Die Höhle des Löwen

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Die Höhle des Löwen
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Christian Macharski

Die Höhle des Löwen


Das Buch

Die Einwohner des kleinen Dorfes Saffelen stehen unter Schock. Im Neubaugebiet hat sich eine unfassbare Bluttat ereignet und Hauptkommissar Peter Kleinheinz wird unter dringendem Tatverdacht festgenommen. Obwohl alle Indizien gegen ihn sprechen, will Landwirt und Ortsvorsteher Hastenraths Will nicht wahrhaben, dass sein Freund der Täter sein soll. Zusammen mit Kreisliga-C-Legende Richard Borowka versucht er einer vermeintlichen Verschwörung auf die Spur zu kommen. Je mehr Will jedoch über die Hintergründe herausfindet, desto klarer wird ihm, dass Kleinheinz nicht derjenige ist, den er zu kennen glaubte. Zu diesem Zeitpunkt ist die Lage allerdings längst außer Kontrolle geraten und der Landwirt bekommt es mit einem übermächtigen Gegner zu tun, der auch vor dem Äußersten nicht zurückschreckt. Als Will keinen anderen Ausweg mehr sieht, begibt er sich in die Höhle des Löwen – mit tödlichen Folgen.

Der Autor

Christian Macharski wurde 1969 in Wegberg geboren. Seit 1991 ist er als Kabarettist und Autor tätig und entwickelte diverse Programme mit dem Comedyduo „Rurtal Trio“ sowie mehrere Soloprogramme. Darüber hinaus arbeitete Macharski als Autor für verschiedene Fernsehsender (WDR, SAT1, RTL) und war zehn Jahre lang Kolumnist bei den Aachener Nachrichten. 2008 erschien der erste Dorfkrimi um den ermittelnden Landwirt Hastenraths Will. Diese Kunstfigur wird von Macharski auch auf der Bühne, im Radio und im TV verkörpert. „Die Höhle des Löwen“ ist der sechste Teil der Dorfkrimi-Reihe.

Außerdem als Taschenbuch erhältlich:

Das Schweigen der Kühe (ISBN 978-3-9807844-4-3)

Die Königin der Tulpen (ISBN 978-3-9807844-5-0)

Das Auge des Tigers (ISBN 978-3-9807844-7-4)

Die Rache des Waschbären (ISBN 978-3-9424540-8-7)

Der Tango des Todes (ISBN 978-3-9807844-8-1)


© 2014 by paperback Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags

Umschlaggestaltung: kursiv, Oliver Forsbach

Fotos: Wilfried Venedey, Marcus Müller

Lektorat: Kristina Raub

ISBN 978-3-9816638-1-5

Die Personen und Handlungen der Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Die Protagonisten des Romans basieren auf Bühnenfiguren des Comedy-Duos Rurtal Trio.

