Czytaj książkę: «Schärengrab»

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

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ISBN 978-3-8271-8369-9

Carsten Schütte

Schärengrab

Ein Profiler-Thriller


Für Jörg


Profiler gibt es im Fernsehen – die Operative Fallanalyse (OFA) im wahren Leben, denn sie ist viel mehr als das Erstellen eines Täterprofils.

Carsten Schütte, seit 2016 Leiter der OFA Niedersachsen, weiß, wovon er schreibt:

40 Dienstjahre bedeuten vielseitige Erfahrungen in verschiedenen Polizeibehörden. In den 90er-Jahren entdeckte Schütte seine dienstliche Leidenschaft: die Ermittlungen im Bereich der Tötungs- und Sexualdelikte.

Sein beruflicher Weg brachte ihn über Fachkommissariate für Kriminaltechnik und Kapitaldelikte im Jahr 2002 in das noch relativ unbekannte Fachgebiet der Operativen Fallanalyse des LKA Niedersachsen. Über mehrere Jahre hat er sich beim BKA zum polizeilichen Fallanalytiker ausbilden lassen. Das medial geprägte Bild eines Profilers als Kaffeesatz- und Glaskugelleser ist im Laufe der Jahre durch methodisch seriöse und akribische Arbeit der OFA als nunmehr selbstverständliches Instrument der Ermittlungsunterstützung etabliert.

Carsten Schütte beschreibt im Kriminalroman „Im Fokus“ die Arbeit des Leiters der OFA Niedersachsen, Thorsten Büthe, und lässt den Leser eine fiktive Geschichte mit vielen autobiografischen Anteilen hautnah erleben.

Schütte wurde 1960 in Hannover geboren, hat zwei erwachsene Töchter und lebt mit seiner Frau in einem Vorort von Hannover.

Prolog

Niemand konnte ahnen, was passieren würde … Ein Messer war scharf … Es schnitt durch Haut ins Fleisch und ließ das Blut fließen … Das Böse fragte nicht nach Zeit und Ort, wenn es sich manifestierte … Niemand sollte sich je in Sicherheit wiegen …

Ein blutiges Messer war das Einzige, an das sich der Profiler Thorsten Büthe noch erinnerte als er aus seinem Albtraum aufwachte und in die entsetzten Augen seiner Frau Vicci schaute. Er musste wohl im Schlaf gestöhnt haben. Auch wenn er es selbst nicht wahrhaben wollte, manches ließ auch ihn nicht unberührt. Seinen Kollegen Kristin, Nina, Carlotta, Maik und Thomas ging es ähnlich. Doch jeder verarbeitete das Grauen anders.

Die Morde des Pelikans hatten im Team der Operativen Fallanalyse des LKA Niedersachsen Spuren hinterlassen. Wie nach allen abgeschlossenen Einsätzen war die Unterstützung der Soko Pelikan unter den Fallanalytikern nachbereitet worden. Nur so konnte intern selbstkritisch reflektiert werden, ob sie methodisch korrekt vorgegangen waren und die Entwicklung dieses Falles vor dem letztendlich grausamen Showdown hätten absehen können.

Aber das, was sich im Inneren der Ermittler abspielte, musste niemand nur mit sich selbst ausmachen. Manches war schwer zu ertragen. Gerade bei Serientätern schmerzte es, wenn sie nicht schnell genug waren, um weitere Taten zu verhindern.

Das Profilerteam um Thorsten Büthe musste sich eingestehen, dass es von hellseherischen Fähigkeiten weit entfernt war. Niemand hatte diese Dynamik des Falles wegen der psychopathologischen Täterpersönlichkeit zu erkennen vermögen, vor allem weil sie es mit Insiderkenntnissen zu tun gehabt hatten. Schlussendlich mussten sie sogar resümieren, dass alles noch viel schlimmer hätte kommen können.

