Hört auf zu heulen

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Christian Ortner: Hört auf zu heulen

I. »Enttäuschung«, »Wut« und natürlich die unvermeidliche »Betroffenheit« sind in der wohlhabenden deutschsprachigen Mitte Europas zu einer Seuche geworden, die vermutlich ungefähr so viel Schaden anrichtet wie Klimawandel, Waldsterben und Fukushima zusammen.

Er sei, tobte im Frühling 2013 ein junger, gar nicht unbegabter österreichischer Journalist auf seinem Blog, in seinem ganzen Leben »noch nie so respektlos und miserabel behandelt worden … Ich bin wütend. Ich bin enttäuscht. Es tut verdammt weh …«

Ursache der argen Seelenpein des Mannes war ein in der Tat etwas herzlos geratenes Schreiben des österreichischen Staatsfernsehens ORF gewesen, in dem ihm beschieden wurde: »Wir bedauern sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass das Traineeship, für welches Sie sich beworben haben, leider nicht stattfinden wird.

Für Ihr Engagement sowie für Ihre Geduld beim Warten auf die Entscheidung danken wir Ihnen sehr herzlich. Falls wir 2014 ein solches Traineeship anbieten, finden Sie die Informationen dazu im Dezember auf jobs.orf.at. Wir wünschen Ihnen für Ihren weiteren Weg alles Gute!«

Grund der Absage war nicht etwa die mangelnde Qualifikation des jungen Mannes gewesen – die hatte er einem aufwändigen Auswahlverfahren bereits unter Beweis gestellt – sondern eine Entscheidung des Senders, doch keine derartigen Praktikanten einzustellen. Blöd gelaufen, sozusagen.

Verständlich ist da ja bis zu einem gewissen Grad, dass der verhinderte Trainee sich nicht eben gut behandelt fühlte und darob eher schlechte Laune aufriss.

Was aber bringt jemanden dazu, so mimosenhaft, heulsusig und vor allem völlig ohne jedes Gefühl für angemessene Proportionen derart emotional zu hyperventilieren – und das noch dazu in aller Öffentlichkeit? Es tut verdammt weh?

Selbst Armin Wolf, Anchorman des ORF und wohl bekanntester Fernsehjournalist des Landes, konnte es sich nicht verkneifen, dem Sensibelchen auf Facebook einen kleinen Reality-Check zu spendieren: »Ich habe mal – mit einigen sehr engagierten, tollen Kollegen – ein Jahr lang an einem Web-Projekt gearbeitet, das dann nicht zustande kam, weil das Budget letztlich doch nicht vorhanden war«, schrieb Wolf. »Nicht ideal, echt nicht lustig, viel verlorene Arbeits- und Lebenszeit, aber das passiert in Unternehmen. Man ärgert sich trotzdem – und das zu Recht.

Aber: ›Ich wurde in meinem Leben noch nie so respektlos und miserabel behandelt‹?

Echt jetzt? Ist das Ihr Ernst?

Eine vergebliche Bewerbung, ein ebenso vergebliches Assessment, eine durchaus höfliche Absage – das ist die miserabelste Behandlung eines ganzen Lebens?

Ich muss jetzt mal etwas leicht Polemisches sagen: Herr Kollege, ich fürchte, Sie müssen sich für Ihr Berufsleben eventuell noch auf ein paar Enttäuschungen einstellen, die deutlich größer ausfallen können.«

Das stimmt natürlich. Doch das gilt freilich nicht nur für unseren armen verhinderten Trainee und auch nicht nur für das Erwerbsleben. Was auf den ersten Blick wie die leichte Übersensibilität eines vielleicht emotional noch nicht ganz austarierten jungen Mannes erscheinen mag, ist nämlich nicht eben unsymptomatisch für die Befindlichkeit erheblicher Teile der Bevölkerung und der politischen Eliten in den westlichen Sozialstaaten des frühen 21. Jahrhunderts. »Wütend«, »betroffen« und »enttäuscht« zu sein, auf was und von was auch immer im Einzelnen, ist zu einem Massenphänomen geworden, das sich längst dem Gesetz von Ursache und Wirkung entzogen hat und zu einer Art frei schwebenden Befindlichkeit geworden ist.

Ausgerechnet jener Teil der Welt, dessen Bewohner vor den Unannehmlichkeiten des Lebens vom fürsorglichen Nanny-Staat weit umfänglicher, aufwändiger und kostspieliger beschützt werden als alle anderen Menschen auf diesem Planeten, entwickelt sich immer mehr zu einer Zone der Weinerlichkeit, des Jammerns und der weitgehenden Unwilligkeit, die Unbilden des Daseins mit angemessener Gelassenheit hinzunehmen. Und zwar quer über nahezu alle sozialen, regionalen oder Altersgruppen hinweg. Alle Menschen werden Brüder – aber Brüder im Geiste einer unglaublichen Wehleidigkeit.

