Czytaj książkę: «Löwenschwester»

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____Prolog____

Während der Schatten des einzelnen Baumes sich wie eine Decke über sie legt, versucht sie, endlich einen Moment der Ruhe zu finden. Sie blendet alle Laute der Welt um sie herum aus, lässt sich fallen, lässt sich ein auf diesen Augenblick. Entkräftet legt sie ihren Kopf in das trockene Gras, schließt mit Mühe die Augen und ignoriert, dass das seit so langer Zeit nicht mehr möglich ist. Schwach und ausgezehrt rastet ihr unscheinbarer Körper im heißen Wüstensand. Sie gibt für diesen einen Moment die Bereitschaft auf, von jetzt auf gleich auf absolute Geschwindigkeit zu beschleunigen. Schon das winzige Knacken im eigentlich schützenden Gehölz der ausgedörrten Oase hinter ihr lässt sie jedoch aufschrecken und zerstört jeglichen Frieden. Mit einem Satz steht sie abermalig auf den wackligen, dünnen Beinchen, spannt alle Muskeln an und wäre trotzdem nicht schnell genug. Sie kennt die Gefahr, der sie sich aussetzt, wenn sie stehen bleibt. Schon jetzt spürt sie die spitzen Krallen im Rücken, obwohl sie sie bisher nie berührt haben. Wenige Sekunden verstreichen. Trotzdem ein Atemzug zu lang, bis sie realisiert, dass es diesmal ernst ist. Dass er sich heute tatsächlich an sie herangeschlichen hat.

Urplötzlich sprintet die kleine Antilope los, schlägt die Hufe haltlos in den Sand, peitscht Staub in die Luft. Der ungemütliche Unterton im Knurren ihres Jägers verrät seine Siegessicherheit. Seine Beute hat eigentlich nicht den Hauch einer Chance. Unter ihrer zarten Haut treten Adern hervor, die ihr die Anmut nehmen, weil Todesangst keinerlei Eleganz mehr hat.

Und ihr Atem geht so schnell, dass ihr schwindlig wird, dass sie blind wird für sämtliche Reize um sie herum. Da ist nur das Fauchen des Löwen an ihrem Ohr, der feuchte Hauch des gierigen Koloss, der ihr selbst die kleinste Hoffnung nimmt. Sie ist ein Fluchttier, aber dass es kein Entkommen gibt, hat sie schon so oft beobachten können. Es ist das ursprüngliche Gesetz von Räuber und Beute, dem sie sich immer bewusst war. Aber niemals zuvor erschien es ihr gegenwärtiger.

Durch das halbe Land hat sie die Angst vor ihm schon getrieben. An keinem Ort fühlt sie sich zu Hause. Denn jede fahrlässige Minute könnte ihr Ende bedeuten.

Der Löwe ist die Verfolgungsjagd gewiss noch nicht leid. Ausdauernd steckt er seine komplette Energie in seinen Sprint, genießt den Anblick der blutjungen Gazelle, die zwar noch nicht langsamer, dafür aber immer verausgabter vor ihm flieht. Lange kann dieser Wettkampf nicht mehr dauern.

Während die heiße Wüstensonne dem Gefecht noch zusätzlich einheizt, werden die schmalen Beine immer träger. Und als sie letztlich einsieht, dass ihr nun das Ende blüht, hat er sie bereits in seiner Gewalt. Quäkend ergibt sie sich der Macht der großen Katze. Das siegreiche Brüllen hallt in ihren Ohren nach, als diese sie mit ihren Klauen packt und ihre verbliebene Zuversicht gänzlich zerfleischt. Es ist das Letzte, das sie zu hören bekommt, bevor die weit aufgerissenen Augen innehalten.

Schwach durchzuckt die Wirklichkeit ihre Muskeln. Die Sonne ist inzwischen weitergewandert, hat sie aufgedeckt und der Welt zurückgegeben. Angst verschwindet im Nebel des vergangenen Schlafes, wird gleichermaßen erneut entzündet, als sie sich langsam aufrafft und davontrabt. Alles andere als gemächlich. Nach jedem Schritt wirft sie einen Blick zurück, um sich abzusichern, dass ihr Traum, ihre Vision sich auch diesmal nicht realisiert hat. Noch nicht bewahrheitet hat. Es ist kein Gedanke daran, sondern viel mehr ein Gefühl, das sie in ihrem Inneren plagt, sie immer wieder anstachelt und ihre Alarmbereitschaft nie abklingen lässt.