Für Claudia

Prolog

Borowkas Seele brannte. Nichts und niemand hatte ihn auf diesen Moment vorbereitet. Sein Kumpel Fredi Jaspers sah sich beklommen um. Es waren nicht viele gekommen, nur die engsten Freunde. So wie Richard Borowka es sich gewünscht hatte. Wie alle anderen trug auch Fredi schwarz. Den Anzug hatte er zum letzten Mal bei der Beerdigung seines Vaters getragen. Es schauderte ihn, als er daran dachte. Spargel, der mit Tonne und einigen anderen Fußballkameraden etwas abseits Spalier stand, schnäuzte sich auf den Handrücken und schaute sich dabei verstohlen um. Fredi, der die Grabrede halten sollte, schenkte ihm ein kurzes, verkrampftes Lächeln und ließ seinen Blick dann zu Borowka schweifen, um ein Zeichen zu bekommen, dass er beginnen möge. Doch sein bester Freund stand nur seltsam entrückt mit vor dem Bauch gefalteten Händen im großen Schatten einer Trauerweide. Borowkas matter Blick verlor sich irgendwo in der flirrenden Luft dieses herrlichen Tages. Aber konnte ein Tag überhaupt schön sein, wenn es darum ging, Abschied von seiner großen Liebe zu nehmen? Borowka drehte langsam, fast wie mechanisch, den Kopf, aber der Platz an seiner Seite blieb leer. Genauso leer wie sein Innerstes. Seit man ihm vor einer Woche erklärt hatte, dass man nichts mehr tun könne, fühlte er sich nur noch wie eine ausgebrannte Hülle. Wie ein Trinkpäckchen, das man auf dem Schulhof zertreten hatte. Der letzte Funken Hoffnung, den er bis zuletzt gehabt hatte, war zerstört worden durch ein kurzes, bedrücktes Kopfschütteln. Das Schlimmste war, dass auch ihn selbst Schuld traf. Ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit hatte zu der Katastrophe geführt. Über 20 gemeinsame Jahre, ausgelöscht in einer einzigen Sekunde. Jetzt würden ihm nur noch die Erinnerungen bleiben. Noch fehlte ihm jegliche Vorstellungskraft, wie er überhaupt würde weiterleben können, aber, wie so oft in schweren Zeiten, schoben sich die weisen Worte seines Trainers Karl-Heinz Klosterbach in sein Bewusstsein: „Weitermachen. Immer weitermachen. Auch wenn man 0 : 8 zurückliegt.“ Aber dieser Albtraum, den Borowka gerade durchlebte, war ein gefühlter Rückstand von 0 : 20. Mindestens.

Da Fredi vergeblich auf ein Zeichen wartete, entschied er selbstständig, mit seiner Rede zu beginnen. Behutsam entfaltete er das DINA-4-Blatt, auf dem er seine Sätze notiert hatte. Seine Hände zitterten, denn er war es nicht gewohnt, vor Menschen zu sprechen. Geschweige denn, dass er wusste, was in einer solchen Situation zu sagen sei. Doch Borowka hatte auf ihn als Trauerredner bestanden. Und so hatte Fredi im Internet nach tröstenden Gedanken gesucht, die extra erfunden worden waren für Menschen, die ähnliche Schicksalsschläge erlitten hatten. Zum Glück hatte ihm seine Freundin Sabrina bei den Formulierungen geholfen, denn nicht alle Sätze hatte er auf Anhieb verstanden.

Fast flüsternd begann er mit seiner Ansprache: „Verehrte Trauergemeinde, wir sind heute hier, für Abschied zu nehmen. Das, was passiert ist, ist kaum zu verstehen. Aber genau aus diesem Grund dürfen wir nicht vergessen: Was bleibt, wenn alles geht, ist die Liebe. Die Zeit heilt zwar nicht alle Wunden, aber sie hilft uns, mit dem Unbegreiflichen zu leben. ‚Ohne dich‘ zwei Worte, so leicht zu sagen, aber so endlos schwer zu ertragen. Doch nur, wer vergessen wird, ist tot. Du aber wirst in unsere Erinnerung weiterleben ...“

Immer wieder wurde die Rede vom Schluchzen der Trauergäste unterbrochen. Der Einzige, der keinen Ton von sich gab, war Richard Borowka. Die Worte, die ihm Trost spenden sollten, kämpften sich nur mühsam durch die Nebelwände in sein Gehirn. „ … Mit den Flügeln der Zeit fliegt die Traurigkeit davon. Ich sage euch: Weint nicht, weil es vorbei ist. Lacht, weil es so schön war ...“