Man muss sich nur eine der zahllosen TV-Quasselshows des deutschen Sprachraums ansehen, um das Ausmaß des Leidens erfassen zu können, das angeblich Europa erfasst hat. Die Jugend? Eine verlorene Generation. Die Alten? Von Altersarmut, Alzheimer und Mangel an Pflegern bedroht. Deutsche und Österreicher? Müssen für die faulen Südeuropäer zahlen. Griechen und Portugiesen? Werden von den Troika-Faschisten unterdrückt. Reiche? Werden enteignet. Arme? Verarmen. Arbeitgeber? Bekommen keine guten Arbeiter mehr. Arbeiter? Haben in halb Europa keine Arbeit. Sparer? Bekommen keine Zinsen. Kreditnehmer? Bekommen keinen Kredit mehr. Schüler? Klagen über Lehrer. Lehrer? Klagen über Schüler. Und so weiter und so weiter ohne Ende, die Gegenwart ein nicht enden wollendes Jammertal, in dem das blanke Elend regiert und dessen Bewohner ausschließlich Angehörige irgendeiner (oder noch besser gleich mehrerer davon) schwer benachteiligten Minderheit sind.

Kleiner Einschub: Ein ganz besonderes Talent, mimosenhafte Wehleidigkeit zum Lebensstil zu machen, zeigen übrigens regelmäßig ausgerechnet diejenigen, die den jungen Menschen eigentlich die zum Überleben im Dschungel des 21. Jahrhunderts notwendige Härte beibringen sollten – die Lehrer. Wann immer dieser Berufsgruppe eine kleine Änderung ihrer Arbeitsbedingungen zugemutet werden soll, verfallen deren Angehörige in kollektive Heulkrämpfe, als sollten sie künftig im Uranbergbau Untertagearbeit leisten. »Es ist schon jetzt so, dass es im Lehrerbereich einen sehr hohen Anteil von teilbeschäftigten Personen gibt. Das liegt in erster Linie daran, dass es die Leute nicht aushalten, so viel zu arbeiten …«, greinte etwa ein österreichischer Lehrergewerkschafter angesichts der von der Regierung angedrohten Zumutung, die wöchentliche Unterrichtsverpflichtung des Lehrkörpers auf brutale 26 Stunden pro Woche zu erhöhen. Angesichts von nur rund 180 unterrichtsfreien Tagen pro Jahr für österreichische Lehrer ja wirklich ein Grund, in konvulsivische Heulkrämpfe zu verfallen.

Das Einzige, worin sich alle die Benachteiligten, sozial Entrechteten und sonstwie Geschundenen einig sind: »Der Staat« soll zahlen, wegen der Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs, und überhaupt.

Ganz prächtig gedeihen Weinerlichkeit, die Kunst des Betroffenheitsposierens und als Mitgefühl verkleidete Larmoyanz auch dort, wo im katholischen (in Österreich eher) oder evangelischen Milieu (in Deutschland verbreitet) Feste der Rührseligkeit und der Betroffenheit gefeiert werden, bei denen unter den Überschriften »Armut« oder »Ungerechtigkeit« oder »Sozialer Ausgleich« oder so ähnlich des Jammerns kein Ende ist. »So viel Müll. So viel Ungerechtigkeit. So viel Bomben. So viel Gezocke. So viel Gewissenlosigkeit. So viel – was kein Mensch braucht«, greinte etwa beim evangelischen Kirchentag 2013 die Hamburger Bischöfin Kerstin Fehrs geradezu artentypisch – eh, nur leider schaffen die Betroffenheitstsunamis keine Tonne Müll weg, beseitigen keine Bombe und hindern niemand am Zocken. »Lange vorbei sind die Zeiten, in denen Protestanten stolz drauf waren, dass der Geist des Protestantismus auch immer der Geist des Kapitalismus war, weil beide auf die Autonomie des Individuums setzen und auf Eigenverantwortlichkeit. Protestantismus, das hieß einmal euphorische Bejahung der Moderne, der Industrialisierung, der Emanzipationskraft, die allein der Kapitalismus bereit stellt, indem er tradierte, repressive und – nicht selten katholische – vormoderne Strukturen zerschlägt«, notierte da zu Recht Alexander Grau im Magazin »Cicero«, und spottete: »Wäre der Kirchentag lediglich die Hauptversammlung der Rührseligen und Harmoniesüchtigen, die ergriffen Kerzchen über die Elbe schaukeln lassen, man könnte ihn als Folkloreveranstaltung abtun. Doch hinter der süßlichen Rhetorik verbirgt sich ein moralischer Fundamentalismus … (um) all jene zu missionieren, die nicht geneigt und nicht willens sind, die heilige Dreifaltigkeit aus Antikapitalismus, Pazifismus und Ökologismus anzubeten.«