Die Wildnis ist voll von Löwen, die ihr noch nie begegnet sind, deren Weg sie aber zu jedem Zeitpunkt kreuzen könnte. Bis dahin bleibt sie jedoch die kleine Schwester der Vorahnung.

____1____

Wie ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln tänzele ich auf der Mauer meines Abgrundes entlang. Auch wenn jeder Schritt mit so viel Bedacht gesetzt ist, könnte das hier trotzdem mein Ende sein. Es ist seltsam, wie der Wind meine schwarzen Haare verweht und dafür sorgt, dass ich nichts mehr sehen kann. Es scheint, als wollte er, dass ich die Orientierung verliere, die breite Mauer verfehle und zehn Stockwerken ungehalten herabstürze.

Ich weiß nicht, ob ich das wirklich will.

Über mir ist der Himmel eiskalt und die glasblaue Dämmerung hüllt mich ein wie eine raue Decke. Es ist wolkenlos, aber es ist extrem kalt für Oktober. Normalerweise ist der Herbst bei uns noch relativ gemütlich. Unten in der Stadt fällt das wohl keinem auf. Hier oben ist alles anders.

Ein Schritt und ich bin tot.

Ich balanciere – in eine dicke Kuscheljacke und einen selbst gestrickten Schal gewickelt – am möglichen Ende meines Lebens entlang.

Aber kann ich das einfach so? Kann ich mich irgendwann nach vorn fallen lassen und wegfliegen? Ich stelle mir diese Fragen beinahe jeden Tag. Jede Sekunde jedes einzelnen Tages. Die Antwort versteckt sich vor mir. Womöglich gibt es sie überhaupt nicht. Ich weiß nicht, ob ich es könnte, ob ich sterben könnte. Ich weiß nur, dass ich es irgendwann muss.

Es ist Oktober und ich stehe hier oben und bete. Ich bete, obwohl ich nicht glaube, dass es einen Gott gibt, der mich hört. Wunschtraum. Keine Realität. Nein, Realität nicht.

Ich bin unberechenbar, habe keine Kontrolle über das, was ich tue und über das, was ich will. Weil ich nicht weiß, was ich will.

Über all diese Dinge denke ich gleichzeitig nach, während ich nach Antworten suche, nach Auswegen. Ehrlich gesagt liegen sie mir schon seit Jahren direkt vor den Füßen. Und weil ich erkenne, dass ich keine Wahl mehr habe, wenn sie mir erst einmal über die Lippen gegangen sind, drehe ich mich um und steige hastig die Leiter herab. Jage die Treppen herunter, bis ich wieder auf dem schmalen Gehsteig stehe. Ich muss weg vom Abgrund, denn ich will fliehen, solange ich es kann.

Der Abgrund verfolgt mich.

Am Fuße des Hochhauses ist es gar nicht mehr windig. Da oben ist einfach alles völlig anders. Es gibt keine Zeit. Auf dem Gehweg. Auf dem Boden der Tatsachen gibt es das Leben und es gibt Helena. Helena, die gegen das Leben kämpft. Vielleicht auch dafür, ich bin mir noch unschlüssig. Das erste Mal, dass ich dort oben gestanden habe, ist bestimmt drei Jahre her. Da war ich dreizehn. Und heute ist mein sechzehnter Geburtstag.

Es ist der siebte Oktober und niemand hat mir bisher gratuliert. Selbstverständlich gibt es wichtigere Dinge zu erledigen. Ich weiß, dass meine Mom um diese Uhrzeit in der Küche steht und kocht. Ich weiß, dass mein Dad in seiner Kanzlei über einem dringenden Fall brütet und meine Schwester Evelynne seit Stunden im Ballettstudio trainiert. Seit sie vier ist, streben Mom und sie die große Karriere als Primaballerina an. Aber das schafft Evie nicht. Sie ist tatsächlich gut, aber in dieser Branche ist gut nicht gut genug. Dann gibt es noch Tyler, der sich garantiert an meinen Geburtstag erinnert, doch ich kann ihm heute nicht in die Augen sehen. Für uns beide ist es besser, wenn ich ihm heute aus dem Weg gehe. Ich bin also allein an meinem Geburtstag. Es ist nicht so, dass ich traurig bin. Im Laufe der Jahre gewöhnt man sich an eine Vielzahl von Dingen. Gleichgültigkeit zählt dazu.

Mittlerweile wandele ich wie ein Geist durch den Park. Die Welt wird allmählich von der Nacht eingeholt. Ich träume heimlich vor mich hin. Von einer Torte und Geschenken. Von Familie. Nein ... es ist schon okay.

