Czytaj książkę: «Im Zentrum der Spirale»
Im Zentrum der Spirale
von Cecille Ravencraft
Besuchen Sie uns im Internet
© 2014 by Verlag Torsten Low,
© 2010 by Verlag Torsten Low, Rössle-Ring 22, 86405 Meitingen/Erlingen
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung und Illustrationen: Chris Schlicht
Lektorat und Korrektorat: R. Friedrich, M. Low, F. Low, Satz: T. Low
ISBN der Druckausgabe: 978-3-940036-06-4
ISBN der EBookausgabe: 978-3-940036-96-4
Inhalt
Teil 1: Das Knusperhaus
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Teil 2: Das herzlose Monster
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Teil 3: Sharpurbie
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Die Autorin
Teil 1: Das Knusperhaus
1
Der junge Mann ging langsam durch den strömenden Regen. Die Kälte der Frühlingsnacht kroch ihm in die Knochen. Seine dünne Jeansjacke war total durchnässt und nutzlos. Sie klebte an ihm wie eine kalte zweite Haut. Es war nicht gerade die beste Nacht, um per Anhalter zu fahren, aber er hatte keine Wahl.
Er seufzte, als ihm klar wurde, dass er nicht viel mehr tun konnte, als die ganze Nacht so weiter zu laufen oder sich unter einen Baum zu kauern. Immerhin war es fast zwei Uhr in der Früh und kein Auto weit und breit in Sicht. Zehn Minuten später, als er schaudernd beschlossen hatte, sich ins Gebüsch zu hocken und auf etwas Tageslicht zu warten, krochen zwei Lichter über die Leitplanke. Ein Auto kam durch die weite Kurve auf ihn zu.
›Oh Mann, ich hoffe das sind keine Bullen‹, dachte er mit einem nervösen Schlucken, setzte ein strahlendes »Ich-bin-ein-guter-Junge«-Lächeln auf und hob seinen Daumen. Der Wagen wurde langsamer, fuhr an ihm vorbei, beschleunigte wieder. Das Gesicht des jungen Mannes verdüsterte sich.
›Ärsche‹, dachte er entnervt. Als das Auto schon fast außer Sichtweite war, leuchteten plötzlich die Bremslichter auf und der Wagen, ein ziemlich alter Mustang, hielt an.
›Ja!‹, dachte der junge Mann und eilte darauf zu. Er hoffte verzweifelt, dass dies nicht eines von diesen gemeinen Spielchen war, die er und Juan immer gespielt hatten. Sie hatten darauf gewartet, dass der erleichterte Anhalter nahe genug herankam, um den Türgriff zu berühren und hatten dann Gas gegeben und waren einfach lachend davongerast. Heute jedoch war er es, dem man schon einige Male so übel mitgespielt hatte und jedes Mal hatte man ihn mit leeren Bierdosen beworfen und ausgelacht.
Die Leute in diesem Wagen taten aber nichts dergleichen. Keuchend kam er näher. Warum legte der Fahrer nicht einfach den Rückwärtsgang ein und kam ihm ein Stück entgegen? Aber er war im Grunde froh, dass sie überhaupt gestoppt hatten, anstatt den netten, nassen Jungen am Wegesrand einfach im Regen stehen zu lassen. Er ging auf den Wagen zu und schluckte. Die beiden roten Rücklichter sahen in der Dunkelheit auf einmal aus wie die glühenden Augen eines Monsters, das geduldig auf der Lauer lag. Das darauf wartete, dass ein Idiot nahe genug herankam, und dann …
›Na los, du Blödmann! Zumindest wird es trocken und einigermaßen warm da drinnen sein! Und du könntest vielleicht bis in die Stadt mitgenommen werden!‹, schrie ihn sein erschöpfter Verstand an. Er beschleunigte seinen Schritt, bis er fast rannte. Immerhin konnten die Leute jeden Augenblick ungeduldig werden und einfach davonbrausen.
Er erreichte das Auto und blickte in das Beifahrerfenster. Es wurde heruntergekurbelt, und er sah in das Gesicht einer kleinen, dicken Frau. Ihre große runde Brille ließ sie wie eine Eule aussehen. Der junge Mann schätzte sie auf etwa sechzig. Sie lächelte ihn freundlich an und sagte: »Stehen Sie nicht da herum, Ihnen muss doch kalt sein. Steigen Sie ein!«
Also stieg er ein.