Solche Erfahrungen und Einblicke in die Abgründe grausamer Gewalttaten brannten sich individuell in die seelische Festplatte eines Ermittlers und Profilers ein. Jeder neue Fall brachte das Team an den Rand des psychisch Ertragbaren. In Supervisions- und Coachingrunden war es darum immer wieder Thema, eine Möglichkeit zu finden, wie ein traumatischer Blackout verhindert werden konnte. Es stellte sich die Frage, wie jeder im Profilerteam in der Lage war, ein Ventil zu finden, um aus diesem Fass voller grausamer Erlebnisse, Erinnerungen, Bilder und Gerüche ein paar Milliliter abzulassen. Dem täglichen neuen Tropfen musste Platz geschaffen werden, damit das Überlaufen vermieden werden konnte.

Die Fachleute rieten zu Regenerationsphasen. Wie aber sollte das funktionieren, wenn sexueller Missbrauch, Vergewaltigungen, Tötungen in all ihren Facetten Jahrzehnte zum Berufsalltag gehörten? Die Arbeit in der OFA basierte zudem auf Erfahrung. Jede neue Tat, jeder Täter war derart individuell, dass die Profiler weder nach festgeschriebenen Tätertypologien noch in ihren Analysen mit hypothetischen Schlussfolgerungen an ihr Ziel gelangten. Die Taten und Täter, mit denen die Fallanalytiker der OFA konfrontiert wurden, hatten zumindest mit deren Logik wenig zu tun. Gab es ein Normalitätskonzept logischen Handelns? Selbst im alltäglichen Zusammenleben war sozial konformes Verhalten vom Zeitgeist der jeweiligen Gesellschaft abhängig und veränderte sich täglich. Die Vergewaltiger und Mörder agierten jedoch völlig unabhängig von jeglicher sozialer Konformität und setzten ihre eigenen sexuellen Fantasien und jene mit Gewalt in derart vielseitigen Facetten um, dass sie oft selbst die Vorstellungskraft erfahrener Mordermittler sprengten. So makaber es war, jeder neue Tag erweiterte den fachlichen Horizont dieser Ermittler und Profiler in der unendlichen Galaxie menschlicher Abgründe.

In der Operativen Fallanalyse waren dienstliche Regenerationsphasen weder vorgesehen noch umsetzbar. Der Abfluss des Ertragbaren öffnete sich bei jedem Teammitglied individuell durch kleine Fluchten.

Das konnte eine Familie, ein Freundeskreis sowie ein sonst intaktes soziales Umfeld, ein Hobby oder eine Leidenschaft sein, die zumindest temporär einiges des dienstlich Erlebten abfließen ließen. Man wusste nur leider nicht wohin, denn verdunsten würde es nie. Wie sollte es auch?

Nach vielen belastenden Fällen hatte das Team der OFA Niedersachsen mit Einverständnis der Familien beschlossen, einmal im Jahr gemeinsam auszubrechen und einfach mal abzuschalten. Sie begannen mit Wanderungen im Harz, Radtouren um den Gardasee und einer sportlich aktiven Woche auf Mallorca.

Während eines Einsatzes auf einem Kreuzfahrtschiff, das die Kanaren bereiste, war die Idee entstanden, eine solche Fahrt zur Entspannung einzuplanen.

Das OFA-Team hatte vor Jahren eine Vertretungskooperation für solche Abwesenheitszeiten mit der OFA Bremen abgestimmt, sodass mögliche dringliche Fälle von einer anderen Einheit übernommen werden konnten. Überhaupt galt es als Philosophie der bundesweiten OFA-Dienststellen von Beginn an vereinbart, dass sich sämtliche Bundesländer gegenseitig sowohl fachlich als auch personell unterstützten.

Für dieses Jahr hatten sie daher eine zehntägige Kreuzfahrt nach Norwegen gebucht, um die kulinarischen Reize eines modernen Schiffes in Kombination mit vielseitigen Landausflügen zu genießen. Sie freuten sich auf die geplanten Wander-, Mountainbike- und Segwaytouren, die sie durch die einzigartigen Landschaften Norwegens führen sollten.

So war zumindest der Plan, es kam jedoch ganz anders.

