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Anmerkungen

[1]

Vgl. hierzu Merton Social Theory and Social Structure und Merton in: Kriminalsoziologie S. 283.

[2]

Vgl. hierzu Durkheim Über soziale Arbeitsteilung, S. 437 ff. und Durkheim in: Soziologie S. 394. Zwar näherte sich Durkheim unter dem Einfluss der Industriellen Revolution in De la division du travail social dem Thema an und legte somit einen anderen sozioökonomischen Kontext zugrunde als Merton. Jedoch ging Durkheim ebenfalls von einem Menschen aus, der von Natur aus unersättlich ist.

[3]

Vgl. hierzu auch die umfangreichen Ausführungen von Opp Soziologie der Wirtschaftskriminalität, S. 77 ff.

[4]

Die relativen Variablen für das Auftreten abweichenden Verhaltens sind also: (1) die Intensität der Ziele, (2) die Intensität der legitimen Normen, (3) die Intensität der illegitimen Normen, (4) der Grad der perzipierten legitimen Möglichkeiten und (5) der Grad der perzipierten illegitimen Möglichkeiten. Siehe die ausführliche Darstellung bei Opp Soziologie der Wirtschaftskriminalität, S. 78 f.

[5]

Vgl. insoweit das IntBestG vom 10.9.1998.

[6]

Vgl. hierzu die Arbeit von Schlegel u. a. Wirtschaftskriminalität und Werte. Zur Relevanz seiner Ergebnisse vgl. Rn. 857.

[7]

Vgl. hierzu auch die Beobachtungen von Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 (245).

4. Techniken der Neutralisierung

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Wenn man – wie hier – nicht von einem stets rational agierenden, kühlen und gegenüber den sozialen Folgen seiner egoistischen Entscheidung indifferenten homo oeconomicus ausgehen will, bedarf es in der Merton'schen Drucksituation zusätzlicher Parameter, die eine deviante Handlung favorisieren. Dies bedeutet nicht, dass vorliegend nicht von rationalen Überlegungen[1] auszugehen wäre, denn es muss zumindest im Kontext der Wirtschaft unterstellt werden, dass der Mensch zunächst auf die Verwirklichung seiner Interessen bedacht ist und bei der Entscheidung seines Handelns weniger das Gesamtinteresse oder Gesamtwohl berücksichtigt. Zum einen deshalb, weil er nicht ein umfassendes Verständnis der Bedeutung dieser Handlungen für die Gesellschaft als Ganzes besitzt,[2] zum anderen, weil die Bedingung der Teilnahme am Markt an den wirtschaftlichen Erfolg geknüpft ist.[3]

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Gleichwohl ist der Mensch ein soziales, mit Normbewusstsein ausgestattetes Wesen.[4] Ausgehend von den empirischen Erkenntnissen handelt es sich bei Wirtschaftsstraftätern um Menschen mit guter Schulbildung und soliden sozialen Verhältnissen. Obgleich also grundsätzlich davon auszugehen ist, dass die Menschen ein unterschiedlich ausgeprägtes Normbewusstsein haben, was auf unterschiedliche Ursachen wie intellektuelle Fähigkeiten oder die Beeinflussung im sozialen Umfeld zurückzuführen ist, kann hier ein „normal“ ausgeprägtes Normbewusstsein vorausgesetzt werden.[5] Fraglich ist also, welche Umstände einen Menschen zu der Entscheidung bringen, seinem egoistischen Verlangen auf Kosten seiner eigenen Werthaltungen nachzugeben. Die erste Situation, die der Entscheidung zum kriminellen Handeln vorausgeht, ist der Moment, in dem sich individuelles Eigeninteresse und Normbewusstsein gegenüberstehen; die Mertonsche Drucksituation.[6] Diesen Konfliktzeitpunkt überwindet der Täter zugunsten des illegalen Weges vor allem mittels Neutralisierungstechniken.