Nicht, dass es all diese in einer medialen Endlosschleife beklagten Schwierigkeiten, Unzulänglichkeiten und Problemzonen nicht bis zu einem gewissen Grad tatsächlich gäbe. Was freilich zunehmend wirklich ganz enorm nervt, ist die Weinerlichkeit und Larmoyanz, mit der diese Probleme im öffentlichen Raum abgehandelt werden, resultierend in einer zunehmenden Unfähigkeit und Unwilligkeit der Politik, gelegentlich harte aber notwendige Entscheidungen zu treffen.

Könnte ja irgendjemand zu heulen beginnen.

Anstatt etwa die enorme Verlängerung der menschlichen Lebenserwartung als ganz wunderbare Entwicklung zu feiern, wird so die daraus resultierende logische Notwendigkeit, eben auch länger arbeiten zu müssen, wehklagend als Zumutung empfunden.

Anstatt den Aufstieg Chinas zu den prosperierenden Regionen als gewaltige Chance für den Export unserer Produkte und Fertigkeiten zu betrachten, wird über den zusätzlichen Wettbewerb mieselsüchtig gemotzt.

Anstatt neue Möglichkeiten der Energiegewinnung – wie etwa das »Fracking« – als unerwartete Wachstumstreiber zu nutzen, verwenden wir sie vor allem, um unsere neurotischen Umwelt-Allüren zu kultivieren.

Weltmeister sind wir in der Fähigkeit geworden, Fortschritt im Zweifel als Bedrohung zu verstehen, vor der wir ängstlich zurückzuweichen haben.

Gespeist wird diese wenig zukunftsfreudige Mentalität nicht zuletzt von der im ganzen deutschen Kulturraum bis heute feststellbaren Neigung, sich mit Vergnügen zu Tode zu fürchten, vor was auch immer. Jene »German Angst«, die in ihrer österreichischen Version mit einem Schuss Übellaunigkeit und nonchalanter Ignoranz durchmischt ist, stellt einen höchst wirkungsvollen Treibstoff für die Betroffenheits- und Weinerlichkeitskraftwerke da. Denn wer sich dauernd vor irgendetwas fürchtet, dem wird auch verlässlich Grund geliefert werden, den Zustand der Welt zu beklagen. Diese »German Angst« ist der einzige Rohstoff, der zwischen Nordsee und Wörthersee in schier unbegrenzten Mengen vorhanden ist: Angst vor dem Atom, Angst vor dem Gen, Angst vor dem Klimawandel – schier unerschöpflich erscheint das deutsche Angstrepertoire. Eine Attitüde mit Tradition übrigens: »Wir schreiben den 7. Dezember 1835. In Deutschland findet eine kleine Revolution statt: Die erste deutsche Eisenbahn fährt von Nürnberg nach Fürth. Die Bevölkerung jedoch jubelt keineswegs angesichts dieser technischen Neuerung. Stattdessen hat sie Angst. Angst vor dem Explodieren der Dampfkessel. Angst davor, der vorüberfahrende Zug könnte das Vieh auf der Weide unfruchtbar machen. Angst vor der Geschwindigkeit von 35 Stundenkilometern, von der Menschen in Ohnmacht fallen könnten.

 

176 Jahre später hat sich scheinbar wenig geändert. Bedenkenträgerei, Panikmache und das Schüren von Ängsten gehören immer noch zur deutschen Volksseele und lassen den Alltag oft gefährlich und wenig ermutigend aussehen.« (Der deutsche Publizist Carsten Tergast)

Man kann sich des Eindrucks nicht wirklich erwehren: Würde man die heutigen Bewohner Deutschlands oder Österreichs samt ihrer politischen Klasse mit einer Zeitmaschine ins Jahr 1945 zurückbeamen, würden sie dort vermutlich nicht mit dem Wiederaufbau ihrer zerstörten Länder beginnen, sondern heulend zusammenbrechen und in flugs gegründeten Betroffenengruppen lauthals ihr Schicksal beklagen (diesfalls freilich ja auch völlig zu Recht).