Kapitel I

Einschiffen in Hamburg

Am Freitag legte die „Norwave“ um 18 Uhr in Hamburg ab. Das OFA-Team hatte beschlossen, individuell anzureisen und sich erst auf dem Schiff zu treffen.

Thorsten und seine Frau Vicci waren echte Hamburg-Fans. Sie reisten bereits am Donnerstagabend an, um die Nacht und den angebrochenen Freitag noch in der Hansestadt zu verbringen. Wie immer hatten sie ein Zimmer in ihrem Lieblingshotel, dem „Kleinen Schwarzen“ in Eimsbüttel gebucht. Das geschmack-

volle Reihenhaus lag inmitten eines Wohngebietes. Hier genossen sie während ihrer Besuche in Hamburg den Aufenthalt in einem der nur sieben Zimmer mit wechselnden Kunst- und Fotoausstellungen. Büthes gönnten sich abends die kulinarischen Leckereien in der Bullerei von Tim Mälzer. Dort verpflichtete nicht nur der Name des angesagten Restaurants den Profiler aus Hannover zu einem Besuch.

„Ich freue mich für dich, dass du ein paar Tage mit deinen Kollegen ausspannen kannst“, sagte Vicci. „Ich hoffe, ihr erholt euch alle gut und gewinnt ein bisschen Abstand zum Arbeitsalltag“.

„Schade, dass du nicht mitkommen kannst“, antwortete Thorsten und trank einen Schluck Rotwein. „Das würde mir noch viel besser gefallen. Wie gerne hätte ich Norwegen mit dir zusammen entdeckt. Immerhin waren wir beide noch nicht da.“

Vicci lächelte. „Was nicht ist, kann ja noch werden. Du guckst schon mal, ob das was für uns beide ist, und dann buchen wir demnächst gemeinsam eine Reise in das Land der Fjorde und Trolle. Allerdings würde ich gerne auch noch nach Spitzbergen und Island fahren. Wenn man schon mal so hoch im Norden unterwegs ist, will man auch möglichst viel sehen.“

„Gerne, mein Schatz. Ich verspreche dir hiermit hoch und heilig, dass ich dir diesen Wunsch erfüllen werde.“ Thorsten legte sein Besteck zur Seite. Sein Rinderfilet war hervorragend gewesen. „Eigentlich wollte ich dich zwar mit einer Fahrt ins Mittelmeer überraschen, aber das können wir später immer noch machen. Wer weiß, wie lange man in den Geirangerfjord noch einfahren darf. Soweit ich weiß, wollen die Norweger da demnächst aus umwelttechnischen Gründen einen Riegel vorschieben.“

„Ach, da mach dir mal keine Gedanken, die Kreuzfahrtschiffe, die mittlerweile im Bau sind, werden immer umweltverträglicher“, erklärte Vicci. „Ich habe kürzlich einen Bericht gesehen.“

„Wahrscheinlich hast du recht. Die ,Norwave‘ ist übrigens bereits ein Schiff, das ausschließlich mit flüssigem Erdgas betrieben wird“, sagte Thorsten.

„Das finde ich super“, erwiderte Vicci und faltete ihre Serviette zusammen. „Dann kann man wirklich guten Gewissens eine so schöne Reise unternehmen, ohne sich Sorgen um die Natur machen zu müssen. Wir wollen ja auch an unsere Nachfahren denken.“ Vicci dachte dabei an ihre kleine Enkeltochter Ria, die noch in den Windeln lag.

Thorsten nickte.

Mit einem Absacker in einer kleinen Bar ließen sie den Abend ausklingen.