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Im Bereich der Wirtschaftsstraftaten spielt hierfür die mehrmals erwähnte Anonymität des Opfers und die geringe Sichtbarkeit des Rechtsbruchs eine bestimmende Rolle. Die Tat hat keinen hohen Affektivitätsgehalt, der den Täter zwingen könnte, sich mit einem „schlechten Gewissen“ auseinanderzusetzen. Die physische Abwesenheit oder Unbekanntheit schwächt die Wahrnehmung der Existenz des Opfers. Dieser Mechanismus wird noch weiter verstärkt, wenn er in der Außenwelt Bestätigung findet, wenn aus Körperverletzungen „Schäden“ werden und Nachlässigkeiten zu „Unfällen“ verharmlost werden.[7]Sykes und Matza unterscheiden fünf größere Typen der Neutralisierungstechniken: (1) The Denial of Responsibility (Ablehnung der Verantwortung), (2) The Denial of Injury (Verneinung des Unrechts), (3) The Denial of the Victim (Ablehnung des Opfers, das zu Recht „bestraft wurde“), (4) The Condemnation of the Condemners (die Verdammung der Verdammenden)[8] und schließlich (5) The Appeal to Higher Loyalties (Die Berufung auf andere, höhere Werte).[9] Diese Unterscheidung wurde jedoch für den Kontext der Jugenddelinquenz getroffen, sodass es der Arbeiten Colemans bedurfte, der diese Überlegungen auf die Wirtschaftskriminalität übertrug und feststellte, dass Neutralisierungstechniken nicht nur dazu dienen, dass der Handelnde im Nachhinein eine deliktische Handlung vor sich rechtfertigt, sondern auch dazu, dass er sie als integralen Bestandteil der Willensbildung erkennt und bei der Abwägung, ob ein Lebenssachverhalt als „günstige Gelegenheit“ oder – im Gegensatz dazu – beispielsweise als zu beseitigende Sicherheitslücke eines Unternehmens interpretiert wird, eine entsprechende Entscheidung vornimmt.[10] Er knüpfte mit seinen Thesen an die Arbeiten Cresseys[11] an und identifizierte vier, für Wirtschaftsstraftaten charakteristische Neutralisierungsstrategien: (1) Verneinung des Schadens („It's not really hurting anybody, the store can afford it“), (2) Ablehnung der Strafvorschriften, (3) Verlagerung der Verantwortung („I did what is business“, „If I didn't do it, I felt someone else would“), (4) Berufung auf Reziprozität („I felt I deserved to get something additional for my work since I wasn't getting paid enough“).[12] Mit diesen Strategien können kriminelle Aspekte von Geschäftsvorgängen unter Berufung auf „höhere Instanzen“ wie der Wirtschaftsfreiheit oder darauf, dass andere sich ebenso verhalten, leicht ausgeblendet werden. Die günstige Gelegenheit ist dann nicht mehr eine physikalisch beschreibbare Ausgangslage, sondern steht – aufgrund der Definition des Täters als solche – plötzlich als „akzeptable Alternative“ zur Verfügung.

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Hat der Täter sich bereits für den illegalen Weg entschieden, spielen die Techniken der Neutralisation ebenfalls eine entscheidende Rolle angesichts der bindenden Kräfte des Normbewusstseins:[13] Die Tat wird im Nachhinein leichter gerechtfertigt. Zu beobachten war dieses Verhalten in allen qualitativen Befragungen[14] und scheint auch mit dem soziostrukturellen Umfeld verbunden zu sein: Man ist geneigt in diesen Zusammenhängen von delinquenten Subkulturen zu sprechen, die durch Aufbauen, Behaupten und Verstärken eines Verhaltenskodex geprägt sind. Die zeitliche Verschiebung des Tagesablaufs in wirtschaftlichen Spitzenpositionen und die Ausdehnung des Leistungsbereichs in den Freizeitbereich, wo zur Cocktailstunde noch Geschäftsabschlüsse diskutiert werden können, bedeutet auch eine berufsspezifische Selektion von Kontakten und Etablierung abgrenzbarer Werte- und Verhaltensmuster.[15] Die als erstrebenswert definierten Ziele bleiben notgedrungen marktbezogen, also auf Gewinnsteigerung und auf „gute“, im Sinne von profitablen, Geschäfte ausgerichtet. Werden zur Zielerreichung illegitime Mittel akzeptiert, etabliert sich ein System von Werten, das eine Umkehrung derjenigen Werte ist, die von einer respektablen, gesetzestreuen Gesellschaft erwartet wird und das in irgendeiner Form intern legitimiert und rationalisiert wird, die das Individuum vor Selbstvorwürfen und Vorwürfen anderer nach der Tat schützt.[16]