Das Innere des Wagens roch eigenartig, aber es war himmlisch, nach all den Stunden auf der kalten Straße endlich zu sitzen. Es war auch angenehm warm, und der Rücksitz fühlte sich an wie ein großes, weiches Kissen. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. In seiner Erschöpfung schien der Junge wie auf einer weichen Wolke dahinzuschweben. Am liebsten hätte er sich einfach hingelegt und geschlafen, aber er durchnässte den Sitz so schon mehr als genug. Es schien den beiden auf den Vordersitzen aber nichts auszumachen. Der merkwürdige Geruch stieg ihm wieder in die Nase. Es war nicht der vertraute Geruch nach alten Leuten oder alten Autos. Es roch nach Lufterfrischer, Kräutern und …
›Ein bisschen nach Kupfer‹, dachte er und rümpfte die Nase. Er wandte den Kopf und bemerkte zwei große Kühltaschen auf dem Boden neben ihm. Waren die beiden bei einem Vollmondpicknick gewesen?
»Vielen Dank Ma`am, Sir«, sagte er. Die niedliche alte Dame auf dem Beifahrersitz drehte sich zu ihm um und lächelte herzlich.
»Oh, was für ein netter junger Mann! Und so höflich! So etwas sieht man nicht mehr oft heutzutage! Ist das nicht ein netter junger Mann, George?« Der Mann drehte kurz den Kopf und nickte. Sein eingefallenes Gesicht blieb ernst.
»Ich bin George Moerfield, und das ist meine Frau Hazel. Und wer sind Sie?«, verlangte er zu wissen.
»Thomas«, erwiderte der junge Mann scheu und verfluchte sich innerlich.
»Thomas …?«, fragte Mr. Moerfield und erhob die buschigen Augenbrauen.
»Thomas … Norris«, stammelte der Junge und ließ die Luft aus seinen Lungen entweichen. ›Das war nicht wirklich gelogen‹, dachte er. Das Paar tauschte einen Blick, der ihm nicht gefiel. Er war einfach kein guter Lügner.
»Tja, Thomas, es ist schön Sie kennen zu lernen«, sagte Mrs. Moerfield nach einer Weile. Sie lächelte noch immer. Thomas räusperte sich.
»Glauben Sie mir, das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Ich hatte nicht erwartet, hier von jemandem um zwei Uhr morgens mitgenommen zu werden. Schon gar nicht von so netten Leuten. Immerhin könnte ich ja irgendein axtschwingender Irrer sein.«
Mrs. Moerfield lachte. Es war ein mädchenhaftes Lachen, das sie noch niedlicher wirken ließ. Mr. Moerfield schmunzelte ein bisschen, aber sofort wurde er wieder ernst.
»Wir erschrecken nicht so leicht«, sagte er. Thomas lächelte unsicher und sank tiefer in seinen Sitz. Er wusste nicht, was daran so witzig sein sollte. Vor zwei Wochen war ein älteres Paar vor dem Einkaufszentrum erschossen worden. Der Täter hatte die Brieftasche des Mannes mit zweiunddreißig Dollar an sich genommen und war geflüchtet. Und das war am helllichten Tag geschehen. Es war eine grausame Welt da draußen – er wusste das nur zu gut.
Das warme Auto machte Thomas schläfrig. Seine Augenlider wurden schwerer und schwerer. Schließlich döste er etwas ein. Die Moerfields fingen an, leise miteinander zu reden. Thomas konnte nicht viel hören, aber er bekam mit, wie Mr. Moerfield Zweifel über etwas äußerte, das seine Frau gemurmelt hatte.
»Zu dünn …«, war alles, was er verstehen konnte.
»Keine Sorge«, sagte Mrs. Moerfield, »ich kümmere mich darum.«
Ihre Stimme klang auf einmal so kalt, dass Thomas seine Augen erstaunt aufriss. Sein erschreckter Blick traf im Rückspiegel direkt auf den ihren. Mrs. Moerfield’s Augen waren jetzt kleine, harte Schlitze. Thomas schloss schnell die seinen. Er öffnete sie jedoch sofort wieder weit genug, um die alte Dame beobachten zu können. Sie wandte sich um und starrte ihn lange an. Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, setzte sie sich wieder richtig hin. Tom atmete auf. Für den Rest der Fahrt sagte keiner ein Wort.