Dass hingegen die Kinder und die Enkelkinder jener Generation, die vor mehr als einem halben Jahrhundert tatsächlich Grund gehabt hätte, ihre Lebensumstände zu beklagen, heute schon »wütend und enttäuscht« sind, wenn ihnen das Leben mal einen Absagebrief zukommen lässt, muss als Form der psychischen wie intellektuellen Verweichlichung gedeutet werden, einer Unfähigkeit oder Unwilligkeit also, erheblich Anstrengungen zu unternehmen, Niederlagen oder Verluste hinzunehmen und eine gewisse Schmerzresistenz gegenüber den Zumutungen und Ungerechtigkeiten des menschlichen Daseins hinzunehmen. So, wie wir uns daran gewöhnt haben – und daran gewöhnt worden sind –, jedes kleine Wehwehchen sofort mit Schmerzkillern aus der Welt zu schaffen, neigen wir immer mehr dazu, jede kleinste Beeinträchtigung unserer Komfortzone als nicht hinnehmbare Zumutung zu verstehen, die gefälligst vom Staat beseitigt werden muss. Und zwar sofort, wenn geht.

Es ist also letztlich ein Mangel an für das menschliche Überleben notwendiger Härte – primär gegen sich selbst, aber auch anderen gegenüber, wenn es denn sein muss –, der jene Weinerlichkeitskultur erzeugt und befördert, in der Empathie mehr zählt als Ergebnisse, Betroffenheit zur Bürgerpflicht wird und die Fähigkeit politischer Amtsträger, öffentlich zu heulen, gelegentlich mehr zu zählen scheint als ihre Fähigkeit, gediegene Entscheidungen zu fällen.

Wie weit der Prozess der Verweichlichung auch und gerade unserer politischen Eliten vorangeschritten ist, kann besonders gut beobachtet werden, wenn die sich außerplanmäßig aus ihren Ämtern verabschieden müssen. Karl-Theodor zu Guttenberg etwa, als deutscher Bundesverteidigungsminister immerhin verantwortlich gewesen für das Leben und Sterben deutscher Soldaten im Krieg am Hindukusch, war bei seinem Rücktritt am 1. März 2011 offenkundig so von der eigenen Bedeutung überwältigt, dass er die Tränen kaum halten konnte. Als er seinen Rücktritt damit begründete, »am Ende seiner Kräfte« zu sein, bloß weil er angesichts seiner gemogelten Dissertation in die öffentliche Kritik geraten war, mag man das menschlich sympathisch finden – oder schlicht als Mangel an der einem derartigen Amt angemessenen Härte gegen sich selbst verstehen.

Dergleichen ist neuerdings immer öfter zu besichtigen. Auch die damalige Salzburger Landeschefin Gabriele Burgstaller hatte am 12. November 2012, ihren wegen eines gewaltigen Finanzskandals nahenden Amtsverzicht vor Augen, jene mit Tränen gefüllt – wobei die Salzburger Bürger deutlich mehr Grund zu weinen gehabt hätten als die gescheiterte Politikerin – genauso wie der ehemalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler am Tage seines Rücktritts seine Augen nicht trocken halten konnte. Irgendwie bemerkenswert auch die Tränen, die dem Sozialdemokraten Peer Steinbrück im Bundestagswahlkampf vor laufenden Kameras aus Gründen großer Ergriffenheit über sich selbst aus den Augen liefen – ausgerechnet jener Steinbrück, der politische Gegner mit Vergnügen als »Heulsusen« abqualifiziert.

Handelte es sich bei solchen öffentlichen Tränenergüssen bloß um simples politisches Handwerkszeug zur Täuschung des Wählers, um Theatertränen sozusagen, man könnte getrost zur Tagesordnung übergehen. Zu befürchten ist aber: Politiker heulen immer öfter, weil ihnen, wenn auch aus völlig unangemessenen Gründen, tatsächlich zum Heulen zumute ist. Die meinen das ernst, und das ist nun wirklich zum Heulen.

Im heute die öffentliche Meinung dominierenden Milieu der Familienaufsteller, Dauerbetroffenen und hauptberuflichen Mediatoren noch gar nicht bekannter Konflikte wird derartige Schwäche gerne zur Stärke umdefiniert (»starke Männer weinen« oder so). Tatsächlich ist freilich eine derartige Schwäche nichts als Schwäche, in diesem Kontext jedenfalls; und das wünscht man sich von einem Staatschef oder einem Verteidigungsminister ja doch eigentlich eher weniger. Aber ganz offensichtlich spiegelt sich in der Verweichlichung der Eliten bloß die Verweichlichung jener, die sie wählen. Passt schon, irgendwie. Vielleicht sollte man ja einen bundesweiten Tag der Träne einführen, an dem sich alle gemeinsam einmal so richtig schön ausheulen können.