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Allerdings – und dies wird in der Kritik Colemans häufig vorgetragen – stellt sich die Frage, warum nicht alle am Wirtschaftsleben beteiligten Akteure in so beschriebene Verhaltensmuster verfallen und nur in bestimmten Bereichen Subkulturen entstehen. Schneider ist zuzustimmen, dass der Ansatz Colemans insofern personale Risikofaktoren außer Betracht lässt,[17] obgleich er mit Hilfe dieser makrosoziologischen Herangehensweise profunde Erkenntnisse hinsichtlich Willens- und Motivbildung geliefert hat. Dies war für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand, die Unternehmenskriminalität, vor allem von Bedeutung und hier sind die individuell ausschlaggebenden personalen Risikofaktoren auch zweitrangig. Die von Coleman thematisierten strukturellen Rahmenbedingungen des Wirtschaftslebens – die „culture of competition“[18] – verdienen dagegen einen zweiten Blick, welcher im Folgenden die wirtschaftskriminologische Theoriebildung ergänzen soll.

Anmerkungen

[1]

„Rationale Überlegung“ heißt im vorliegenden Fall nicht „objektiv rational“ im Sinne einer auf vollständigen Informationen basierenden Entscheidung, sondern eine subjektive Einschätzung des Individuums bezüglich seines durch legale oder illegale Mittel befriedigten Eigeninteresses (Erreichung seiner Ziele) in Hinblick auf die durch die Entscheidung für den illegalen Weg drohenden Sanktionen.

[2]

Vgl. hierzu v. Hayek ORDO 1947, 19 (33).

[3]

Vgl. hier auch Schneider NStZ 2007, 555 (559), der von einer „culture of competition“ als strukturelle Rahmenbedingungen des Wirtschaftslebens spricht.

[4]

Damit wird im Wesentlichen einem Menschenbild gefolgt, das auch dem Erklärungsversuch Lees zugrunde liegt, der ebenfalls Neutralisierungstechniken im Zusammenhang mit Wirtschaftskriminalität aus soziologischer Perspektive betrachtete; es ist im Wesentlichen von drei Merkmalen bestimmt: (1) Der Mensch ist ein egoistisches Wesen. Ihm wohnt von Geburt an ein instinktives Verlangen inne, durch das er sich um sich selbst und um sein Überleben kümmert. Bereits der Embryo nimmt von seiner Mutter soviel Nahrung, wie er braucht, selbst wenn es dadurch der Mutter an Nahrung mangeln würde. Dieses instinktive Verlangen bleibt in der Entwicklung des Menschen erhalten, auch wenn es in der Erscheinungsart freilich variiert. Ein Kleinkind entwickelt neben Nahrungsbedürfnissen auch solche nach Anerkennung, oftmals in Konkurrenz zu Geschwistern, und erhebt Anspruch auf seinen Besitz. Zwar werden diese Verhaltensweisen im Laufe der Sozialisation zurückgedrängt und verlieren ihre teils primitive oder sichtbare Ausprägung, gehen jedoch nicht vollständig verloren. (2) Der Mensch ist imstande, rational zu denken. In einer späteren Lebensphase und durch die Sozialisation gefördert entwickelt der Mensch die Fähigkeit des rationalen Denkens, welche das Bindeglied zwischen Ziel und Handlung darstellt. Die Konzeption des Menschen als einem, der rational im Sinne des eigenen Interesses handelt, wurde schon in der „Theorie des homo oeconomicus“ entworfen und unter Rn. 125 relativiert. Schließlich ist er gleichzeitig (3) ein soziales Wesen, das sich normalerweise normentsprechend verhält. Vgl. im Einzelnen Lee Soziale Probleme 1995, 25 (45 ff.).

[5]

Vgl. die Ergebnisse unter Rn. 58.

[6]

Auch Lee beschreibt diese Situation ausführlich, in der das individuelle Anliegen der Vermehrung von Lust und der Vermeidung von Unlust, welche durch das Erreichen oder Verfehlen der oben angeführten Ziele ausgelöst werden. Spannungssituationen sind als eine Art von intrapsychischen Prozessen anzusehen, die innerhalb des Menschen ablaufen. Sie führen nicht unmittelbar zu kriminellen Handlungen, weil Menschen kraft des oben beschriebenen Normbewusstseins davon abgehalten werden können; jedoch sind es Momente, in denen die Menschen leichter als sonst zu Kriminalität motivierbar sind. Vgl. Lee Soziale Probleme 1995, 25 (46).