Der Motor brummte. Das monotone Geräusch machte Thomas schläfrig. Er döste ein und träumte von Kelly. Ihre enttäuschten, verletzten Augen lagen auf ihm. Sie weinte. Er ging auf sie zu und streichelte ihre feuchte Wange. Er sah auf seine Handfläche, aber die Feuchtigkeit darauf waren keine Tränen. Seine Hand war völlig mit Blut beschmiert. Thomas stöhnte gequält im Schlaf und wälzte sich hin und her. Er zitterte noch immer vor Kälte, wurde aber nicht richtig wach. Erst das Zuschlagen einer Autotür weckte ihn. Er fuhr hoch und stieß sich seinen Kopf am Wagendach. Mrs. Moerfield kicherte.
»Aufwachen, Schlafmütze, wir sind zu Hause.« Thomas stieg aus dem Auto und rieb sich den schmerzenden Schädel. Er stand vor einem kleinen, gepflegten Haus.
›Zu Hause‹, dachte er immer noch ein wenig benommen. Er hatte nie ein richtiges Zuhause gehabt.
»Moment mal, ich dachte, Sie würden mich irgendwo in der Stadt absetzen, und jetzt laden Sie mich in Ihr Haus ein?«, fragte er verblüfft. Er war überwältigt.
»Ihnen ist kalt, Sie sind völlig durchnässt, und wissen nicht wohin. Natürlich laden wir Sie in unser Haus ein. Wir haben ein Herz, wissen Sie«, schnaubte Mrs. Moerfield und sah ihn an, als wäre er nicht ganz richtig im Kopf. »Kommen Sie schon rein, es ist kalt hier draußen und Sie sind klitschnass, Sie Ärmster.«
Sie erklomm die Stufen zur Vordertür, die ihr Ehemann zuvorkommend für sie aufhielt. Er versuchte, Thomas ermutigend zuzulächeln, und das war es, was Thomas zutiefst verstörte. Dieser Mensch lächelte nie. Man konnte es daran sehen, wie er jetzt seine Mundwinkel hochzog. Er sah aus wie ein Vampir, der seine Zähne bleckte.
›Der Kerl braucht einen Abendkurs »Freundlich in dreißig Tagen« oder so etwas in der Art‹, dachte Thomas angewidert. Aber ihm war wirklich kalt und er war müde, und so folgte er den beiden.
Sehr viel später sollte ihm klar werden, dass er die Stufen einer Guillotine hinaufgestiegen war.
Die Luft im Haus war abgestanden und viel zu warm. Aber selbst die stickige, verbrauchte Luft störte ihn nicht, alles war besser als draußen in der Kälte zu sein.
»Sie kommen jetzt mit mir hinauf und nehmen ein schönes, heißes Bad«, kommandierte Mrs. Moerfield. Thomas protestierte nicht. Sehr nette Leute, diese Moerfields. Und für ein heißes Bad hätte er alles gegeben, selbst das, was er in seiner Kleidung versteckte. Hazel führte Thomas zu einem Badezimmer und brachte ihm einige Handtücher und einen Bademantel. Sie schlug ihm vor, die nassen Sachen einfach auf den Boden zu werfen. Sie würde sie gleich am nächsten Morgen waschen.
Thomas nickte zustimmend. Nachdem sie gegangen war, schloss er die Tür und stellte fest, dass sie sich nicht abschließen ließ. Aber er war zu müde, um sich darüber zu wundern. Er öffnete die Wasserhähne, und wunderbar heißes Wasser schoss in die Badewanne. Er fand eine Flasche mit Duschgel und quetschte etwas in das einlaufende Wasser.
›Muss wohl George gehören‹, dachte er. ›Aber es ist nicht irgendein Duschgel für alte Männer, das ist Axe! Steigt der immer noch Weibern nach oder so was?‹
Er kicherte leise und klang dabei fast wie Hazel. Dann pellte er sich seine nasse Kleidung vom Körper und zog die tropfenden Dollarnoten aus seinem Hemd. Er steckte das Geld in die Taschen des Bademantels und sank mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung in das heiße, dampfende Wasser. Langsam wich die schreckliche Kälte aus seinem Körper. Tom aalte sich fast eine ganze Stunde in der Wanne, bevor er schuldbewusst sein Haar wusch und ausspülte. Die Moerfields warteten unten auf ihn, und er saß in der Wanne und amüsierte sich. Aber ein Bad hatte er schon ewig nicht mehr nehmen können. Es erschien ihm jetzt wie purer Luxus, sich im warmen Wasser zu entspannen und sich wieder aufzuwärmen. Aber es war ja nicht seine Wanne und zudem war es auch noch mitten in der Nacht. Schnell trocknete Thomas sich ab.