Gerade als Fredi zum Schlusssatz ansetzen wollte, zerriss lautes Motorengeheul die andächtige Stille. Verärgert sah er auf und stellte voller Entsetzen fest, dass ein roter Suzuki Vitara mit hohem Tempo durch die Böschung brach und mit Vollgas auf die Trauergemeinde zuhielt. Unmittelbar vor einem verheerenden Aufprall wurde das Lenkrad herumgerissen und der Geländewagen kam seitlich zum Stehen. Dreck spritzte unter den Reifen hervor. Quietschend fuhr das Fahrerfenster herunter und ein blonder Frauenkopf mit einem mittig platzierten, palmenförmigen Pferdeschwanz, gehalten von einem Frotteehaargummi, kam zum Vorschein. Es handelte sich unverkennbar um Rita, Borowkas Ehefrau, die nicht nur einen stark geschminkten, sondern auch einen sehr verärgerten Eindruck machte. Aus Leibeskräften brüllte sie: „Richard! Werd endlich mal erwachsen!“

Doch Borowka drehte sich nicht einmal um. Stattdessen nickte er seinen Freunden Tonne und Spargel zu, die nach einer kurzen Schrecksekunde professionell darangingen, die beiden Holzpflöcke aus dem Erdreich zu ziehen, die als Poller dienten. Nun setzte sich langsam der gelbe Ford Capri mit den roten Rallyestreifen auf dem abschüssigen Ufergeröll in Bewegung und trat seine letzte Reise an. Nahezu lautlos rollte Borowkas große Liebe in den Uetterather Waldsee und hinterließ am Ende nichts als ein paar große Blubberblasen. Borowka stiegen Tränen in die Augen. Es war Zeit, loszulassen.

1


Hauptkommissar Peter Kleinheinz war zusammengezuckt, als die Scheibenwischer sich plötzlich wie von Geisterhand in Bewegung setzten. Der Regensensor hinter der Frontscheibe hatte als Erster registriert, dass sich am Himmel etwas zusammenbraute. Kurz nachdem Kleinheinz sich auf den Weg in seine neue Wahlheimat Saffelen gemacht hatte, waren innerhalb von Minuten schwere Wolken aufgezogen und es hatte wie aus Kübeln zu regnen begonnen. Mittlerweile ächzten die Scheibenwischer auf der höchsten Stufe und Kleinheinz hatte große Probleme, die Landstraße vor sich zu erkennen. Mit 50 km/h kroch er durch die dunstige Wand der einsetzenden Dämmerung, die nur von dünnem Scheinwerferlicht durchschnitten wurde. Irgendwie passte das zu diesem beschissenen Tag, dachte der Kommissar. Eigentlich sollte er zu diesem Zeitpunkt noch mit seinem Kollegen Jochen Dohmen in einem Zivilfahrzeug vor einem unscheinbaren Bürokomplex in Übach-Palenberg sitzen und eine Zielperson observieren. Bereits seit zwei Wochen waren sie einem Mann auf der Spur, der des bandenmäßigen Handels mit Amphetaminen verdächtigt wurde. Hinweisen zufolge sollte in der heutigen Nacht in ebendiesem Bürogebäude ein größerer Deal über die Bühne gehen. Doch dann war der Einsatz plötzlich um 19 Uhr von August Pimpertz, dem Direktionsleiter Kriminalität, persönlich abgeblasen worden. Angeblich sei die Zielperson gewarnt worden. Genaueres erfuhr man wie üblich nicht, Pimpertz galt nicht gerade als großer Kommunikator und mit Kleinheinz verband ihn ohnehin keine allzu große Sympathie. Ohne weitere Erklärung wurden Kleinheinz und Dohmen also zur Dienststelle zurückbeordert und in den Feierabend geschickt. Dohmen hatte sich sehr über die unerwartete Freizeit gefreut, da er nun doch noch das DFB-Pokalfinale zwischen Bayern München und Borussia Dortmund würde verfolgen können. Kleinheinz hingegen konnte Fußball nicht das Geringste abgewinnen. Er war stattdessen noch mal ins Büro gefahren, um einen Bericht zu Ende zu schreiben. Mehrmals hatte er dabei versucht, seine Lebensgefährtin Bettina Hebbel zu erreichen, um sie zu fragen, ob sie nicht nach Heinsberg kommen wolle, um dort mit ihm bei dem Italiener, der neu aufgemacht hatte, essen zu gehen. Aber entweder war der Empfang im Saffelener Neubaugebiet mal wieder miserabel oder sie hatte ihr Handy ausgestellt. Vielleicht war sie auch schon ins Bett gegangen. In letzter Zeit hatte sie des Öfteren über Müdigkeit geklagt. Vor allem, wenn Kleinheinz den Wunsch nach etwas körperlicher Nähe geäußert hatte. Im Moment lief es privat nicht allzu gut, was wohl auch daran lag, dass Kleinheinz sich wieder mit größtem Enthusiasmus seiner Arbeit widmete, nachdem die letzten Jahre ihn ein wenig aus der Bahn geworfen hatten. Bettinas Verständnis für diesen Arbeitseifer hielt sich in Grenzen und äußerte sich in letzter Zeit immer häufiger in kleinen Streitereien.