Am Freitagmorgen spazierten sie vom Hotel durch den Szenestadtteil Eppendorf zum Isemarkt, der für sie zum Pflichtprogramm jedes Besuches in Hamburg zählte. Nachmittags brachte Vicci ihren Mann Thorsten zum Anleger der „Norwave“, verabschiedete ihn vor dem Check-In an der Sicherheitsschleuse mit einer innigen Umarmung und einem Abschiedskuss. Sie war froh, dass er eine fast zweiwöchige Auszeit nehmen konnte. Nach der stressigen Analysephase im Pelikan-Fall mit dem Brautmörder, der bei den Profilern tiefe Spuren hinterlassen hatte, gönnte sie Thorsten und seinem OFA-Team diese hart verdiente Auszeit während der Kreuzfahrt nach Norwegen. Sie war sicher, dass sie alle entspannt und ausgeruht zurückkehren würden.

Die „Norwave“ lag am Kreuzfahrtanleger und war mit ihren fast 250 Metern Länge und einer Breite von etwa 30 Metern eher ein kleineres Schiff. Für die Norwegentour aber war sie ideal. Die „Norwave“ konnte sich mit ihrem Tiefgang von nur sieben Metern in den Felsformationen der Fjorde, den sogenannten Schären, gefahrloser bewegen als manch anderes Kreuzfahrtschiff, das tiefer und fast einen ganzen Fußballplatz länger war.Die „Norwave“ fuhr zwar unter norwegischer Flagge, ein neuer deutscher Reiseveranstalter versuchte sich jedoch aktuell mit perfektem Service und attraktiven Preisen am Markt zu behaupten.

Als sich Thorsten an die lange Reihe der wartenden Passagiere anstellte, konnte er von Weitem sehen, dass seine Kollegin Kristin Bäumer gerade die Sicherheitsschleuse durchlaufen hatte. Das Gepäck und die anreisenden Gäste wurden wie beim Zugang in den Sicherheitsbereich eines Flughafens intensiv durchsucht. Sicherheit spielte an Bord eines Kreuzfahrtschiffes eine wesentliche Rolle und wurde deshalb sehr ernst genommen. Nach der intensiven Taschen- und Personenkontrolle mussten sie sich noch zweimal mit ihrer Bordkarte ausweisen, bevor sie das Schiff auf Deck drei betreten konnten und mit dem Einscannen am letzten Security-Point als „Passagier an Bord“ registriert wurden.

Kristin teilte sich eine Balkonkabine mit Nina Bachmann. Der Bandleader Maik Holzner hatte sich mit dem begnadeten Tennisspieler und Vorsitzenden seines Vereins, Thomas Schulte, ebenfalls eine Balkonkabine gegönnt. Die LKA-Psychologin, Carlotta Bayer-Westholdt, und Thorsten Büthe mussten tiefer in die

Tasche greifen und hatten jeweils eine Einzelkabine mit Meerblick gebucht. Denn wer will sich schon mit einer Psychologin bzw. seinem Chef eine Doppelkabine teilen?

Die Kapazität der „Norwave“ fasste bei Vollbesetzung 2.150 Passagiere plus etwa 600 Besatzungsmitglieder. Im Vergleich zu den größten Kreuzfahrtschiffen, der „Symphony of the Seas“ und der „Harmony of the Seas“ mit jeweils über 6.000 möglichen Gästen, stellte sie fast schon einen intimen Kreis dar. Auf der Meyer-Werft wird für den asiatischen Markt aktuell ein beeindruckendes Hotel auf dem Meer für 9.500 Kreuzfahrer gebaut, welches diese Dimension deutlich überschreiten wird.

An Bord hatte Thorsten die Ausmaße des Schiffes trotzdem unterschätzt. Er musste sich erst orientieren, bevor er seine Meerblickkabine 5131 auf Deck fünf fand. Carlotta war auf der gegenüberliegenden Seite und der Rest des Teams in den Balkonkabinen auf Deck sieben untergekommen.

Die Einzelkabine war mit 14 Quadratmetern nicht gerade großzügig, jedoch so geschmackvoll und planvoll gestaltet, dass alles seinen Platz hatte und gemütlich wirkte.