Fünfzehn Minuten später eilte er die Treppe hinunter. Er fühlte sich erschöpft, aber endlich zitterte er nicht mehr. Und er war auch wieder sauber. Thomas roch Schinken und folgte dem Duft in eine weitläufige, gemütliche Küche. Mrs. Moerfield stand vor dem Herd und brutzelte Schinken und Eier. Eine große Tasse Kakao stand dampfend auf dem Küchentisch. Mrs. Moerfield schaufelte eine Riesenportion Eier auf einen Teller, den ganzen Schinken, und garnierte diesen herrlichen Anblick noch mit zwei Scheiben Toast. Sie bat Thomas sich zu setzen und sein Essen zu genießen.
»Oh, Mrs. Moerfield, das wäre aber nicht nötig gewesen«, sagte er gerührt.
»Seien Sie nicht albern. Sie müssen hungrig sein«, erwiderte sie fröhlich. Das war völlig untertrieben. Er war halb verhungert. Thomas dankte ihr, setzte sich und schlang das Essen in sich hinein.
»Sie Ärmster. Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen?« Sie strich ihm mitfühlend über das feuchte Haar.
»Dienstag«, sagte Tom nach einer Weile. Er musste angestrengt nachdenken. Er wusste noch, dass er vor einem Süßwarenregal gestanden hatte. Dann hatte er das Geld, ein paar Twinkies und drei Dosen Cola genommen. Nach einem kurzen Zögern war er aus dem Laden und damit auch aus seinem bisherigen Leben geflohen.
»Sie Ärmster«, wiederholte die alte Dame sanft und wandte sich wieder der Spüle zu, um abzuwaschen. Tom sah auf die große Uhr über der Küchentür. Es war vier Uhr in der Früh. Warum machte sie den Abwasch denn nicht später? Aber im Grunde war es seine Schuld, dass sie so lange hatte aufbleiben müssen.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen, Mrs. Moerfield«, bot er hastig an. Sie sah zu ihm auf und lächelte.
»Nennen Sie mich Mrs. M, okay? Moerfield ist so ein langer Name. Mr. und Mrs. M.«
2
Nachdem er aufgegessen hatte, führte Mrs. M ihn wieder nach oben. Sie öffnete die Tür neben dem Badezimmer und drängte Thomas, sich etwas Ruhe zu gönnen. Thomas war zu erschöpft sich dagegen aufzulehnen, obwohl er ihr am liebsten gesagt hätte, dass er gehen müsse. Es war gefährlich, sich irgendwo für längere Zeit aufzuhalten. Aber er brauchte etwas Schlaf, da hatte sie völlig Recht.
Er dankte ihr wieder und ging einige Schritte in das Schlafzimmer. Mrs. M wünschte ihm eine gute Nacht und schloss die Tür. Thomas sah sich in dem halbdunklen Zimmer um. Die Vorhänge waren zugezogen, daher konnte er außer dem Bett nicht viel erkennen. Thomas zog den Bademantel aus und legte sich hin. Es war herrlich, sich mal wieder in einem richtigen Bett auszustrecken. Es war schon über eine Woche her, dass er in einem Bett geschlafen hatte.
Normalerweise brauchte Tom einige Zeit, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Aber jetzt fiel er innerhalb weniger Minuten in den tiefen Schlaf völliger Erschöpfung. Sobald er anfing zu schnarchen, öffnete Mrs. M vorsichtig die Tür und lugte herein. Als sie sich vergewissert hatte, dass er tief und fest schlief, machte sie die Tür wieder zu und der Schlüssel bewegte sich leise klickend im Schloss.
Die Sonne strahlte durch die Vorhänge, als Thomas wieder wach wurde. Das Haus war sehr still. Wahrscheinlich lagen die beiden alten Leute noch im Tiefschlaf. Thomas öffnete die Augen und sah ein Modellflugzeug an der Decke hängen. Er blickte sich um.