»Hey! Vorsicht!« Vor lauter Schreck bleibt mir die Luft weg. Der Knall verhallt noch in meinen Ohren. Wie? Was? Plötzlich sitze ich am Boden, schaue mich verwirrt um. Erst Sekundenbruchteile später realisiere ich die Hand, die nach mir ausgestreckt wird, greife sie und stehe wieder auf den Beinen. Meine Umgebung verwandelt sich in ein unscharfes, sich drehendes Panorama.

»Ist alles okay?« Die Stimme dringt langsam zu mir vor. Sie klingt neblig. Mein Kopf brummt, meiner Kehle entfleucht ein gequältes Jammern.

»Geht’s? Du solltest dich setzen.« Zwei Hände packen mich an den Schultern und dann befinde ich mich auf einer Bank. Wo kommt die plötzlich her? Meine Handflächen sind aufgeschürft, doch ich spüre keinen Schmerz.

»Was ...?« Neben mir sitzt ein junger Mann, den ich nicht kenne.

»Ich habe dich gar nicht gesehen. Tut mir echt leid. Ich konnte nicht mehr bremsen.« Er lächelt beschämt. Ich kann das Fahrrad ausmachen, das vor uns an einem Baum lehnt.

»Nein. Ich muss mich entschuldigen«, sage ich leise und hole tief Luft, die ich nicht sofort wieder ausatme.

»Passiert dir das öfter?« Ich will mit Ja antworten, aber das Wort geht mir nicht über die Lippen. Stattdessen halte ich mir den Kopf. Das wird bestimmt eine ordentliche Beule. Irgendwann lege ich den Kopf in den Nacken und schaue nach oben. Der Himmel ist blauviolett. Ich mag den Herbst wirklich. Ich mag die bunten Blätter und ich mag Halloween. Ich mag die Luft und den Wind. Die ganze Atmosphäre. Es ist viel zu selten Herbst.

»Ich bin Damien.« Diese Information kommt aber nicht weit, denn ich kann mich nicht konzentrieren.

»Helena.« Normalerweise sage ich fremden Leuten meinen Namen nicht. Es kommt selten vor, dass ich neue Bekanntschaften schließe.

»Dein Fahrrad ist Schrott, oder?«, frage ich vorsichtig. Habe ich genug Geld, um es zu ersetzen?

»Kein Problem. Ich wohne nicht weit weg von hier.« Trotzdem fühle ich mich schuldig.

»Ich sollte jetzt aber langsam gehen«, flüstere ich und versuche aufzustehen, schwanke.

»Soll ich dich begleiten?«, fragt Damien höflich. Doch ich lehne ab. Ich gehe natürlich nicht direkt nach Hause. Er soll nur nicht sehen, wohin mich mein Weg um diese Uhrzeit tatsächlich noch führt. Wir verabschieden uns flüchtig.

»Vielleicht sieht man sich ja mal wieder, Helena!«, ruft er mir hinterher, als ich schon wieder in meinen Gedanken versunken bin.

Ich gehe den Weg entlang, Beine und Hände schmerzen. Aber ich gehe weiter. Es gibt weitaus Schlimmeres als Schmerzen. Schmerzen werden völlig überbewertet. Zwang ist zum Beispiel schlimmer. Oder Angst. Oder Todesangst. Wobei Tod schon wieder erträglich wäre. Als ich realisiere, was mir da durch den Kopf geht, weiche ich innerlich noch ein Stück weiter vor mir selbst zurück.

Am Wegrand fallen mir drei einsame Kornblumen ins Auge, die meine Finger ganz von allein pflücken. Mit Sicherheit hat Oma schon eine Weile keine frischen Blumen mehr bekommen.

Die Gänsehaut, die mir das Quietschen der Tür über den Rücken gejagt hat, spüre ich immer noch. Jetzt ist es schon fast vollständig dunkel. Erschöpft lege ich mich ins Gras neben den großen, schwarzen Stein. Eigentlich mag ich weder Dunkelheit noch Nacht noch Kälte, aber heute lassen sich alle drei Dinge einfach nicht vermeiden.