Thorsten Büthe legte seinen Koffer aufs Bett und packte aus. Da es hinsichtlich der Temperaturen auf der Reise sehr unterschiedlich sein würde, hatte er vorgesorgt und sich Outdoor-Kleidung besorgt, die sich nach dem Zwiebelprinzip für jede Witterung umgestalten ließ. Dünne, aber auch dickere Jacken aus Fleece oder Steppmaterial konnten in eine Oberschicht aus Goretex-Membran eingezippt werden. Das war überaus praktisch und nahm wenig Platz ein. Während er seinen Schrank einräumte, dachte er an Vicci. Er würde sie vermissen. Obwohl sie schon lange verheiratet waren, hingen sie doch sehr aneinander. Aber nun gut, wenn das Team erst einmal beisammen war, hatte er genug Ablenkung. Sein Handy plingte.

Nach und nach trafen Statusmeldungen über die WhatsApp-Gruppe des OFA-Teams ein, dass alle bis auf Nina an Bord waren. Die Profiler verabredeten sich um 17 Uhr, eine Stunde vor dem Auslaufen, in der „Fjord-Bar“. In den Reiseunterlagen war vermerkt, dass alle Passagiere bis spätestens 17:30 Uhr an Bord sein mussten. Nina hatte sich bislang nicht gemeldet. Anrufe auf ihrem Handy wurden mit der nervigen Ansage kommentiert, dass sie derzeit nicht erreichbar sei. Auf Nachfrage von Thorsten am Check-in-Terminal war Nina Bachmann noch nicht an Bord registriert. Alles wurde zum Ablegen vorbereitet.

Wie die meisten Passagiere begab sich auch das noch unvollständige OFA-Team an Deck und beobachtete das Treiben am Anleger. Der Tisch mit den Begrüßungscocktails wurde abgebaut. Hafenarbeiter warteten auf das Kommando, die riesigen Taue von den Pollern zu lösen. Sämtliche Tore der Vorkontrolle in den Anlegerbereich wurden gerade geschlossen, als von Weitem ein Van mit hoher Geschwindigkeit herannahte. Hätte es sich nicht um ein fast goldenes Elektroauto gehandelt, wären die hohen Drehzahlen des Motors bis auf die Decks wahrnehmbar gewesen. Der Moia-Fahrer bremste direkt vor dem Sicherheitstor scharf ab. Die Schiebetür öffnete sich leise und geschmeidig, als Nina Bachmann fast aus dem Van hechtete. Sie ergriff ihren Rollkoffer, sprintete auf das sich gerade schließende Gittertor zu und nutzte die letzte Lücke, um noch durchzuschlüpfen. Das Tor zum Check-In wurde wieder geöffnet, wobei die Profiler sahen, dass eine Mitarbeiterin der „Norwave“ in ihr Funkgerät sprach und Blickkontakt zur Brücke hielt. Nina konnte als letzte Passagierin einchecken und passierte die Sicherheitskontrolle, bevor die Gangway hochgezogen wurde. Das OFA-Team war nun vollzählig. Alle waren erfreut, dass es Nina gerade so eben noch als Letzte von 2150 Passagieren an Bord geschafft hatte.

Sie bekam kaum Luft, als sie von ihrem Urlaubsteam begrüßt wurde.

„Puuh, das war knapp. Ich habe den Feierabendverkehr an einem Freitagnachmittag in Hamburg wohl unterschätzt und erst jetzt feststellen können, dass auch ein Moia leider nicht fliegen kann.“

Thorsten verdrehte die Augen und grinste dann.

„Ich hab nix anderes erwartet“, sagte Maik Holzner.

„Tja, Chaos-Nina, wie immer“, fügte Kristin trocken hinzu.

„Nun hackt doch nicht so auf ihr rum“, schimpfte Thomas und zwinkerte ihr zu. „Wir haben alle unsere Macken.“

„Ihr schon, ich nicht“, behauptete die Psychologin Carlotta scherzhaft.

Ninas entzückende, etwas chaotische Eigenschaft, immer etwas spät dran zu sein, war dem Team nicht unbekannt. Alle waren froh, vollzählig in ein aktives, aber erholsames Abenteuer aufbrechen zu können.