Dies hier war das Zimmer eines Jungen, so um die dreizehn Jahre alt, schätzte er. Damit kannte er sich aus. Er hatte eine Menge dieser Zimmer bei seinen Pflegefamilien gesehen. Die eigenen Kinder waren meist gut gepflegt und verwöhnt. Sie hatten große, schön eingerichtete Zimmer mit viel Spielzeug, und voll mit Konsolenspielen und dem allerneuesten Computerkram. Die Pflegekinder mussten sich meistens mit sehr viel kleineren und äußerst hässlichen Zimmern abfinden, in denen sie zu zweit oder manchmal auch zu viert schliefen und die nur zweckmäßig möbliert waren. Die Schränke stammten oft vom Sperrmüll und fielen fast auseinander.
Dieses Zimmer hier sah zwar so aus, als ob ein Kind hier lebte, das über alles geliebt wurde, aber es fühlte sich nicht so an. Es erschien eher leer unter all den schönen Dingen. So leer wie die Zimmer, in denen er als Kind hatte hausen müssen. Es hingen keine Bilder an der Wand, auch keine Poster von Popstars.
Kalt.
Seelenlos.
Thomas stützte sich auf seine Ellenbogen und ächzte. Er hatte einen furchtbaren Muskelkater von seinem langen Marsch auf der Straße. Er zwang sich aufzustehen. Stöhnend humpelte er zu einem Schränkchen, öffnete zwei Türen und war angenehm überrascht, einen Fernseher vorzufinden. Auch ein alter Videorekorder versteckte sich hier drinnen. Der Fernseher war allerdings nicht an eine Antennenbuchse angeschlossen. Nur an den Videorekorder. Auf einem Regal unter dem Videorekorder fand er einen ganzen Stapel Kassetten, alle ordentlich beschriftet. »Star Wars« stand auf der ersten, die er sich ansah. Das Cover war liebevoll mit Bildern von Luke Skywalker, Darth Vader und Chewbacca beklebt worden, wahrscheinlich ausgeschnitten aus einer Programmzeitschrift.
Thomas glaubte jetzt, dass der Junge, der hier wohnte, etwas älter war. Wahrscheinlich zwischen fünfzehn und sechzehn. ›Sie haben also Enkelkinder‹, dachte er. Vielleicht war der Eindruck, dass dieser Raum seelenlos und kalt war, falsch gewesen. Tom durchforstete die anderen Filme, die der Enkel sammelte. Alle »Indiana Jones«-Filme, »Ghostbusters«, »Stirb langsam«, »The Crow«, und dann stieß er auf die erste Kassette, deren Beschriftung nicht ganz so sauber war wie die der anderen. »Das Schweigen der Lämmer« hatte darauf gestanden, bevor jemand die Schrift mit dickem, schwarzem Filzstift durchgestrichen hatte. Die Bilder von Jodie Foster und Anthony Hopkins waren noch immer auf der Kassette, aber auf dem Aufkleber stand jetzt »Pete mit 17«.
Thomas hob die Augenbrauen und legte die Kassette beiseite. Er nahm eine, die mit »Der merkwürdige Mann« beschriftet war, und schob sie mit einem schuldbewussten Grinsen in den Rekorder. Soweit er sich erinnern konnte, war das ein Film über einen Kerl, der sich in eine Nutte verliebte. Keine romantische Komödie, sondern ein blutrünstiges Drama. Er konnte sich den Film jetzt antun, bis seine Gastgeber aufwachten.
›Kelly liebte diesen Film‹, dachte er, und Toms Herz begann zu rasen. Nichts auf dieser Welt würde je diesen Stachel der Schuld mildern können, der ihm jedes Mal durchs Herz fuhr, wenn er an sie dachte. Sie hatte immer Filme gemocht, die einen gewissen Anspruch hatten. Für Tom war »Der merkwürdige Mann« immer eine Art Softporno gewesen, aber Kelly hatte ihn auf die tragischen Charaktere und die brillanten Schauspieler aufmerksam gemacht. Thomas hatte vorgegeben, zu verstehen was sie meinte, und sah ihn sich mit Kelly zusammen an. Er wartete auf die anrüchigen Stellen, während Kelly die Bedeutung des leidenschaftlichen Verkehrs erklärte, den der Mann mit der Nutte hatte, und wie besessen er von ihr war. Thomas konnte damit nichts anfangen. Er trank ein Bier und aß Popcorn, während Kelly mit kummervoller Miene zusah, wie die betrogene Ehefrau Selbstmord beging, nachdem sie ihren Mann umgebracht hatte.