Man könnte das als etwas eigenartige, aber letztlich nicht sonderlich nachteilige Verfasstheit einer von Jahrzehnten des Wohlstandes und des Friedens konfliktscheu, harmoniebedürftig und veränderungsängstlich gewordenen Gesellschaft verstehen, stünden wir nicht in hartem Wettbewerb mit anderen Gesellschaften, die deutlich robuster gestrickt sind und nicht gleich mit Weinkrämpfen, Betroffenheitsattacken und Therapiebedürfnis auf Probleme und Herausforderungen reagieren. In diesem globalen Wettbewerb mit den USA, China, Indien, Brasilien und künftig wohl auch anderen aufsteigenden Nationen wird uns unsere Wehleidigkeit, unsere Weinerlichkeit und unsere habituelle Abneigung gegenüber harten Entscheidungen aller Art nicht wirklich hilfreich sein, ganz im Gegenteil.

Denn diese Weinerlichkeit ist gleichzeitig das Fundament einer politischen Kultur, die auf jede Wehklage mit einer gut gemeinten, aber in vielen Fällen schlecht endenden staatlichen Intervention schließt. Wird laut genug darüber geklagt, dass unterqualifizierte Menschen am Arbeitsmarkt nicht ausreichend entlohnt werden, muss ein gesetzlicher Mindestlohn her, der leider vor allem die Arbeitslosigkeit Minderqualifizierter erhöht. Wird laut genug über die tristen Lebensumstände in Afrika geklagt, werden wieder mal ein paar Milliarden gen Süden geschickt, die leider die Probleme Afrikas nicht kleiner, sondern meist noch größer machen. Wird laut über den Mangel an Arbeitsplätzen für Ältere geklagt, wird deren Kündigung gesetzlich untersagt – was noch weniger Jobs für Alte bedeutet.

Das Muster ist immer das gleiche: Im Bestreben, das vermeintliche oder auch tatsächliche Leid von irgendwelchen Betroffenen zu lindern, ignorieren die Wohlmeinenden in Politik, Gesellschaft und den Medien geflissentlich ökonomische Gesetzmäßigkeiten – und machen damit am Ende alles noch schlimmer, können sich aber dabei selbst richtig gut fühlen.

Wenn wir nicht irgendwann aufhören zu heulen, werden wir schließlich wirklich Grund haben zu heulen.

II. Etwa sieben Prozent der Weltbevölkerung sind derzeit Europäer; diese erwirtschaften rund ein Viertel des Weltwirtschaftsprodukts. Der europäische Anteil an allen weltweit erbrachten Sozialleistungen beträgt jedoch 50 Prozent. Sonst noch Fragen?

Oliver ist in einem idyllischen kleinen Weinbauort in der Südsteiermark, unweit der österreichischslowenischen Grenze aufgewachsen und war schon mit 13 das, was man wohl einen »problematischen Jugendlichen« nennen würde: In den zahllosen Schulen, die er besuchte, kommunizierte er hauptsächlich mittels seiner Fäuste und Messer mit seiner Umgebung, privat amüsierte er sich – meist zusammen mit seinem Bruder –, indem er kleine Einbrüche unternahm, ältere Mitbürger bedrohte oder sich das Privateigentum seiner Mitschüler eher formlos und ohne zu Fragen aneignete.

Für derartige Fälle hält der Sozialstaat eine ganze Reihe spezieller Einrichtungen bereit, die mittels hochintensiver Betreuung durch Fachpersonal den allzu frühen Start einer wirklich kriminellen Karriere verhindern sollen. Im Falle Olivers entstanden dem Steuerzahler dadurch phasenweise Personalkosten von mehr als 800 Euro pro Tag; leider ohne nachhaltigen Erfolg. Auch vier Betreuer, die sich im Schichtdienst um ihn kümmerten, bremsten sein kriminelles Animo nicht wirklich.

Schließlich entschloss sich die gepeinigte Heimatgemeinde Olivers, den jungen Mann eines deutschen Spezialprogramms für derartige schwere Fälle teilhaftig lassen zu werden. Über Hamburg wurde Oliver in die Obhut einer deutschen Familie in Westafrika übergeben, die dort unter den harten Lebensbedingungen des schwarzen Kontinents eine Art »Boot-Camp« für schwer zu zivilisierende Jugendliche betreibt; gegen angemessene Entlohnung durch die öffentlichen Hände, versteht sich.