»Hallo«, flüstere ich. »Ich hab dir Blumen mitgebracht.« Ich schlucke die Tränen herunter, die meine Fassade durchbrechen wollen, weil Oma nicht antworten kann. Weil sie mir nicht zum Geburtstag gratulieren kann und sie mich allein gelassen hat. Ich bin ihr keinesfalls böse, bin nur traurig. Es ist okay, dass alle meinen Geburtstag vergessen, aber es ist absolut nicht okay, dass so liebe Menschen wie Oma einfach aus ihrem Leben gerissen werden. Oma hat mich immer aufgefangen. Seit sie weg ist, falle ich. Und ich falle und ich falle. Es ist zwecklos, vor dem Abgrund zu fliehen. Ich bin doch mittendrin!

Keiner hört mich, als ich zu Hause durch die Tür schleiche und in mein Zimmer verschwinde. Keiner darf mich sehen. Ich setze mich auf mein Bett und schaue die Tür an, weiß gar nicht, ob ich sie abgeschlossen habe. Ein Zittern durchjagt meinen Körper vor Kälte. Ich habe lange im Gras gelegen. Jetzt ist es schon nach zehn. Morgen ist ein ganz normaler Schultag. Zumindest sollte ich da hingehen. Gerade, weil ich heute schon nicht dort war, sondern den Tag auf dem Dach verbracht habe. Kurz denke ich darüber nach, wie ich eigentlich auf die Idee gekommen bin, dort oben auf der Mauer entlangzulaufen. Es ist ein ganz gewöhnliches Wohnhaus mit vielleicht zehn Stockwerken. Es gibt sogar einen Fahrstuhl, aber der ist schon defekt, seit ich das Gebäude kenne. Die Wohnungen in den letzten drei Etagen sind nicht bewohnt, weil niemand so viele Treppen steigen will. Ich glaube, ich habe irgendwann einfach gedacht, dass man bestimmt auf das Dach kommt. Und es war tatsächlich so. Der Rest hat sich ergeben.

Zehn Minuten später stehe ich vor dem Kleiderschrank. Ich muss Duschen. Auch wenn ich heute besonders ungern mein Zimmer verlasse, weil ich den anderen Menschen, die hier wohnen, nicht wirklich gern begegne. Doch was bleibt mir anderes übrig, als dieses Risiko einzugehen. Ich kann mich nicht permanent hier verstecken. Also schnappe ich meine Sachen und laufe so schnell und so vorsichtig, wie ich kann, den Flur entlang. Ich habe es fast geschafft, als ich hinter mir eine Tür aufgehen höre.

»Hellie, warte mal!« Ich will Tylers Stimme heute bitte nicht hören, verschwinde hektisch im Badezimmer und schließe die Tür ab. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Sonst bin ich immer für ihn da, doch dafür habe ich in diesem Moment wirklich keine Energie. Vielleicht ... will er mir auch nur mein Geschenk überreichen, mich herzlich in den Arm nehmen und mir gratulieren. Vielleicht ist er ja heute mein ganz normaler großer Bruder. Fürsorglich und pflichtbewusst. Als ich in den Spiegel schaue, muss ich tatsächlich über mich selbst lachen.

Ich koche mich selbst unter dem heißen Wasser. Das ist sie einzige Strategie, die verhindert, dass ich zu schmerzhafteren Mitteln greife. Auch diesmal mildert es den Druck, der sich in mir schon den ganzen Tag über aufgebaut hat. Zumindest so lange, bis mein Blick doch auf die vielen Linien trifft. Fast alle verheilt. Bis auf fünf. Ich habe es ja versucht, aber manchmal hilft es mir auch nicht, mir brühendes Wasser über den Rücken laufen zu lassen, wenn meine Seele Blut sehen will. Mit diesem Gedanken flüchte ich in mein Zimmer und schließe die Tür hinter mir sorgfältig ab. Ich fühle mich nicht sicher. Nirgendwo in diesem Haus. Noch nicht einmal, wenn ich allein bin. Doch ich muss damit zurechtkommen, weil ich mich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag kochen kann.

Meine innere Unruhe lässt mich auch in dieser Nacht nicht tief schlafen. Ich muss immer wieder daran denken, dass ich hier nicht zur Ruhe kommen kann. Ich bin ein Fluchttier, eine Antilope, die stets und ständig auf der Hut sein muss.

Als mein Wecker losschellt, schlage ich die Augen auf und stelle fest, dass ich eigentlich schon lange wach bin.

»Ich habe dich gestern gar nicht nach Hause kommen hören«, stellt meine Mutter fest, als ich zum Frühstück in die Küche komme. Sie hat immer noch gar nichts dazu gesagt, dass ich gestern sechzehn Jahre alt geworden bin. Sie haben es tatsächlich alle vergessen. Nicht, dass ich daran irgendwelche Zweifel gehabt hätte, aber ein wenig Hoffnung hatte ich schon.