Thomas legte sich wieder aufs Bett und sah sich den Film an. ›Langweilig wie immer‹, dachte er. Als die erste Sexszene anfing, legte er den Superman Comic beiseite, den er zu lesen begonnen hatte, und sah genau hin. Alma Hath und Stephen Grimbo, beide berühmte Schauspieler, küssten sich. Plötzlich blitzte es, der Bildschirm wurde für eine Sekunde grau, und als der Film weiterlief, lagen Grimbo und Hath im Bett und redeten. Thomas starrte dümmlich auf den Bildschirm. Vielleicht war die Kassette alt, bestimmt sogar. Wer hat denn heutzutage noch Videos? Das passiert, wenn Videokassetten alt werden. Aber trotzdem …
Er legte den Comic beiseite und sah genauer hin. Hath und Grimbo begrapschten sich in einer dunklen Straßenecke. Ein Blitz, ein grauer Bildschirm, und Stephen Grimbo war wieder in seinem Hotelzimmer.
Thomas musste lachen. Er konnte nicht anders. Jemand hatte all die kleinen, schmutzigen Szenen aus dem Film herausgeschnitten. Waren alle Filme zensiert? Hatte Mr. M oder die niedliche Mrs. M auch die Gewaltszenen aus den Thrillern und Actionfilmen entfernt? Hatten sie ihre Schere bei der Szene in »Ein Juwel für Kali« verwendet, in der ein Priester der Göttin Kali junge Männer auf dem Scheiterhaufen verbrannte? Er musste es wissen. Thomas sprang aus dem Bett und steckte die Kassette in das Gerät. Als er die Stelle fand war er erstaunt festzustellen, dass sie noch im Film war. ›Gab es da nicht auch eine Szene, in der der Hohepriester beinahe von einer blonden Sexbombe verführt wird?‹, fragte er sich. Er spulte vor, bis er sie fand. Tom brüllte vor Lachen, als die beiden sich küssten, in den Raum stolperten und dann hinter dem vertrauten Blitz verschwanden.
›Was zum Teufel ist denn mit denen los?‹ Er konnte es kaum glauben. Es kam nicht mal zum Sex in dem Film, trotzdem hatte jemand, wahrscheinlich Mr. M, mindestens fünf Minuten weggeschnitten, um auf Nummer sicher zu gehen. Absolut verrückt.
Plötzliche Schritte vor seiner Zimmertür ließen ihn erschrocken zusammenfahren. Thomas schaltet blitzschnell den Fernseher und den Videorekorder aus, schlüpfte zurück ins Bett, und griff nach seinem Comic. Die Tür öffnete sich und Mrs. M stand auf der Schwelle. Sie lächelte.
»Was ist denn so komisch?« Sie trug ein Tablett mit einem Teller voller Waffeln mit Ahornsirup und einem Glas Orangensaft.
»Oh, nur etwas in dem Comic hier«, erwiderte er mit einem nervösen Grinsen. Thomas hoffte, dass sie das jetzt nicht überprüfen würde. In dem Heft hatte ein brutal aussehender Gangster gerade ein Wohnhaus in die Luft gesprengt.
»Ach, ihr Jungs seid alle gleich. Comics, Comics, Comics, den ganzen Tag«, schmunzelte Mrs. M. und zwinkerte ihm zu. Thomas grinste schuldbewusst. Und er fühlte sich wirklich schuldig. Das alte Mädchen hatte sich wieder einmal überschlagen, um ihm ein herrliches Frühstück zu zaubern, und er schnüffelte im Zimmer ihres Enkels herum. Wen interessierte es schon, dass sie Sex so abstoßend fanden, dass sie die ganzen Schmuddelszenen aus Petes Kassetten schnitten? Es war ihre Sache, nicht seine. Vielleicht hatte das etwas mit ihrem Glauben zu tun. Das musste man als Gast natürlich respektieren.