Ein Jahr verbrachte Oliver in Afrika, dann kehrte er in seine Heimat zurück, scheinbar geläutert. Leider hielt dieser Zustand nicht lange an. Von den Behörden absurderweise wieder in eine gemeinsame Wohnung mit seinem ebenfalls latent kriminellen Bruder gesteckt, kehrte Oliver binnen kürzester Zeit zu seinem alten Lebensstil zurück. Es ist nur mehr eine Frage der Zeit, bis er seine erste Haftstrafe antreten wird.

»Der Oliver«, resümiert der Bürgermeister von dessen Heimatgemeinde, »hat den Sozialstaat bis jetzt mehr als 300 000 Euro gekostet, die von den tüchtig arbeitenden Menschen aufzubringen sind. Das ist weder gerecht noch sozial, das ist einfach gröblicher Unfug.«

Ein noch bemerkenswerteres Beispiel, wozu der moderne Sozialstaat in diesem Kontext fähig ist, berichtete das schweizerische Boulevardblatt »Blick« im August 2013 seinen Lesern.

»Letzten Sonntagabend, ›Reporter‹ auf SRF 1: Der leitende Zürcher Jugendanwalt Hansueli Gürber (62) erzählt aus seinem Leben. Wie er im Keller Schlangen und Echsen züchtet. Wie er 20 Jahre lang mit seiner Geliebten eine zweite Familie verheimlichte. Und wie er mit den Straftätern umgeht, die auf seiner Jugendanwaltschaft landen«, stimmt der »Blick« seine Leser auf ein Sozialdrama ein.

»Alt-Hippie Gürber präsentiert dem Fernsehpublikum den Fall des 17-jährigen Carlos, dessen Strafregister ›ganze Ordner füllt‹. Mit neun Jahren verübt Carlos seine erste Straftat. ›Es folgten viele weitere Delikte wie Raub, Gewalt, Drohung, Waffenbesitz, Drogenkonsum – um nur einige zu nennen‹, heißt es im Film. Vor zwei Jahren dann verletzt Carlos mit dem Messer einen Jugendlichen so schwer, dass dieser ›nur dank großem Glück überlebte‹.

Welche Folgen hatte der Angriff für den Täter? In einem Boxkeller prügelt Carlos auf einen Sandsack ein. Gürber hat dem Messerstecher eine Trainingsmöglichkeit verschafft. Nicht bei einem Amateur. Sondern beim zehnfachen Thaibox-Weltmeister Shemsi Beqiri. Dass der gefährliche Schläger durch die Kampftechnik noch unberechenbarer wird, verneint Gürber. Bei jedem Besuch habe sich Carlos ›zum Positiven‹ entwickelt, sagt er.

Um ›das Positive‹ geht es auch im Gruppengespräch im Jugendamt. ›Rund zehn Personen kümmern sich laufend um Carlos‹, heißt es im Film. Darunter ein Privatlehrer, ein Anwalt und sein Sportlehrer.

Von der Sozialarbeiterin Mariam wird er sogar ›rund um die Uhr‹ betreut. Die beiden wohnen in einer hellen, offensichtlich neu renovierten 4½-Zimmer-Wohnung mit Marmorküche und Parkett. ›Ich mache dir Ingwertee‹, sagt Mariam zu Carlos. ›Das tut dir gut.‹

Die beiden sitzen am Tisch und scherzen darüber, wer das schönere Zimmer habe. ›Geht gut‹, sagt Mariam. ›Aber ist nicht einfach, wenn er schlechte Laune hat.‹

Der SRF-Reporter stellt die Kostenfrage. Gürber druckst herum. Dann sagt er: ›Das sind 22 000 Franken.‹ Pro Monat. Allein für Carlos’ Betreuung. Gürber sagt: ›Wir hatten schon Unterbringungen mit ihm, die das Doppelte gekostet haben.‹

 

Ob er denn nicht arbeiten wolle, fragt ein Sozialarbeiter Carlos verständnisvoll. ›Nein, schaffen kann ich nicht‹, sagt der. ›Soll ich denn nur am Morgen und am Abend trainieren?‹ Carlos wolle Thaibox-Profi werden, alles andere interessiere ihn nicht, sagt der Reporter.

Und er fragt den Jugendanwalt, ob er denn nicht härter sein müsste mit Carlos. ›Ich denke, wir sind auch zu Recht mild‹, sagt Gürber.