»Hellie, kannst du nächstes Mal bitte erst ins Wohnzimmer kommen und uns sagen, dass du da bist, bevor du dich in deinem Zimmer einschließt?« In Dads Stimme liegt ein grantiger Unterton, den ich gekonnt ausblende. Er ist eigentlich nicht wirklich sauer, sondern nur immer noch verwirrt, dass ich mein Zimmer so verbarrikadiere. Wenn überhaupt bin ich es, die verärgert sein dürfte – nur ich! Das weiß meine Familie aber nicht, weil sie vergessen haben, dass ich da bin, obwohl ich direkt neben ihnen sitze.

»Helena, wenn du heute Nachmittag aus der Schule kommst, müssen wir uns mal unterhalten«, erklärt Mom. Unterhalten. Warum? Warum große Worte wechseln, wenn sie der nonverbalen Komponente eh widersprechen werden?

»Okay«, sage ich nur. »Worum geht’s?«

»Das besprechen wir dann.« Hoffnung keimt in mir auf. Es ist ein absonderlicher, kleiner Wunsch, der sich sowieso nicht erfüllen wird. Der aber ausreicht, dass mich meine Beine wenig später zur Schule tragen.

Ich habe nicht viele Freunde oder Leute, die sich mit mir sehen lassen. Ich bin die Unbekannte mit den schwarzen Haaren aus der letzten Bankreihe, mit der kaum einer ein Wort wechselt. Eigentlich nehme ich mich nicht bewusst aus den Gesprächen heraus. Aber es spricht keiner mit mir und deshalb habe ich es auch nicht nötig, den Mund aufzumachen. Die Einzige, die bemerkt, dass ich heute überhaupt zum Unterricht erscheine, ist Madison Roland, die auf dem Platz vor mir sitzt.

»Helena! Du bist ja wieder da. Warst du krank?« Ich mag ihre flötende Stimme nicht, obwohl Madison eigentlich wirklich nett ist. Ich bin eine Antilope. Der Gedanke ist plötzlich wieder da, sodass ich nicht antworten kann. Ich bin ein Fluchttier. Ich habe gelernt, mit offenen Augen zu schlafen. Nirgendwo bin ich in Sicherheit. Ich unterdrücke das Bild in meinem Kopf genauso wie den Reflex, aufzustehen und das Klassenzimmer zu verlassen.

»Helena ...« Ohne dass ich sie bemerkt habe, steht mein Lehrer Mr. Owland plötzlich neben mir.

»Ja?« Ich zwinge mich, ihm in die Augen zu sehen, halte es dann aber doch nicht aus und starre wieder auf meinen Tisch.

»Du hattest gestern Geburtstag. Alles Gute.« Er reicht mir seine Hand. Gedankenlos schüttele ich sie, bevor wir nahtlos zur Mathestunde übergehen. Zahlen sind meine Freunde, auch wenn ich keine Einserschülerin bin. Ich mag Gleichungen und Funktionen und alles, was einen genauen Wert und einen festen Rahmen hat. Zahlen sind nicht relativ, Zahlen sind nicht subjektiv. Zahlen lassen nicht zu, dass irgendetwas Unerwartetes passiert. Sie haben Hand und Fuß und Regeln. Mein Leben hat keine Regeln und ich mag prinzipiell erst einmal alles, was sich von diesem unterscheidet.

»Stimmt ... ich glaub, ich hab dir bei Facebook gratuliert.« Madison dreht sich kurz um, aber ich mache mir nicht die Mühe, aufzublicken. So geht dieser Schultag schließlich vorbei, hinterlässt eine Spur aus Antriebslosigkeit und Schwermut, die ich auf dem Heimweg hinter mir her schleife.

Mom empfängt mich mit geschlossenen Armen, als ich zur Tür hereinkomme. Sie ist nicht der Typ Mutter, der seinen Kindern die endlose Zuneigung durch pausenloses Umarmen zeigt. Abgesehen von meiner Schwester natürlich. Man kann Evelynne nicht mit Tyler und mir vergleichen und ihre Beziehung zu Mom deshalb genauso wenig.

»Auch erst mal Hallo.« Ich will schon wieder verschwinden, mich oben einschließen. Für den Rest meines Lebens, doch das ist wie immer chancenlos.

