) Harmonisierungsrechtsvorschriften wie die EMV-Richtlinie27 oder die Niederspannungsrichtlinie28 und in die vertikalen Harmonisierungsrechtsvorschriften für spezifische Industriesektoren wie Maschinen29, Druckgeräte30 oder Funkanlagen31. Stellenweise wurden diese EU-Richtlinien nicht nur durch (nationale) Verordnungen, sondern auch durch Spezialgesetze in deutsches Recht umgesetzt, zum Beispiel durch das ElektroG. Ferner bestehen horizontale und vertikale europäische Verordnungen, die unmittelbar gelten wie beispielsweise die sogenannte REACH-Verordnung (EG) Nr. 1907/2006, die den sachlichen Anwendungsbereich des ProdSG jedoch ebenfalls nicht erweitern.

Durch die Regelungen für Verbraucherprodukte in § 6 ProdSG wird der sachliche Anwendungsbereich des ProdSG ebenfalls nicht erweitert. Vielmehr handelt es sich dabei um zusätzliche Anforderungen an Verbraucherprodukte, die bereits vom Anwendungsbereich des ProdSG umfasst sind. Das ProdSG stellt für die Verbraucherprodukte folglich eine Dachfunktion dar, indem es zusätzliche Anforderungen an deren Bereitstellung stellt32, ähnlich den Verordnungen zum Produktsicherheitsgesetz.


Abbildung 1: Verhältnis der Produktsicherheitsnormen zueinander Quelle: eigene Darstellung

5. Räumlicher Geltungsbereich

Der räumliche Geltungsbereich des ProdSG legt zwar fest, wo marktüberwachungsbehördliche Maßnahmen durch die deutsche Verwaltung gegenüber einem Hersteller im Sinne des ProdSG erlassen werden können, trägt aber nicht zur Konstitution eines Wirtschaftsteilnehmers als Hersteller im Sinne des § 2 Nr. 14 ProdSG bei. Der räumliche Geltungsbereich des ProdSG ist auf das Staatsgebiet Deutschlands beschränkt, indem die produktsicherheitsrechtlichen Handlungsweisen innerhalb des Staatsgebietes stattfinden müssen. Dabei kommt es maßgeblich darauf an, „wo genau die Sachherrschaft in Bezug auf das Produkt wechselt“.33 Folglich muss der Hersteller nicht seinen Sitz in Deutschland haben, um als Hersteller im Sinne des ProdSG zu gelten. Dieser Schluss ergibt sich bereits aus § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ProdSG, nach dem das Anbringen der Kontaktdaten eines Einführers oder eines Bevollmächtigten auf einem Verbraucherprodukt nur für den Fall vorgesehen ist, dass der Hersteller nicht im Europäischen Wirtschaftsraum (also auch nicht in Deutschland) ansässig ist.34 Des Weiteren bestehen keine Regelungen im ProdSG, die festlegen, dass der Hersteller seinen Sitz in Deutschland haben muss.

Für den räumlichen Anwendungsbereich der sektoralen Harmonisierungsrechtsakten ist maßgeblich, in welchem Staat ein Produkt in Verkehr35 gebracht wird. Das ergibt sich unter anderem aus Artikel R2 Abs. 1 des Musterbeschlusses Nr. 768/2008/EG, in dem es heißt: „Die Hersteller gewährleisten, wenn sie ihre Produkte in Verkehr bringen, dass diese gemäß den Anforderungen von […] entworfen und hergestellt wurden.“ In den Harmonisierungsrechtsakten bestehen ebenfalls keine Regelungen, die festschreiben, dass der Hersteller innerhalb des räumlichen Anwendungsbereichs seinen Sitz haben muss. Die Harmonisierungsrechtsakte schreiben somit nicht fest, dass der Hersteller des Produkts in der Europäischen Union niedergelassen sein muss.36 Vielmehr muss der Hersteller, unabhängig davon, wo er niedergelassen ist, dieselben Anforderungen erfüllen wie ein in der Europäischen Union niedergelassener Hersteller. Eine Bedeutung für die Auslegung des Herstellerbegriffs resultiert daraus wie bereits beim ProdSG ebenfalls nicht. Da allerdings nur innerhalb des räumlichen Anwendungsbereichs der Harmonisierungsrechtsakten ein Inverkehrbringen vorliegen kann und das Inverkehrbringen für verschiedene Fallgruppen der Herstellerdefinition ein maßgebliches Tatbestandsmerkmal ist, ist der räumliche Anwendungsbereich der Harmonisierungsrechtsakte dennoch von entscheidender Bedeutung, wie noch zu zeigen sein wird.