Wie viel Carlos’ Betreuung insgesamt schon gekostet hat, konnte die Zürcher Jugendanwaltschaft gestern auf Anfrage nicht mitteilen.«

Nun sind der Fall Oliver oder die Causa Carlos vielleicht nicht ganz prototypisch für das Funktionieren des Sozialstaates – aber sie sind durchaus brauchbar als Metapher darüber, was dessen Grundproblem ist. Denen, die produktiv arbeiten, wird ein erheblicher Teil ihres Einkommens weggenommen und von der staatlichen Umverteilungsmaschine mit vielleicht guter Absicht, sicher enormen Kosten, aber in allzu vielen Fällen nicht wirklich gutem Ergebnis ausgegeben.

Mehr noch: In vielen Fällen richtet der Sozialstaat mit seiner fürsorglichen Belagerung des Einzelnen mehr Schaden an, als er Nutzen stiftet – von den Kosten jetzt einmal ganz abgesehen.

Etwa 86 Milliarden Euro gibt Österreich pro Jahr für Sozialleistungen aus – nicht eben wenig für einen Staat von 8,5 Millionen Menschen. Rund ein Drittel der österreichischen Wirtschaftsleistung fließt in das System der sozialen Absicherung, ein im internationalen Vergleich sehr hoher Anteil.

Paradoxerweise führen diese horrenden Mittel freilich in vielen Fällen nicht dazu, das materielle Leid der unteren sozialen Schichten zu beseitigen oder wenigstens zu lindern. Ganz im Gegenteil.

So zeigte etwa eine im Jahr 2011 publizierte Studie, dass alleinerziehende Mütter massiv von Armut bedroht sind. Fast 80 Prozent von ihnen verdienen nämlich weniger als 60 Prozent des österreichischen Durchschnittseinkommens. Das heißt, dass jede unvorhergesehene Ausgabe – etwa für eine neue Waschmaschine – zur finanziellen Apokalypse werden kann, an Urlaub oder ähnlichen Luxus ist nicht einmal zu denken. Jede vierte alleinerziehende Mutter gab gar an, nur mit Müh und Not täglich zwei reguläre Mahlzeiten finanzieren zu können – und das nicht etwa im Inneren des Kongo, sondern in einem der reichsten Staaten der Welt.

Doch die Ursache dieser frappierenden Armut ist nicht zu wenig, sondern zu viel Geld. Mit hohen Milliardenbeträgen überschüttet der Staat nämlich, nicht zuletzt aus Gründen der Wählerbestechung, junge Familien unter verschiedenen Titeln – und verführt damit Frauen mit kleinen Kindern, erst einmal aus dem Erwerbsleben auszuscheiden und sich der Aufzucht des Nachwuchses zu widmen.

Das mag wunderbar sozial und menschenfreundlich erscheinen, hat aber eine unerquickliche Nebenwirkung. Einmal aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, entwertet sich die berufliche Qualifikation dieser jungen Frauen nämlich meist blitzartig, vor allem wenn sie nicht gerade Ärztinnen, Juristinnen oder Managerinnen sind. Lassen sie sich dann nach einigen Jahren scheiden – was ja regelmäßig der Fall ist –, stehen sie ohne Job und schließlich ohne Einkommen da. Und fallen dem Sozialstaat zur Last: Armut, die mit Milliarden an Steuergeld erkauft wird, sozusagen. Ein wahrer Triumph des Sozialstaates.

Auch in Deutschland doktert der Sozialstaat mit hohem Aufwand und bedenklichem Ergebnis an den Alleinerzieherinnen herum. Fast die Hälfte der »single mums« lassen sich dort ihren Lebensunterhalt vom Sozialsystem finanzieren, mit durchschnittlich knapp 1.400 Euro im Monat. Da kommt im Verlauf der Jahre einiges zusammen.

»Für eine nie erwerbstätige Mutter mit einem Kind – eine nicht untypische Hartz-IV-Biographie – muss der Steuerzahler bis zu ihrem 50. Lebensjahr 445 000 Euro bezahlen, hat die Gießener Ökonomin Uta Meier-Gräwe errechnet. Eine vergleichbar qualifizierte, ebenfalls alleinerziehende, aber erwerbstätige Mutter zahlt im selben Zeitraum rund 215 000 Euro an Steuern. Das bedeutet: Um die erwerbslose Alleinerziehende zu alimentieren, braucht es zwei Arbeiterinnen gleichen Typs«, berichtete die »FAZ«. Die Folge: »Eine alleinerziehende Hartz-IV-Empfängerin wäre nicht nur dumm, sich offiziell wieder einen Partner zuzulegen. Es wäre auch unklug, wenn sie einen regulären Job annähme. Das ist das Ergebnis (…) einer Studie am Kieler Institut für Weltwirtschaft. Klaus Schrader, einer der Verfasser, rechnet vor: Eine Mutter mit zwei Kindern erhält 1.500 Euro staatlicher Unterstützung. Im Dienstleistungssektor könnte sie entsprechend ihrer Qualifikation nur ein Einkommen von 1.493 Euro erzielen. ›Warum sollte sie sich der Strapaze unterziehen?‹, fragt Schrader.