 

Kleinheinz schreckte von seinem eigenen Seufzer aus seinen Gedanken hoch und atmete einmal kräftig durch. Das monotone Rauschen der Scheibenwischer hatte ihn schläfrig werden lassen. Er riss sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Der Regen prasselte unaufhörlich auf die Windschutzscheibe, doch am Horizont war zumindest schon die Skyline von Saffelen zu erkennen, jedenfalls der leicht schiefe Kirchturm, der sich den tief hängenden, böse grollenden Wolken tapfer entgegenreckte. Als Kleinheinz mit seinem Wagen wenig später die Gaststätte Harry Aretz passierte, drangen laute Schlachtgesänge an sein Ohr, woraus er schloss, dass auch ein Großteil der Saffelener Bevölkerung beim Pokalfinale mitfieberte. Das Neubaugebiet hingegen lag wie immer ausgestorben vor ihm, als er in die Goethegasse einbog. Aufgrund des Namens „Goethegasse“, gegen den sich Ortsvorsteher Hastenraths Will, einer der wenigen Freunde von Kleinheinz, lange gewehrt hatte, trug das Neubaugebiet unter den alteingesessenen Dorfbewohnern bereits den Beinamen „Besserwisser-Viertel“. Dass mit Bettina Hebbel und Peter Haselheim, dem Rektor der Grundschule, gleich zwei Lehrer dort wohnten, machte die Sache aus Wills Sicht nicht besser.

Als Kleinheinz den Wagen vor seinem neuen Zuhause parkte, tanzte das Scheinwerferlicht über die Fassade des Hauses. Er stellte den Motor ab und stellte fest, dass oben im Schlafzimmer Licht brannte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, denn Bettina schien noch wach zu sein. Um das kurze Stück durch den Vorgarten halbwegs trocken hinter sich zu bringen, legte sich der Kommissar seine Windjacke über den Kopf. An der Haustür angekommen, schüttelte er sich und schloss auf. Die nassen Schuhe quietschten im Flur, als er eintrat. Er wollte gerade zum Lichtschalter greifen, doch plötzlich musste er innehalten. Alles war ruhig, aber sein Instinkt sagte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte. Geräuschlos streifte er die Schuhe ab und schlich auf Socken durch den Flur. Am Geländer der Treppe, die nach oben führte, lauschte er. Er meinte, leises Gemurmel zu hören, was aber auch vom Fernseher kommen konnte. Während er auf Zehenspitzen die Treppe hinaufstieg, atmete er kaum. Immer mehr überkam ihn das Gefühl, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Ein unbekannter Geruch stieg ihm in die Nase. Er versuchte weiter zu lauschen, doch sein Herzschlag übertönte alle anderen Geräusche im Haus. Als er vor der Schlafzimmertür stand, legte er vorsichtig sein Ohr dagegen. Trotz des Unwetters, das draußen tobte, verstand er jedes einzelne Wort, das Bettina sagte und es traf ihn wie ein Blitzschlag: „Es ist so schön, dass du hier bist.“