[7]

Vgl. hierzu die Sachverhaltsdarstellung in der „Ledersprayentscheidung“ in BGHSt 37, 106. Vgl. auch die Beobachtungen von Wells Corporations and Criminal Responsibility, S. 67 in Bezug auf corporate crime.

[8]

Der Delinquent verschiebt seine Aufmerksamkeit von seinen eigenen abweichenden Akten auf die Motive und das Verhalten derjenigen, die seine Verfehlungen missbilligen.

[9]

Sykes/Matza American Sociological Review 1957, 664 (666)

[10]

Vgl. Coleman American Journal of Sociology 1987, 406.

[11]

Vgl. Cressey Other people's money, S. 96 ff. und ausführlich zu den Überlegungen Colemans in diesem Zusammenhang: Schneider NStZ 2007, 555 (560 ff.).

[12]

Coleman American Journal of Sociology 1987, 406 (409 ff.)

[13]

Unter Normbewußtsein wird hier mit Lee „eine Art von intrapsychischer Kontrollinstanz, die infolge der Verinnerlichung sozialer Normen und Werte im Verlaufe des Sozialisationsprozesses entsteht, Individuen ermöglicht, Handlungen und Einstellungen zu bewerten, und die darüber hinaus die Individuen von negativ einzuschätzenden Handlungen abhält“, verstanden; vgl. im Einzelnen Lee Soziale Probleme 1995, 25 (45).

[14]

Vgl. oben Rn. 79 ff.

[15]

Zu diesen arbeitsplatzbezogenen Subkulturen vgl. Coleman American Journal of Sociology 1987, 406 (422); sich hierauf ebenfalls beziehend: Schneider/John/Hoffmann Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen, S. 6. Vgl. im Kontext der Kriminalität der Mächtigen und dem ElfAquitäne Skandal Schmitt-Leonardy MschrKrim 2011, 34 (45 ff.).

[16]

Sykes/Matza in: Kriminalsoziologie, S. 360 (360 ff.)

[17]

Dem begegnet Schneider mit seinen Forschungen zum Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen, die er in seinem Leipziger Verlaufsmodell zu einem theoretischen Konzept verdichtete, um später eine Tätertypologie in die Diskussion einzuführen. Nach Schneider sind folgende idealtypischen Konstellationen zu unterscheiden: (1) Täter mit „wirtschaftskriminologischem Belastungssyndrom“, (2) Krisentäter, (3) Abhängige und (4) Unauffällige. Vgl. im Einzelnen Schneider/John/Hoffmann Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen, S. 14 und Schneider NStZ 2007, 555 (559 ff.).

[18]

Coleman in: White-Collar Crime, Classic and Contemporary Views, S. 360 (363); ausführlich auch in Coleman American Journal of Sociology 1987, 406 (406 ff.).

5. Kriminogener Einfluss der „Wirtschaft“?

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Einige Forschungsansätze[1] haben die Frage untersucht, ob die Wirtschaft für die Entstehung von Wirtschaftskriminalität zumindest mitverantwortlich ist. Eine solche These drängt sich dann auf, wenn die Profitmaximierung als intensives Ziel im Merton'schen Sinne als Kriminalitätsfaktor in Betracht gezogen wird und gleichzeitig genau dies die Bestehensvoraussetzung in der Wirtschaft darstellt.

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In einem solchen Falle würden Unternehmen als Verstärkerfaktoren dieses Kriminalitätsrisiko darstellen, da sie mit einem größeren Rationalitätspotenzial in diesem System funktionieren und die Täter der Wirtschaftskriminalität zunehmend innerhalb der Unternehmen vermutet werden.[2] Einschränkend zu diesen Forschungsergebnissen muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass sie auf einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage basieren, die primär zur Erklärung allgemeiner Vermögenskriminalität konzipiert wurde. Es ist zwar davon auszugehen, dass sich Wirtschaftskriminalität und Bereicherungskriminalität strukturell ähnlicher sind als Wirtschafts- und Gewaltkriminalität, jedoch ist die Einbettung im konkreten wirtschaftlichen Kontext – wie beispielsweise dem Unternehmenskontext – durchaus von Bedeutung für die Entstehung von Kriminalität. Nichtsdestotrotz können die Forschungsergebnisse von Bussmann, England und Hienzsch[3] hinsichtlich der Relevanz des Faktors „Wirtschaft“ für die Entstehung von Kriminalität beim Individuum[4] erhellend sein.[5]