»Wir müssen mal reden. Deine Lehrerin hat gestern bei uns angerufen. Warum bist du nicht zur Schule gegangen?« Erwischt, das war’s. Ich hätte wirklich lieber springen sollen. Wenn meiner Mutter die Zügel über irgendetwas aus den Händen rutschen, dreht sich ihre Haltung zu mir um einhundertachtzig Grad. Was vorher als völliges Desinteresse zu beschreiben war, verwandelt sich in blanke Kontrollsucht.

»Vielleicht habe ich es vergessen«, sage ich trocken. Ich bin eine Schulschwänzerin. Das steht außer Frage. Aber ich komme aus dieser Sache nur wieder raus – und schnell genug heraus -, wenn ich den Spieß umdrehe. Nur so kann ich verhindern, dass sie mir ihre durchaus vernünftigen Argumente vor die Füße wirft.

»Wie meinst du das?«, will Mom ungläubig wissen.

»Vielleicht habe ich genauso vergessen, zur Schule zu gehen, wie ihr meinen Geburtstag.« Ein letzter eisiger Blick, dann stehe ich auf, lasse meine Mutter völlig entgeistert im Wohnzimmer sitzen. Eins zu null für mich. Eins zu null für die Gegenseite, weil ich selbst nicht hinter mir stehe. Der Ball prallt an der Glaswand ab, hinterlässt nur einen winzigen Riss, der schneller wieder zuwächst, als dass er sich vergrößern kann. Unglaublich, was ich für ein Talent habe, mich aus der Affäre zu ziehen. Ich habe gelernt, die wenigen Worte, die ich benutze, so anzusetzen, dass ich nicht gezwungen bin, in irgendeiner Art sozial zu sein. Ich bin nicht sozial, bin nicht gern unter Leuten. Leute sind gefährlich, alle gleich. Ich schließe mich da selbst nicht aus.

Vor meine Zimmertür habe ich meinen Schreibtisch gezerrt. Keiner darf hier rein. Ich bin nicht sicher, kann es in diesem Haus niemals sein. Ist meine Zimmerdecke wirklich so weiß? Das ist mir noch nie wirklich aufgefallen. Ich liege auf meinem Bett, regungslos, ich bin völlig außer Atem, aber ich weiß gar nicht warum. Ich bin eigentlich immer träge. Draußen klopft meine Mutter an die Tür.

»Helena? Können wir reden?«

»Nein«, will ich sagen. »Nein, ich rede nicht mit dir. Weil du meine Sprache nicht sprichst. Weil kein Mensch dieser Welt in der Lage ist, meine Sätze zu entschlüsseln. Hinter jedem Wort verbirgt sich nur eine einzige Botschaft. Und weil du die nicht hörst, obwohl sie ein so lauter Schrei ist, rede ich nicht mit dir. Mit niemandem.« Aber ich sage gar nichts. Ich liege nur auf meinem Bett und sehe verlassen nach oben – schwitzend und frierend zugleich.

So verlasse ich mein Zimmer auch für den Rest des Tages nicht und ziehe mir irgendwann die Decke über den Kopf.

Dad kommt, ruft meinen Namen. Er entschuldigt sich bei mir. Eve kommt, bringt ihre lächerliche Ausrede an, warum sie mich vergessen hat: zu viel Stress wegen der Vorbereitung für das Casting, das demnächst ansteht. Und als Tyler kommt, schlage ich die Decke zurück, reiße die Nachttischschublade auf, schiebe meinen Ärmel hoch und fange an zu zeichnen. Ich esse heute nichts, ich trinke nichts. Erst als alle schlafen, traue ich mich aus meiner Höhle und verriegele das Badezimmer von innen.

Es ist Nachmittag. Die Schule habe ich schon überstanden. Aber auch wenn ich im Englischtest der letzten Woche als Klassenbeste abgeschlossen habe, fühle ich mich nicht wirklich besser. Alles ist schwer, zieht sich in die Länge und ich kann das Ende nirgendwo entdecken. Auf dem Dach des alten Wohnhauses lasse ich die Beine über dem Abgrund baumeln. Ich bin so gern hier oben. Hier gehört die Kontrolle m i r a l l e i n. Ich habe mein ganzes Leben selbst in der Hand. Es ist unmöglich, nach Hause zu gehen. Mom und Dad werden nicht da sein. Seit mir heute Mittag der Begriff »Betriebsfeier« durch den Kopf geschossen ist, hören meine Hände nicht auf zu zittern. Ich werde den ganzen Abend allein sein. Mit Evelynne und Tyler. Nein, nur mit Tyler, weil Evelynne sich völlig ihrem Training hingibt. Evie ist der Star der Familie. Tyler ist die Flamme und ich bin die Asche, nahezu von beiden zu gleichen Teilen verbrannt. Dad ist das Wasser, das immer zu spät kommt und Mom ist in den meisten Fällen Spiritus, der alles noch ein wenig aufpeitscht. Mir fehlt die löschende Decke. Warum also springe ich nicht? Was hält mich davon ab, mich freizumachen von all diesen Dingen, die ich nicht beeinflussen kann. Gründe habe ich mehr als einen. Niemand bis auf Tyler würde mich wirklich vermissen. Ich lege mich rücklings auf den kalten Steinboden, winkle meine Beine an. Der Himmel ist blaugrau, sieht irgendwie traurig aus. Es kommt mir beinahe so vor, als würden mich die grau melierten Wolken wie verzweifelte Augen anschauen.