»Danke, Mrs. M. Das sieht toll aus.« Ein Strahlen glitt über ihre Züge.
»Genießen Sie Ihr Frühstück.« Und das tat er auch.
Nachdem er fertig war, zog Thomas sich den Bademantel wieder an und brachte das Frühstückstablett nach unten. Er hatte vor, nach seiner Kleidung zu fragen. Falls sie trocken sein sollte, würde er Mrs. M und ihrem komischen Kauz von Gatten danken und verschwinden. Die Polizei war höchstwahrscheinlich auf der Suche nach ihm, und er wollte das nette alte Ehepaar nicht in Schwierigkeiten bringen. Und ganz sicher wollte er nicht den traurigen, entsetzten und enttäuschten Ausdruck in Mrs. M`s Gesicht sehen müssen, wenn die Polizei ihr erzählte, was er getan hatte. So lieb und nett wie sie war, vermutete er, trat sie für Recht und Ordnung ein und würde nicht mal ein Stück Brot klauen, wenn sie am Verhungern war.
Thomas betrat die Küche und lächelte nervös, als er sah, dass nicht Mrs. sondern Mr. M sich dort aufhielt. Er saß am Tisch und las Zeitung. Stirnrunzelnd sah er davon auf. Thomas musste hart schlucken, als er in Mr. M`s grimmiges Gesicht sah. Auf einmal schien Mr. M aufzugehen, dass sein Gast vor ihm stand, und nicht ein Streuner, der auf seinen Persischen Teppich gemacht hatte. Er hob mühsam seine Mundwinkel.
›Meine Güte, versucht er wieder zu lächeln?‹, fragte sich Thomas. Er sah Mr. M in die Augen, die ihren kalten Ausdruck beibehalten hatten.
»Tut mit leid, Sie zu stören, Sir«, stammelte er. »Ich wollte nur das Tablett wieder zurückbringen.«
»Nur zu«, grunzte Mr. M. »Meine Frau ist im Garten, Sie können ihr beim Jäten helfen, sobald Sie das Geschirr abgewaschen haben.« Er wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Thomas nickte. Das war das Mindeste, was er für die niedliche, fürsorgliche Mrs. M tun konnte. Er hatte allerdings nicht viel übrig für die Art und Weise, in der Mr. M ihn herumkommandierte. Hatte er noch nie von dem schönen Wort »bitte« gehört? Thomas wandte dem groben alten Sack den Rücken zu und machte den Abwasch. Dabei drehte er wie unter Zwang immer wieder den Kopf und sah in die rechte Ecke der Küche. Ein enormer Kühlschrank stand dort, er hatte noch nie so etwas wie diesen Kühlschrank gesehen. Sah wie eine Spezialanfertigung aus.
›Warum brauchen zwei alte Leute so einen riesigen Kühlschrank? Für Pete? Ist er bei den anonymen Essgestörten oder so was?‹
Er spülte die Pfannen und trocknete sie ab. Eine Viertelstunde später ging er in den Garten und sah Mrs. M dort in einem wunderschönen Blumenbeet knien. Er schlenderte zu ihr und wunderte sich, warum das Blumenbeet in einer so weit entfernten Ecke des kleinen Gartens prangte. Und warum sie so ein schönes Blumenbeet hatten, während das Gras so braun und vertrocknet war. Der Rasen war seit mindestens drei Wochen nicht mehr gemäht worden, und es war auch nirgendwo ein Rasensprenger zu sehen. Die M`s benutzen ihren Garten scheinbar nicht. Bestimmt waren sie zu alt für die harte Arbeit. Aber warum pflanzten sie dann überhaupt Blumen?
»Kann ich Ihnen helfen, Mrs. M?«, rief er fröhlich zu ihr hinüber. Sie wandte sich kichernd zu ihm um.
»Sie könnten die Blumen gießen, mehr nicht.« Tom drehte sich um und entdeckte eine alte Gießkanne. Er füllte sie und schleppte sie zu den blühenden Blumen hinüber. Er pfiff anerkennend durch die Zähne, als er sah, dass sie blau und weiß und in der Form einer Spirale gepflanzt worden waren.
»Das ist wirklich sehr hübsch«, lächelte er. Mrs. M senkte den Kopf. Sie sah auf einmal sehr traurig aus.