Kleinheinz’ Muskeln krampften sich zusammen und er konnte förmlich spüren, wie sich sein Körper mit Adrenalin vollpumpte. Wutentbrannt riss er die Tür auf. Sein Hirn brauchte einige Sekunden, bis es die Situation erfasst hatte. Bettina saß nackt mit dem Rücken zu ihm auf dem aufgeschlagenen Bett und stöhnte leise. Dann entdeckte Kleinheinz den nackten Mann, der unter ihr lag. Bettina riss erschrocken den Kopf herum. Als sie ihren Freund sah, sprang sie auf und schrie hysterisch: „O nein, Peter! Ich kann dir alles erklären!“ Doch Kleinheinz brauchte keine Erklärungen mehr. Das Blut peitschte durch seinen Körper, sein Herz raste und eine unbändige Wut ergriff von ihm Besitz. Als Bettina mit weit aufgerissenen Augen um Hilfe schrie, konnte er sie schon garnicht mehr hören, so sehr hatte der Zorn das Kommando übernommen. Wie in Trance riss er seine Dienstwaffe aus dem Holster und richtete sie auf die beiden Personen, die er vor sich sah. Die Welt, in der Peter Kleinheinz gelebt hatte, hatte aufgehört zu existieren.

2


Die Flasche Dujardin war genauso leer wie die beiden Tüten Chips, die auf dem Wohnzimmertisch lagen. Hastenraths Will streckte sich ausgiebig in seinem Ohrensessel, strich sich dabei zufrieden über seinen leicht gewölbten Bauch und ließ einen lauten Rülpser entweichen. Was für ein perfekter Abend, dachte der Landwirt. Nicht nur, dass Bayern München mit 2: 5 gegen Borussia Dortmund verloren hatte, sondern, vor allem, dass er das Spiel in aller Ruhe hatte genießen können. Letzteres lag neben dem abgestellten Telefon vor allem an der Abwesenheit seiner Frau Marlene, mit der er seit 30 Jahren verheiratet war und der es auch nach all der Zeit noch gelang, den einfachen Genuss eines Fußballspiels nachhaltig zu stören. Sei es, indem sie zwischendurch immer mal wieder unmotiviert durchs Bild lief, laut schnarchte oder unpassende Fußballfragen stellte. Etwa, warum Arjen Robben immer so enge Trikots trägt, wieso die Frisur von Mario Gomez so gut hält oder wo Jogi Löw seine Schals herbekommt. Heute aber hatte sich Will voll und ganz auf das Spiel konzentrieren können, denn Marlene hatte sich pünktlich zum Anpfiff krankgemeldet. Bewaffnet mit einer Packung Wick Vaporup, einer Flasche Klosterfrau Melissengeist und Jack-Russell-Terrier Knuffi als Fußwärmer, war sie um 20 Uhr ins Bett gegangen, um der sich anbahnenden Erkältung zu trotzen. Will griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Nachdem die Stadionatmosphäre verstummt war, hörte er, dass seine Frau ihn rief. So schwach, wie die Stimme klang, schien sie durchaus schon seit einer ganzen Weile zu rufen. Behäbig schälte er sich aus dem Sessel und schlurfte auf abgewetzten Wollsocken die Treppe hinauf. Gähnend öffnete er die Schlafzimmertür.

„Was ist denn los, Marlene?“

Seine Frau saß halb aufgerichtet im Bett und schniefte mit roter Nase: „Musst du der Fernseher immer so laut machen? Ich brüll mir hier die Seele aus der Leib. Der Knuffi muss dringend noch mal raus.“

Wills Blick fiel auf den kleinen Hund, der junkend vor dem Bett Pirouetten drehte. Es schien dringend zu sein. Der Landwirt fuhr sich missmutig mit der Hand durchs Haar. Er war müde und der Sinn stand ihm ganz und gar nicht nach einem nächtlichen Spaziergang.