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Zu den Kernergebnissen[6] der Studie zählt, dass die Häufigkeit der Begehung von Vermögensdelikten von vier Variablen abhängt: moralische Bindung, Viktimisierung, Netzwerke und Neutralisierung, wobei letzterer eine schwache Erklärungskraft attestiert wird, weil sie zu der moralischen Bindung an das Recht in Beziehung gesetzt werden muss. Neutralisierungen, die eine Rechtsfertigungsstrategie im Bewusstsein des Normbruchs darstellen, setzen nämlich implizit eine hohe Normbindung voraus. Eine geringere moralische Bindung an das Recht würde jedoch den Rechtsbruch leichter möglich machen als eine „mühevolle Neutralisierung“. Es wird insofern ein starker Zusammenhang zwischen moralischer Bindung an das Recht und Kriminalitätsentwicklung gesehen, der für die Autoren durch die festgestellte hemmende Bedeutung religiöser Orientierung als bestätigt betrachtet wird. Diesem religiösen Faktor kommt nach dieser Studie ein direkter mindernder Einfluss auf Kriminalität und ein stärkender Einfluss auf die moralische Bindung an das Recht zu. Letztlich sind es aber Viktimisierungen und Neutralisierungen, die als die entscheidenden Faktoren hinsichtlich der Normbindung bezeichnet werden. Die Variable „Viktimisierung“ wurde unabhängig von der „Neutralisierung“ abgefragt – auch im Kontext von Bagatelldelikten – und es wurde herausgefunden, dass die eigene Erfahrung, im Wirtschaftskontext „Opfer“ mangelhafter Produkte oder kleinerer Betrügereien geworden zu sein,[7] die moralische Bindung an das Recht reduziert, die Wahrscheinlichkeit von Vermögensdelikten erhöht und die Neutralisierung verstärkt. Auf die oben ausgeführten Erkenntnisse Terstegens[8] bezogen, erinnert das an die behauptete „Sog- und Spiralwirkung“ der Wirtschaftskriminalität. In jenem Kontext schien die delinquente Handlung eines Marktteilnehmers einen kriminalitätsfördernden Einfluss auf die übrigen Teilnehmer zu haben, weil diese ihre Marktposition nur unter der Bedingung eines ähnlichen delinquenten Verhaltens halten können. Wenn ein Markt beispielsweise dadurch verzerrt wird, dass ein Akteur Bestechungsgelder zahlt, ist der Zugang zu diesen Aufträgen für die anderen Konkurrenten erschwert.

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Die vorliegende Studie legt nun die Annahme nahe, dass eine solche Viktimisierung grundsätzlich die Normverfolgungsbereitschaft tangiert. Es könnte sich nach diesen Erkenntnissen der Eindruck verstärken, dass es sich nicht nur um eine von außen vorgegebene illegale Möglichkeit handelt, die im Merton'schen Sinne die Drucksituation – bei gleichzeitig intensivem Ziel der Profitsteigerung – verschärft. Die „Sog- und Spiralwirkung“ durch das abweichende Verhalten eines wirtschaftlichen Akteurs verstärkt auch die Viktimisierung der übrigen Akteure, die – zumindest nach dieser Studie – als signifikanter kriminogener Faktor angesehen wird. Ebenso weist die Studie auf kriminogene Netzwerke als entscheidenen Faktor hin: Netzwerke, in denen Akteure Bestätigung oder Zustimmung hinsichtlich ihrer Straftaten erfahren, erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Bereicherungsdelikten deutlich, schwächen die moralische Bindung an das Recht, steigern Neutralisierungstendenzen und fördern das Selbstinteresse.[9] Die in seiner Theorie der differentiellen Kontakte vorgetragenen Annahmen Sutherlands werden also bestätigt: Kriminogenen Netzwerken wird ein direkter Effekt auf das kriminelle Verhalten attestiert, weil nicht nur die Variable „moralische Bindung an das Recht“ nachweislich gesenkt wird, sondern auch ihr „Gegenspieler“ – das Selbstinteresse der Akteure – nachhaltig gesteigert wird.