Besser ist es, sie geht auf 400-Euro-Basis ein paar Stunden arbeiten. Dann erhöht sich ihr Transfereinkommen auf 1.660 Euro. In Ostdeutschland, wo die meisten Alleinerziehenden leben, sind die finanziellen Vorteile von Hartz IV noch erheblich größer. ›Da wäre es verantwortungslos, eine sozialversicherungspflichtige Arbeit anzunehmen‹, bilanziert Schrader.« (»FAZ«)

Ökonomen nennen so etwas eine »perverse Anreizstruktur« – eine an viele Stellen des Sozialstaates zu verortende Entgleisung.

Sozialleistungen führen dann regelmäßig dazu, dass sich die soziale Lage der scheinbar Begünstigten nicht nachhaltig verbessert, sondern sie bloß an ein Leben als Daueralimentierte herangeführt werden, die keinen produktiven Beitrag zum allgemeinen Wohlstand mehr leisten und mit ausreichend Fernsehkanälen und Billigbier ruhiggestellt werden bis zum Antritt des Ruhestandes.

So führt etwa Österreichs außerordentlich dicht gespanntes soziales Netz letztlich dazu, dass sich für wenig qualifizierte Angehörige der sozialen Unterschichten Arbeit eigentlich nicht wirklich auszahlt – weil der Staat ihnen die für sie erfreuliche Möglichkeit gibt, Sozialleistungen zu beziehen, deren Höhe sich von einem allfällig mühsam erarbeiteten Lohn kaum unterscheidet. So stellte das Wiener Institut für Höhere Studien (IHS) 2010 in einer heftig debattierten Studie fest, dass ein junges Paar mit zwei Kindern ohne Arbeit staatliche Zuwendungen von 27.400 Euro jährlich kassieren kann. Nimmt nun ein Elternteil Arbeit im Niedriglohnsektor an, etwa als Verkäufer im Handel, erhöht sich das Gesamteinkommen der Familie dank kleiner werdender Transferzahlungen um nicht einmal 900 Euro – pro Jahr.

Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kamen die Forscher des renommierten Grazer Instituts Joanneum Research: Für eine Familie mit drei kleinen Kindern wäre es demnach »zwischen einem Bruttoerwerbseinkommen von 600 und 2250 Euro nicht möglich, das verfügbare Einkommen durch Steigerung der Erwerbstätigkeit selbst positiv zu beeinflussen«. Arbeitslohn und staatliche Zuwendungen bilden bei diesen Einkommen kommunizierende Gefäße – Arbeit wird dadurch zu einer Neigung degradiert, der man nachgeht oder auch nicht. Es gilt: Leistung lohnt sich nicht; wer arbeitet, ist selbst schuld.

Noch klarer kann der Sozialstaat eigentlich gar nicht zeigen, dass er gar nicht wirklich ernsthaft daran interessiert ist, seine Insassen zur Erbringung eines produktiven Beitrags zum Wohlstand der Nation anhalten zu wollen.

Und das durchaus mit Methode. »Mitunter sorgt der Staat nicht für mehr Gerechtigkeit, sondern schafft neue Ungerechtigkeiten«, diagnostizierte 2011 die Wiener Journalistin Rosemarie Schwaiger im politisch nicht eben rechts stehenden Magazin »profil«. »So kann man in Österreich etwa relativ leicht sehr jung in Pension gehen. Aber wer als Arbeitnehmer krank wird, bekommt ziemlich schnell finanzielle Probleme (…). Auch das höchstmögliche Arbeitslosenentgelt fällt mit 1411 Euro monatlich nicht gerade üppig aus. Studienbeiträge an österreichischen Universitäten wurden 2008 abgeschafft, obwohl alle Untersuchungen zeigen, dass vor allem die Kinder von (wohlhabenden) Akademikern vom Wegfall profitieren (…). Die meisten Transferleistungen fließen unabhängig vom Vermögen des Beschenkten. Auch wer gerade eine Villa im Grünen (steuerfrei) geerbt hat, bekommt Familienbeihilfe, Kindergeld oder Witwenpension. Es zählt nicht der Bedarf, sondern nur der Anspruch.«

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