Sie genossen das Ablegen in der Abendsonne bei einem leckeren Cocktail und dem „Norwave-Song“, der in ihnen bei jedem Auslaufen die Sehnsucht auf die hohe See und den nächsten Hafen voller neuer Impressionen wecken sollte.

Die ersten kulinarischen Eindrücke des maritimen Buffet-Restaurants waren sehr vielversprechend. Später wollten sich die Urlauber im Theatrium auf die Vorstellung des Schiffes und die Möglichkeiten an Bord während des ersten Seetages nach Norwegen einlassen.

Kapitel II

An Bord

Nach den Erfahrungen ihrer bisherigen Touren hatte das Team vereinbart, jedem Einzelnen entsprechenden Freiraum einzuräumen. Selbst während der Landgänge waren sie sich einig, ihre Ausflüge nicht zwangsläufig gemeinsam zu verbringen, sondern jedem den nötigen Gestaltungsspielraum nach seinen eigenen Interessen zu lassen. Sie wollten die Teambildungs- oder besser -erhaltungsmaßnahmen ja nicht übertreiben und genau das Gegenteil erreichen, dass man sich selbst im Urlaub nicht einmal zurückziehen konnte.

Zum gemeinsamen Essen kam das OFA-Team abends wieder zusammen und tauschte sich über die ersten Eindrücke an Bord aus. Vor dem Abendprogramm im Theatrium fand die obligatorische Sicherheitsübung statt, bei der sich nach einer Alarmierung sämtliche Passagiere mit angelegten Schwimmwesten an fest zugewiesenen Sammelpunkten einfinden mussten. Die Securityscouts scannten die Bordkarten jedes Gastes ein, um die Vollzähligkeit feststellen zu können. Anschließend wiesen sie die Kreuzfahrer in die Sicherheitsmaßnahmen eines echten Evakuierungsfalles ein. Alles wirkte professionell und straff organisiert, was in einem Ernstfall entscheidend war. Nach 30 Minuten war die Übung beendet. Die Passagiere fanden sich in den Restaurants, Bars und im Theatrium ein. Hier wurden der nächste Hafen samt vielen Informationen über Land und Leute und das vielseitige Ausflugsprogramm an jedem Abend vorgestellt.

Heute musste der Kapitän schon die erste Routenänderung bekanntgeben. Der erste Zielhafen im Eidfjord konnte nicht angefahren werden, da zwei Schiffe direkt in der Fahrrinne unter der Hardanger Brücke kollidiert waren. Ein Passieren dieses Bereiches war für ein Kreuzfahrtschiff dieser Größe momentan nicht möglich.

Nach Rücksprache mit den Hafenbehörden hatte man der „Norwave“ einen Liegeplatz in Oslo zugesagt, sodass die norwegische Hauptstadt von Hamburg nach einem Seetag direkt angefahren werden würde. Es sprach für die Professionalität der Crew, nun im Theatrium umgehend Ausflüge für die quirlige Stadt vorzustellen.

Das Profilerteam hatte sich im Vorfeld gemeinsam abgestimmt, das Angebot der organisierten Ausflüge anzunehmen.

Die Dimensionen in Norwegen waren so enorm, dass die Entfernungen und die Weitläufigkeit des Landes gerade von unerfahrenen Touristen wie dem OFA-Team kaum einzuschätzen waren. Wer hier nach seinem Ausflug zu spät zum Schiff zurückkam, war verloren. Für Oslo hatten sie sich aber auf einen Stadtbummel geeinigt, der in Eigenregie erfolgen sollte.

Während des ersten Seetages ließen sie es sich gut gehen, wobei sich Maik und Thomas im Fitnessbereich austobten. Nina und Kristin zogen es vor, im Spa-Bereich zu relaxen. Carlotta suchte sich vermutlich den einsamsten Platz auf dem Schiff und tauchte in der Bibliothek in ihre Urlaubslektüre ein, die sie mit Herz und Schmerz nach Südengland führte. Sie genoss die Ruhe und den Abstand zu allem Beruflichen. Im Gegensatz zu den jungen Partygängern im Team ließ sie sich früh am Abend durch die Wellen in den Schlaf wiegen und träumte die Liebesgeschichte aus Cornwall einfach weiter.