»Oma«, denke ich. »Wo bist du?« Es gab eine Zeit, da ging es mir noch gut. Da war alles okay. Mit jedem Tag verschwindet diese Erinnerung mehr, wird vertrieben von der Gegenwart.

Es gibt zu viel, was ich sagen müsste, was ich ans Licht bringen sollte. Irgendwie von meiner Sprache in die andere übersetzen müsste. Ohne Wörterbuch. Ich habe keine Vokabeln gelernt. Prüfung ohne Aussicht auf ein passables Ergebnis. Ich falle durch. Immer wieder.

Meine Gedanken wandern zu meinem Bruder, der jetzt zu Hause sitzt und wartet, dass ich komme und ihn tröste. Ich bin drei Jahre jünger als er. Theoretisch müsste es umgekehrt sein, denn ich bin doch die kleine Schwester. Er sollte mich beschützen. Schon ganz früh haben wir diese Rollen getauscht.

Und dann weiß ich, warum ich nicht springe. So sehr ich mich auch selbst davor zu schützen versuche, ich kann diesen Tausch nicht mehr rückgängig machen. Ich kann Tyler nicht hassen. Weil wir unsere eigene Familie sind. Auch wenn ich davon nichts spüren kann, ist es dennoch meine Aufgabe, ihm dabei zu helfen, dass sich seine Welt nicht ebenso verdunkelt. Wir haben diesen Deal niemals ausgemacht, haben niemals geschworen, uns daran zu halten. Er tut es auch nicht, aber er ist in manchen Momenten wie in diesem das Einzige, was mich noch hält.

Als es dunkel wird, liege ich immer noch auf dem kühlen Beton, fixiere den Himmel und überhöre mein klingelndes Handy. Ich weiß, wer das ist, aber ich reagiere nicht. Nicht jetzt. Es reicht, wenn ich später nach Hause gehe. Ich bin seine Schwester, vielleicht auch seine Seelentrösterin, doch ich habe meine Grenzen und es ist keinem geholfen, wenn ich diese noch weiter überschreite. Gedankenverloren verlasse ich meine kalte Festung, schlendere die Treppen herunter, irre durch den Park. Ich überlege, ob ich zu Oma gehe, aber ich lasse es dann, es ist kalt. Irgendwann setze ich mich in ein Café, bestelle einen Cappuccino nach dem anderen, solange bis mir die grimmige Kellnerin mitteilt, dass Ladenschluss ist. Es ist kurz nach zehn. Wie lange dauert so eine Feier wohl? Wie ich Dad kenne, wird er gekonnt übersehen, wie meine Mutter ihn wortlos auffordert, endlich zu gehen. Sie hasst Betriebsfeiern, weil sie eine schlechte Lügnerin ist und auf die Frage, als was sie denn arbeite, immer mit der ernüchternden Wahrheit antworten muss. Dass sie nur eine Halbtagsstelle in einer Unterwäscheboutique hat. Eigentlich hat sie Design studiert, bewirbt sich fleißig bei zahlreichen Werbeagenturen. Doch bisher ohne Erfolg. Indirekt arbeitet sie sowieso nur als Managerin meiner Schwester und treibt den Plan von der großen Karriere voran. Neben Dad, dem aufstrebenden Anwalt, der bis in die Nacht in seiner Kanzlei bleiben muss, damit er sein Arbeitspensum erreichen kann, wirkt Mom weniger ansehnlich.

Ungefähr zwei Stunden später tragen mich meine Füße dann doch zu unserem Haus. Das Licht ist aus. Ich muss mich jetzt stellen. Noch nie habe ich mich gegen meine Aufgabe zu wehren versucht, aber ich weiß, dass es nichts bringt. Nur vergeudete Kraft. Also fange ich gar nicht erst damit an.