6 „Sektoraler Harmonisierungsrechtsakt“ ist ein Sammelbegriff für EU-Richtlinien und EU-Verordnungen, in denen spezifische Anforderungen an Produkte im europäischen Binnenmarkt gestellt werden. 7 Siehe dazu Teil D. VIII. Nr. 1. 8 Siehe dazu Teil C. II. 9 Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Dezember 2001 über die allgemeine Produktsicherheit, ABl. EG Nr. L 11 S. 4. 10 Siehe dazu vertiefend Teil E. 11 Art. 114 AEUV ist die Nachfolgenorm zu Art. 95 EGV, auf dessen Grundlage ebenfalls EU-Richtlinien erlassen wurden. 12 Europäische Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der nach dem neuen Konzept und dem Gesamtkonzept verfassten Richtlinien, Punkt 1.4, S. 12. 13 Beschluss der Kommission (2010/713/EU) vom 9. November 2010 über Module für die Verfahren der Konformitäts- und Gebrauchstauglichkeitsbewertung sowie der EG-Prüfung, die in den gemäß Richtlinie 2008/57/EG des Europäischen Parlaments und des Rates angenommenen technischen Spezifikationen für die Interoperabilität zu verwenden sind (bekannt gegeben unter Aktenzeichen K(2010) 7582) (Modulbeschluss), I B lit. b.; Schneider, Zertifizierung im Rahmen der CE-Kennzeichnung, S. 8. 14 Klindt, „Das Recht der Produktsicherheit: ein Überblick“, S. 299. 15 Schneider, Zertifizierung im Rahmen der CE-Kennzeichnung, S. 8. 16 Europäische Kommission, Ein globales Konzept für Zertifizierung und Prüfwesen, KOM (89), 209 endg. V. 15.06.1989, Nr. C 267. 17 Modulbeschluss 93/465/EWG vom 22. Juli 1993. 18 Schneider, Zertifizierung im Rahmen der CE-Kennzeichnung, S. 46. 19 Beschluss Nr. 768/2008/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten und zur Aufhebung des Beschlusses 93/465/EWG des Rates, Erwägungsgrund 14. 20 Vorschlag der Kommission vom 13.02.2013 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Sicherheit von Verbraucherprodukten und zur Aufhebung der Richtlinie 87/357/EWG des Rates und der Richtlinie 2001/95/EG (COM(2013) 78 final). 21 Adam, Die Mitteilungen der Kommission, S. 415 ff.; Klindt in: Klindt, Geräte- und Produktsicherheitsgesetz (GPSG), § 1 Rn. 26 und 28 ff. 22 Beispielsweise regelt eine EU-Richtlinie nur mechanische, aber nicht thermische Risiken eines bestimmen Produkts. Dementsprechend gelten für diese thermischen Risiken die einschlägigen Sicherheitsanforderungen der Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit, wenn auch keine nationalen Sicherheitsanforderungen für diese thermische Risiken bestehen und es sich zudem um ein Verbraucherprodukt handelt. 23 Siehe dazu instruktiv Teil E. II. Nr. 2; Pfenninger, AJP/PJA 2014, 1157, 1166. 24 Als Beispiele dafür sind das Lebensmittel- und Futtermittelgesetz oder das Artenschutzgesetz zu nennen. 25 Seit 1. Dezember 2009 mit Inkrafttreten des „Vertrags von Lissabon“: „EU-Richtlinie“. 26 Mit dem Ablauf der jeweiligen Umsetzungsfrist einer EU-Richtlinie, ohne einer nationalen Umsetzung der entsprechenden Richtlinie, entfaltet die EU-Richtlinie auch im nationalen Produktsicherheitsrecht direkte Wirkung, siehe dazu instruktiv Schucht, StoffR 2015, 192, 193. 27 Richtlinie 2014/30/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die elektromagnetische Verträglichkeit. 28 Richtlinie 2014/35/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung elektrischer Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen auf dem Markt. 29 Richtlinie 2006/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2006 über Maschinen und zur Änderung der Richtlinie 95/16/EG. 30 Richtlinie 2014/68/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung von Druckgeräten auf dem Markt. 31 Richtlinie 2014/53/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung von Funkanlagen auf dem Markt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/5/EG. 32 Lach/Polly, Produktsicherheitsgesetz, S. 4. 33 Schucht in: Klindt, Produktsicherheitsgesetz ProdSG, 2015, § 1 Rn. 35. 34 Klindt/Schucht in: Klindt, Produktsicherheitsgesetz ProdSG, 2015, § 2 Rn. 117. 35 Siehe zur Inverkehrgabe instruktiv Teil F II. Nr. 3 dd). 36 Blue Guide, C 272/29.