»Ja … na ja, bitte gießen Sie sie schnell, und dann sehen wir mal nach, ob wir nicht etwas zum Anziehen für Sie finden. Sie können nicht den ganzen Tag in diesem Bademantel herumlaufen, schon gar nicht hier im Garten. Sie werden sich erkälten, und was sollen die Nachbarn denken? Die sind sowieso viel zu neugierig.« Sie stand auf und streckte sich. Thomas blinzelte.
»Neue Klamotten? Aber … was ist denn mit denen passiert, die ich gestern anhatte?«
»Die sind an einigen Stellen völlig zerrissen, hatten Sie das nicht bemerkt? Und nass sind sie auch immer noch. Aber machen Sie sich keine Sorgen, ich bin mir sicher, dass da noch irgendwo ein Jogginganzug in Petes Schrank ist. Den können Sie tragen, bis ich Ihre Jeans wieder in Ordnung gebracht habe.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, Mrs. M«, sagte Thomas nervös, »aber ich wollte eigentlich in etwa einer Stunde aufbrechen.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn der sich zu bilden begann, als Mrs. M ihn grimmig ansah. Ihr strahlendes Lächeln war verschwunden.
»Tja, wenn Sie unsere Gastfreundschaft nicht mögen, können Sie natürlich jederzeit gehen«, erwiderte sie steif und wandte sich ab. »Wir hatten gehofft, dass Sie noch ein paar Tage bleiben würden. George hat noch so viele Dinge im Schuppen zu tun, bei denen er Hilfe brauchen könnte. Und ich habe gerade angefangen, Bohnen zu backen. Wir sind alte, einsame Leute, wir brauchen nicht mehr so viel Essen. Aber ich kann sie ja auch die Toilette hinunterspülen, also machen Sie sich bloß keine Gedanken.«
»Oh, Moment, warten Sie«, stotterte Thomas erschrocken. »Ich wollte Sie nicht beleidigen, ich finde Ihre Gastfreundschaft ganz toll, bitte Mrs. M, seien Sie nicht böse auf mich!« Sie zögerte, drehte sich aber nicht zu ihm um. Alarmiert sah er, dass ihre Schultern bebten. Sie weinte mit gesenktem Kopf still vor sich hin.
»Mrs. M, bitte, ich bin nur irgendein Anhalter, ich hatte nicht erwartet, dass Sie so nett zu mir sind. Die meisten Leute nehmen einen nur ein Stück mit und setzen einen irgendwo ab. Niemand ist in meinem ganzen Leben so nett zu mir gewesen! Bitte weinen Sie doch nicht!« Er streichelte ungeschickt ihre Schultern und fühlte sich wie ein komplettes Arschloch.
Mrs. M. hörte auf zu weinen, hob ihren Kopf und sah ihn an. Die Tränen strömten noch immer über ihre Wangen, und ihre Mundwinkel zitterten. Er umarmte sie, er konnte einfach nicht anders. Sie war so lieb und sah so traurig aus, und er brachte diese niedliche, kleine Eule zum Weinen. Sein Herz brannte vor Scham. Der verletzte und enttäuschte Ausdruck in ihren Augen war fast derselbe, den er in Kellys Augen gesehen hatte.
»Es tut mir so leid«, murmelte Thomas bedrückt. Er weinte beinahe selbst.
»Schon gut«, flüsterte sie, »lassen Sie uns hineingehen und eine große Schale Eiscreme essen.« Er stimmte sofort zu. Er hätte allem zugestimmt, damit sie mit dem fürchterlichen Weinen aufhörte.
»Natürlich bleibe ich. Und ich werde auch Ihrem Mann helfen.« Der Gedanke daran ließ Thomas erschaudern. Als er ihr in die Küche folgte, fragte er sich, wie das alles so schnell gehen konnte. Er war doch nur ein Anhalter, und plötzlich war er ihr Gast? Ein paar Tage bleiben?
Wie würde er aus der Sache wieder rauskommen? Er fing an, sich große Sorgen zu machen. Sie waren einsam, hatte die alte Dame gesagt. Was wollten die denn tun, ihn behalten? Etwa, bis Pete aus dem College zurückkam? Oder war er vielleicht in der Armee? Thomas wollte kein Lückenbüßer sein. Er konnte das Loch im Herzen der M`s nicht ausfüllen, das Pete hinterlassen hatte – und wollte es auch nicht.