„Ja, aber ich war doch eben in der Halbzeit mit dem draußen. Da hat der nicht gemacht.“

Marlene verschränkte die Arme vor ihrer mächtigen Brust und verschärfte den Ton: „Du weißt genau, dass der Kleine Angst hat bei Gewitter. Und eben war es draußen die ganze Zeit am donnern. Außerdem bist du mit dem doch bloß bis zum Zigarettenautomat und zurück gegangen. Jetzt ist das Unwetter vorbei und deshalb gehst du noch mal mit dem. Und du kommst nicht eher zurück, bis der alle seine Geschäfte erledigt hat. Und denk dran, dem zu loben, wenn der sein Häufchen gemacht hat.“

Will seufzte. Ihm war bewusst, dass nach dieser Anweisung kein Widerspruch mehr möglich war und so fügte er sich. Zum Glück trug er noch nicht seinen Schlafanzug. Da das Melken länger als erwartet gedauert hatte, war er in seiner üblichen Kluft, der grauen Stoffhose mit den ausgefransten Hosenträgern und dem grün-weißen Baumwollhemd, gerade noch rechtzeitig zum Anpfiff in seinem Sessel versunken.

Nachdem Will den sich bereits krümmenden Hund angeleint hatte, schlüpfte er in seine Gummistiefel, setzte sich seine grüne Kappe auf und zog seinen Kapuzenparka über. Kaum war er vor die Tür getreten, erleichterte sich Knuffi schon unter dem Rhododendron. Der kleine Hund schien eine gigantische Blase zu haben, denn erst nach einer gefühlten Ewigkeit senkte er wieder sein rechtes Hinterbein. Ein breites, gelbes Rinnsal schlängelte sich hinunter bis zum Bürgersteig und mündete dort in einer großen Pfütze, die das Unwetter hinterlassen hatte. Noch immer nieselte es und Will zog sich seine Kapuze über den Kopf. Das große Geschäft sparte Knuffi sich traditionell für seine Lieblingswiese auf, die etwa 50 Meter die Straße hinunter lag und Landwirt Dieter Brockers, Wills Rivalen, gehörte. Als sie sich der Wiese näherten, wedelte Knuffi bereits voller Vorfreude mit dem Schwanz. Will genoss derweil die frische, vom Regen gereinigte Nachtluft, die ihn ein wenig ausnüchterte. Mit einem Mal jedoch wurde die abendliche Ruhe von lautem Sirenengeheul zerrissen. Will und Knuffi zuckten zusammen. Während der Hund seinen Schwanz zwischen den Hinterbeinen einklemmte, beobachtete Will entgeistert, wie mehrere Streifenwagen mit quietschenden Reifen ins Neubaugebiet einbogen. Und da Will nicht nur der erfolgreichste Landwirt von Saffelen, sondern auch dessen verantwortungsvoller Ortsvorsteher war, war ihm sofort klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, wenn so viel Polizei den beschwerlichen Weg in das kleine Dorf an der holländischen Grenze auf sich genommen hatte. Ohne zu zögern spurtete er los. Knuffi jaulte auf und musste sich anstrengen, mit seinen kurzen Beinchen hinterherzukommen, ohne von der Leine stranguliert zu werden. Der kleine Hund bellte entsetzt, als er mit Schrecken feststellte, dass der dringend nötige Halt an seiner Lieblingswiese ausfiel.

Wills ohnehin nicht sehr ausgeprägte Kondition hatte unter der Flasche Dujardin und den Chips gelitten und so bog er nach wenigen Minuten schnaufend und schwitzend in die Goethegasse ein, um dort seine schlimmsten Vorahnungen bestätigt zu sehen. Das Blaulicht der kreuz und quer geparkten Streifen- und Krankenwagen tauchte das Haus von Peter Kleinheinz und Bettina Hebbel in ein gespenstisches Licht. Ein Beamter sperrte gerade den kompletten Vorgarten mit Flatterband ab. Völlig außer Atem überquerte Will die Straße. Als der schwächelnde Knuffi dabei unvermutet seinen Weg kreuzte, geriet der Landwirt an der Bordsteinkante ins Straucheln. Glücklicherweise aber war am übernächsten Tag Müllabfuhr und Kleinheinz’ Nachbarn hatten bereits heute pflichtbewusst ihre mit blauen Mülltüten vollgestopfte Tonne an die Straße gestellt. So konnte Will sich im letzten Moment an der Tonne festhalten, um einen bösen Sturz zu vermeiden. Er pustete einmal tief durch und ging dann die letzten Meter bis zum Tatort bewusst langsam, um seinen Puls wieder zu beruhigen. Er band den verstörten Knuffi an einen Laternenpfahl und näherte sich dann mit großer Geste dem Polizisten, der das Flatterband befestigte.