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Damit wird das Unternehmen als die geschlossene Enklave des Wirtschaftssystems, innerhalb derer sich die Unternehmensmitglieder gemeinsamen Zielen verschreiben, zu einem Risikofaktor. Innerhalb dieses Netzwerkes könnten die beschriebenen kriminogenen Lern- und Nachahmungseffekte jedenfalls leichter um sich greifen. Je mehr kriminelle Attitüden in solchen Umgebungen gepflegt werden, desto mehr wird das Selbstinteresse des Individuums gesteigert und die moralische Bindung an das Recht geschwächt.[10] Diese Effekte werden aber – laut dieser Studie – nicht durch den unter Umständen im Unternehmen abgebildeten Kontext „Wirtschaft“ ausgelöst, da „die geringsten Effekte aufgrund befürwortender Einstellungen zur Marktwirtschaft“ zu erwarten sind und die positive Bewertung der Marktlage auch nicht mit der Erhöhung der Variable „Selbstinteresse“ korreliert.[11] Hieraus wird gefolgert, dass auch ein hoher Einsatz für den Erfolg des eigenen Wirtschaftsunternehmens nicht die Wahrscheinlichkeit erhöht, selbst in die Wirtschaftskriminalität abzugleiten.[12]

141

Eine solche Schlussfolgerung ist nur bedingt nachzuvollziehen, denn sie setzt implizit voraus, dass die Variable „Selbstinteresse“ entscheidend bei der Entwicklung der Wirtschaftskriminalität ist. In den Schlussbetrachtungen wird diese Variable auch in den Mittelpunkt gestellt[13] und festgestellt, dass mit steigendem Wohlstand das mittelbar kriminogene Selbstinteresse sinkt. Dies allein ist jedoch wenig aussagekräftig bezüglich der kriminogenen Wirkung des Kontextes Wirtschaft. Es wird zwar darauf hingewiesen, dass sich mit steigendem Einkommen ein „instrumentelles Rechtsverständnis“ entwickelt und das Recht eher als disponibel empfunden wird, da es mit steigendem Einkommen leichter sei, den Normbefehl für sich zu suspendieren. Vor dem Hintergrund von Mertons Anomietheorie ist es aber vorstellbar, dass der Kontext Wirtschaft genau dadurch kriminogen wirkt. Obwohl er nicht das Selbstinteresse des Akteurs erhöht, erhöht er doch die Perzeption illegitimer Möglichkeiten und somit einen durchaus relevanten kriminogenen Faktor.[14]

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Ein Verbindung zwischen einem erhöhten Selbstinteresse und einer geschwächten moralischen Bindung wird in der Pfadanalyse[15] der Studie erstellt, jedoch nur als schwach ausgewiesen und ist nur über den Aspekt „Einkommen“ auf den Faktor „Wirtschaft“ zurückführen. Damit ist jedoch noch nicht ausgeschlossen, dass andere Aspekte des wirtschaftlichen Kontextes, wie beispielsweise eine grundsätzliche Profitorientierung als „Überlebensvoraussetzung“ auf dem Markt, eine wichtige Rolle spielen. Diese Überlegung wird angedeutet, wenn ausgeführt wird, dass das „Gewinnstreben in der Marktwirtschaft nicht gänzlich ohne Grenzen praktiziert werden“[16] sollte, allerdings wird hier lediglich auf die Einhaltung der Fairnessregeln rekurriert und die kriminogenen Effekte v. a. beim „Ausschalten des fairen Wettbewerbs“[17] vermutet. Dies stellt sicherlich einen bedeutsamen Aspekt dar, sagt jedoch nichts darüber aus, aus welchen Gründen Fairnessregeln in bestimmten Situationen nicht respektiert werden. Zumindest einen starken Zusammenhang zwischen Viktimisierung und moralischer Bindungswirkung von Normen weist diese Studie in diesem Zusammenhang aber nach und lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass die oben beschriebene Sog- und Spiralwirkung aus einem ähnlichen Mechanismus heraus erklärbar ist. Es spricht zumindest einiges dafür, dass schon die Beobachtung von wirtschaftskriminellem Verhalten Hemmungen, selbst illegales Verhalten zur Zielverwirklichung einzusetzen, abbaut. Dennoch kann aus der ambivalenten Wirkung[18] der Wirtschaft auf die moralische Bindung kaum die nicht-kriminogene Wirkung ihres „systemspezifischen Programms“ gefolgert werden.

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9783811437197
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