Thorsten war am Seetag fast rastlos mit seiner großen Nikon-Kamera auf Motivsuche. Er entwickelte einen Plan, wann das beste Licht zu erwarten war und welche Brennweite er für das jeweilige Motiv einsetzen konnte. Thorsten war in seinem Element als Fotograf und fernab der Dinge, die ihn in seinem Berufsalltag und oft auch darüber hinaus beschäftigten. Das Team hatte extra eine Reisezeit direkt nach den Sommerferien im August gewählt. So hatten sie die Hoffnung, die Reise bei recht gutem Wetter und angenehmen Temperaturen nutzen zu können. Thorsten versprach sich zu dieser Jahreszeit hervorragendes Fotolicht.

Die meisten Passagiere zückten ihre Handykameras und schossen Selfies und Fotos vom Schiff. Insbesondere an Deck war Thorsten mit der recht großen und schweren Nikon schon ein Exot. Einige Gäste hielten ihn für einen der agilen Bordfotografen, die technisch ähnlich ausgestattet waren. Ein Pärchen, welches diesem Irrtum wohl unterlegen war, sprach Thorsten auf ein spontanes Shooting an Deck an. Der erfahrene Hochzeitsfotograf machte sich einen Spaß daraus, stimmte zu, schlug ihnen ein paar passende Posen vor und schoss eine vielseitige Portraitserie. Auf die Frage der beiden, was sie ihm denn schuldig wären und wann sie die Fotos im Bordshop bewundern und abholen konnten, klärte Thorsten das Pärchen lachend auf.

„Sorry, ich bin auch nur ein ganz normaler Passagier. Es hat mir viel Spaß gemacht und wenn ihr mir eure Handynummer gebt, schicke ich euch die Fotos heute Abend per WhatsApp. Okay?“

Das Liebespaar war völlig überrascht, gab dem Fotografen bereitwillig seine Nummer und bedankte sich herzlich.

Auch anderen Passagieren war dieses Shooting nicht verborgen geblieben. Sie hatten davon teilweise Fotos und Videos angefertigt, was Thorsten überhaupt nicht aufgefallen war. Ein lückenloses Video über seine Aktion wurde abends in einer Kabine auf dem großen Flat- Screen-Monitor mehrfach angeschaut. Erst einmal, dann zweimal, dreimal und dann immer und immer wieder.

Der erste Seetag führte sie durch den 120 Kilometer langen Oslofjord in den Hafen der grünen Hauptstadt Norwegens. Sie war im Jahr 2019 zur Umwelthauptstadt Europas gewählt worden.

Sie passierten die Schären des Fjordes bei strahlendem Sonnenschein und milden 22 Grad. Neben der Landschaft faszinierten Thorsten Büthe die oft einsamen, aber kunterbunten Holzhäuser der Schärenlandschaft. Er war begeistert von diesen Motiven, gönnte sich aber auch fotofreie Minuten, um diese beruhigende Atmosphäre inhalieren und genießen zu können.

Beim Frühstück schmiedeten die Profiler ihre getrennten Pläne für den Stadtbummel in Oslo. Die Jungs hatten sich ein straffes Programm vorgenommen. Sie wollten sich unbedingt das Wikinger- und das „Fram Polarschiffsmuseum“ ansehen. Schließlich waren hier die am besten bewahrten Wikingerschiffe aus dem neunten Jahrhundert ausgestellt. Die „Fram“ war seinerzeit das stärkste Schiff der Welt und bei drei berühmten Polarexpeditionen eingesetzt worden. Weiter standen das Skimuseum und die Sprungschanze auf dem Programm, wobei Thomas unbedingt einen virtuellen Sprung vom Simulator erleben wollte. Maik hatte sich als Musiker das neue Opernhaus vorgenommen, welches direkt am Wasser lag und vom Glasdach herunter einen beeindruckenden Blick auf die Stadt und den Fjord bot.