Als ich die Tür aufschließe, geht die Lampe im Flur plötzlich von selbst an.

Halb eins morgens: Ich bin todmüde, habe noch nicht mal mehr Angst. Und als Tyler mit seinem doch ekelhaften Grinsen um die Ecke kommt, will ich noch nicht mal mehr eine Antilope sein.

Später im Bett liegend sind meine müden Augen bereits zugefallen. Um der erniedrigenden Erinnerung zu entgehen, stelle ich mir vor, wie ich ins Zimmer meines Bruders schleiche und ihm still und heimlich ein Kissen aufs Gesicht drücke.

Drei Tage später: Ein unscheinbarer Samstag.

Es hat sich nicht viel geändert. Oder vielleicht doch: Ich habe eine Verabredung. Im Prinzip nichts Großes. Für mich schon.

Ich komme nicht oft unter Menschen. Wenn Madison mich nicht eingeladen hätte, würde ich jetzt vermutlich zu Hause sitzen und vor mich hin starren. Weil ich mich sonst zu nichts anderem aufraffen kann. Ich weiß noch nicht einmal, wessen Geburtstagsparty das überhaupt ist, habe einfach zugesagt. Kommentarlos genickt, teilnahmslos, aber mit dem Gedanken an den kleinen Lichtblick, der sich auftut. Jetzt hänge ich mit drin und stehe im Bad vorm Spiegel, schaue Helena in die eisblauen Augen. Sie will nicht wegschauen, also wende ich mich meinen Haaren zu. Ein riesiger schwarzer Busch, der mir vor die Augen fällt, als wolle er, dass ich mein Abbild nicht ansehe. Normalerweise lasse ich ihn einfach so. Dann erkennt mich keiner. Dann kann ich mich besser verstecken, heute jedoch versuche ich, ein bisschen mehr aus mir zu machen. Das ist eine Chance, erinnere ich mich. Das ist die Chance, einen Abend ohne meine Familie zu verbringen: Ohne meine vielseitig beschäftigten Eltern. Ein Abend ohne Evelynne, meine ballettsüchtige Schwester. Wobei sie eigentlich süchtig ist nach allem, was ihr Anerkennung verschafft. Und ein Abend ohne Tyler. Weil er die letzten beiden Tage so scheinheilig freundlich zu mir war, vermute ich, dass er heute spätestens den Hammer fallen lässt. Und er kommt mit sehr viel Schwung und Zorn auf mich zugeflogen. Ich sehe es regelrecht vor mir, wie Tyler mein Zimmer betritt, den riesigen Eisenklotz mit beiden Händen um seinen Körper kreisend. Beinahe fange ich an zu weinen, doch dann höre ich Evies Stimme unten im Flur: »Hellie, Madison ist da!«

»Find ich echt cool, dass du so spontan mitkommst. Suzan freut sich über jeden.« Wir sitzen im Auto, Madison fährt. Den Gedanken, warum sie einen Führerschein hat, verwerfe ich schnell wieder, um unnötige Unruhe zu vermeiden.

»Ich dachte mir, warum nicht?«, lächele ich. Aus Vorfreude, die sich in mir ausbreitet und meine Kälte zurückdrängt.

»Tut dir bestimmt mal gut. Und die sind auch alle ganz nett.« Maddie sieht hübsch aus. Sie hat ihren blonden kinnlangen Bob recht frech geföhnt und sieht jetzt irgendwie aus wie eine Elfe. Das elegante schwarze Minikleid passt gar nicht dazu. Ich frage mich, ob ich passend angezogen bin. Mein Kleid ist blau. Es ist das dunkelste Blau, das ich je bei einem Stoff gesehen habe, schimmert leicht. Eve hat es mir geschenkt. Ich glaube letztes Jahr zu Weihnachten und heute hat es Premiere, denn ich habe es noch nie vorher getragen. Ich erschrecke, als Madison plötzlich das Radio aufdreht und den Song laut mitsingt:

»What is love? Baby, don‘t hurt me, no more«

Ich muss lachen, als sie mich ansingt und ihren Kopf dabei bewegt wie ein Huhn. Ich kenne das Lied, natürlich, wer nicht. Ab sofort wird es mich auf ewig an diesen Tag erinnern, ewig mit ihm in Verbindung stehen. Das ahne ich schon jetzt. Hoffentlich enttäuscht mich mein Schicksal nicht. Alles ist besser als negative Flashbacks.

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