„Wilhelm Hastenrath mein Name“, stellte er sich höflich vor, „ich bin der Ortsvorsteher von Saffelen. Würden Sie mir bitte sagen, was hier los ist?“

Der Uniformierte musterte ihn kurz und antwortete dann schroff: „Tut mir leid. Darf ich nicht.“

Will drückte den Rücken durch und setzte erneut an. Diesmal etwas bestimmter. „Junger Mann, ich glaube, Sie haben mich nicht richtig verstanden. Ich bin hier der Ortsvorsteher und ich verlange auf der Stelle von Sie …“

„Wie gesagt“, unterbrach der Polizist den Landwirt, ohne dabei aufzusehen, „ich kann nichts für Sie tun. Am besten, Sie gehen nach Hause.“

Will traute seinen Ohren nicht. Die Zornesröte stieg ihm ins Gesicht. Gerade als er den jungen Beamten in seine Schranken weisen wollte, zupfte ihn jemand am Ärmel. Es handelte sich um Peter Haselheim, den Rektor der Saffelener Grundschule, der zwei Häuser weiter wohnte. Der Lehrer trug Filzpantoffeln und einen lächerlichen Frotteeschlafanzug.

Leise raunte er Will zu: „Komm da weg. Das gibt nur Ärger. Die reagieren sehr empfindlich.“

„Aber was ist denn überhaupt passiert?“

„Keine Ahnung. Vor ein paar Minuten brach hier plötzlich die Hölle los. Polizei, Krankenwagen. Eben habe ich sogar mitbekommen, wie von einem Toten die Rede war.“

 

„Um Gottes Willen“, entfuhr es Will.

Er schlug die Hände vor den Mund und Haselheim fuhr fort: „Ich soll mich hier bereithalten zur Befragung.“

„Hast du denn irgendswas mitbekommen?“

„Na ja, als ich ins Bett ging, habe ich seltsame Geräusche gehört. Es hat viermal kurz hintereinander geknallt. Zuerst dachte ich, das wär ein Fensterladen, der vom Sturm auf- und zugeschlagen wurde. Aber jetzt, im Nachhinein, bin ich mir sicher, dass es sich um Schüsse gehandelt haben muss.“

Während Will noch die Gedanken in seinem Kopf sortierte, sah er plötzlich, wie ein alter Bekannter aus der Haustür trat: Jochen Dohmen, der langjährige Partner von Peter Kleinheinz. Vor gerade mal zwei Monaten hatte er ihn näher kennengelernt, als sie gemeinsam einen Fall gelöst hatten. Das war seine Chance. Will ließ Haselheim stehen. Er riss das Absperrband hoch und betrat den Vorgarten. Innerhalb von Sekunden wurde er gestoppt. Ein fester Griff umklammerte seinen Arm.