Die drei Damen des OFA-Teams waren sich einig, in das junge Szeneviertel Grünerløkka einzutauchen. Hier fanden sie die traditionellen bunten Wohnhäuser, in denen sich in Deutschland selten gewordene inhabergeführte Boutiquen, Vintage- und Secondhand-Geschäfte sowie Szenepubs angesiedelt hatten. Als Geheimtipp hatten sie vom gemütlichen „Café Liebling“ in der Straße Øvrefoss 4 erfahren, welches von einer Berliner Aussteigerin geführt wurde. Neben dem Café-Betrieb fand man hier einen St. Pauli-Biergarten und eine kleine Boutique, in der es sogar deutschen Senf neben Designerlampen zu kaufen gab.

Beim Aufbruch sah Thomas Schulte zu Thorsten hinüber und sprach ihn laut an:

„Na, Chef, was ist los? Du bist ja völlig nackt. Hast du nicht etwas vergessen?“

Auf den fragenden Blick des OFA-Leiters hin ergänzte er:

„Was ist mit deiner Nikon? Ohne dieses Riesending gehst du doch nicht einen Meter weit von Bord“, frotzelte Thomas.

„Für solche Ausflüge habe ich doch stets meine Fuji dabei. Klein, leicht und unauffällig. Für einen Stadtbummel ist sie einfach ideal“, klärte Thorsten Büthe auf.

„War schon klar, eine Kameraausrüstung reicht ja nicht. Der Trend geht halt zur Zweitkamera“, erwiderte der bärtige Kollege nicht ohne Ironie.

„Lieber Thomas, es ist die Viertkamera auf dieser Tour. Jede hat ihre speziellen Stärken. Eine für das Schiff und die Architektur, die zweite für Landschaften, die dritte für Portraits und die kleine Fuji als vierte für die Streetfotografie. Du hast doch auch 20 Tennisschläger zur Auswahl, oder?“, schoss Thorsten den Ball zurück.

„Na gut, verstanden. Aber bei dem, was wir heute vorhaben, wäre doch die Architekturkamera prädestiniert, oder?“, fragte Thomas wieder ernst.

„Wenn ich mit euch mitkommen würde, hättest du recht. Ich schließe mich aber den Mädels an, sofern sie mich mitnehmen“, schränkte Thorsten ein.

„Nein!“, schrie Thomas auf, „Maik, hast du das gehört? Der Chef geht mit den Mädchen shoppen. Ich fasse es nicht.“

Die Kolleginnen kicherten wirklich wie kleine Mädchen im Hintergrund und bestärkten ihn in seiner Entscheidung.

„Bleibst du bei uns, Paps? Das ist aber lieb. Dann kannst du uns beraten und zur Belohnung ein Eis ausgeben, wenn wir lieb waren.“

„Das mache ich gern, schließlich ist es ja ein Gefühl wie in der Heimat, wenn ich mit meinen drei Mädchen losziehe“, freute sich Thorsten. Seine Töchter waren mittlerweile erwachsen, aber er war in dem Damenhaushalt nun mal so sozialisiert worden, was er offen und stolz genoss.

Thomas war ungehalten. „Das ist die erste Tour mit meinem neuen Chef, und ich hatte die Hoffnung, dass er uns Männern das erste Bier ausgibt und nicht den Mädels ein Eis. Ich bin echt enttäuscht. Sag doch auch mal was, Maik!“

Maik Holzner schmunzelte nur und forderte seinen bärtigen Kollegen auf: „Quatsch nicht, wir hätten längst ein kühles Pils gezischt, wenn du nicht alle aufgehalten hättest. Viel Spaß mit Papi, Mädels. Bis heute Abend.“

Sie verließen das Schiff und nutzten den bordeigenen Shuttlebus mit mindestens 50 weiteren Passagieren der „Norwave“ in die Innenstadt und zu den Museen.

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