Der junge Polizist von vorhin zischte ihm böse zu: „So, es reicht. Sie werden jetzt auf der Stelle den Einsatzort verlassen. Ich erteile Ihnen einen Platzverweis. Wenn Sie dem nicht Folge leisten, gibt’s eine Anzeige wegen …“

Will entwand sich dem Griff und funkelte den Beamten grimmig an: „Ich sag Sie mal was. Ich habe schon mehr Kriminalfälle gelöst als wie Sie. Außerdem kenne ich der Herr Dohmen persönlich. Und wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen, dann wird der dafür sorgen, dass Sie unehrenhaft entlassen werden. Ich kenn sogar der Landrat … vom Sehen.“

Oberkommissar Jochen Dohmen war mittlerweile dazugekommen. Er hatte seinen alten Spezi natürlich sofort erkannt und wusste, dass es sich um einen engen Freund von Kleinheinz handelte. Er selbst hatte sich zwar noch nicht so recht mit dem ruppigen Charme des Landwirts angefreundet, wusste aber dennoch um dessen Verdienste. Und so trat er zwischen die beiden Streithähne und bat den Polizisten, ihn kurz mit dem Mann allein zu lassen. Leicht verärgert kam dieser der Bitte nach. Dohmen war kreidebleich. Was auch immer in diesem Haus geschehen war, es schien ihn sehr mitgenommen zu haben.

Es vergingen einige Sekunden, bevor der Kommissar stockend zu erzählen begann: „Herr Hastenrath, hören Sie, ich darf Ihnen eigentlich nichts sagen, aber ich weiß, dass Peter Kleinheinz Ihr Freund ist. Und deshalb … ja, ich kann es selbst noch nicht fassen. Viel können wir noch nicht sagen, wir warten noch auf die Mordkommission aus Aachen und die Spurensicherung. Das ganze Haus ist voller Blut ... Peter hatte mich angerufen. Er war völlig verwirrt und hat nur gestammelt, dass etwas Furchtbares passiert sei. Ich habe gerade versucht, mit ihm zu sprechen, aber er ist noch nicht vernehmungsfähig. Im Moment muss man wohl von einer Beziehungstat ausgehen. Ein noch nicht identifizierter Mann wurde erschossen, Frau Hebbel ist allem Anschein nach sehr schwer verletzt. Mehr weiß ich noch nicht und selbst das dürfte ich Ihnen eigentlich nicht sagen. Ich schlage vor, Sie gehen jetzt nach Hause und wir machen hier unsere Arbeit. Wir müssen sowieso erst mal warten, bis der Staatsanwalt da ist. Sie können mich aber gerne in den nächsten Tagen anrufen.“ Dohmen gab Will seine Karte.

Der Landwirt steckte sie in seine Parkatasche und stammelte: „Danke, Herr Dohmen. Und bitte versprechen Sie mir, dass Sie alles für der Peter tun, was nötig ist.“

Dohmen nickte und antwortete mit belegter Stimme: „Das verspreche ich Ihnen, Herr Hastenrath. Peter ist nicht nur Ihr guter Freund, sondern auch meiner.“ Er reichte Will die Hand.

„So, und jetzt muss ich wieder rein – meine Arbeit machen.“ Will wartete noch, bis der Kommissar wieder im Haus verschwunden war, streng verfolgt vom verbiesterten Blick des jungen Polizisten. Er begab sich unter dem Flatterband hindurch zurück auf den Bürgersteig, machte Knuffi los und trat den Heimweg an. Es fühlte sich an, als würde er einen Mühlstein hinter sich herziehen, so schwer wurde ihm plötzlich ums Herz. An der Straßengabelung drehte er sich noch einmal um und beobachtete noch einige Minuten das aufgeregte Treiben. Ein Van fuhr vor, aus dem drei Personen in weißen Schutzanzügen stiegen. Mit Koffern und Gerätschaften in der Hand verschwanden sie schnell im Haus. Will war wie versteinert. Dann sah er, wie der junge Polizist, mit dem er aneinandergeraten war, fluchend auf dem Bürgersteig stand und angewidert seine rechte Schuhsohle betrachtete.

Wütend rief er seinen Kollegen zu: „Verdammte Scheiße. Hier hat einer an den Laternenmast gekackt!“

Zum ersten Mal, seit Will hier war, huschte ihm ein Lächeln übers Gesicht. Der Landwirt bückte sich und streichelte dem schwanzwedelnden Knuffi stolz über den Kopf: „Das hast du fein gemacht.“