Sind wir uns wirklich einig?

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Sind wir uns wirklich einig?
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa



Im Buch findet das generische Maskulinum dort Verwendung, wo nicht explizit zwischen den Geschlechtern unterschieden werden soll.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek registriert diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten im Internet unter https://dnb.de.

Alle Rechte vorbehalten

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Freigrenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage

© 2021 mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale) www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 978-3-96311-521-9

Vorwort

Wie habt ihr das gemacht? – How did you guys do that? Diese Frage stellten uns ausländische Freunde, Kollegen, ja Taxifahrer auf der ganzen Welt, wenn es um die deutsche Wiedervereinigung ging. Von außen betrachtet scheint die deutsche Einheit eine Erfolgsgeschichte zu sein. Aber welche Antwort sollten wir geben? Besonders, wenn wir uns gar nicht sicher sind, ob das Land zusammengewachsen ist?

Und so haben wir – Ilka Wild aus Thüringen und Carolin Wilms aus Bremen – begonnen Alltagsbeobachtungen nachzuspüren, wie die früheren „Klassenfeinde“ nach 30 Jahren mit der Situation des „doppelten Lottchens“ umgehen.

Wir blickten genauer auf die Situationen, die uns in eben diesem Alltag auffielen, und stellten fest, dass vieles – so auch Missverständnisse – oft sinnbildlich für das Ganze steht. Zunächst haben wir uns auf eine Zeitreise begeben und uns an die Ereignisse in Ost und West erinnert, die letztlich die „Verbrüderung“ begleiteten: Das Kapitel „Wahnsinn“ zeichnet nach, was synchron im Osten los war, als der Westen noch ahnungslos schlummerte.

Dabei wurde uns klar, dass der Osten den Westen schon immer besser kannte, weil das andere Deutschland vielleicht nicht gerade Sehnsuchtsort war, dafür aber Jacobs Kaffee und Meinungsfreiheit hatte, die man im Osten eben nur im West-Fernsehen gesehen hatte. Dass ein Einfamilienhaus, wie es die Familie Schuhmann in einer ZDF-Serie bewohnte, nicht der westdeutsche Standard war, merkten viele erst, als die Realität nach der Wende zubiss.

Also versuchten wir, vor allem den Osten zu erklären: Ilka Wild als geborene Ossi mit West-Erfahrung und Carolin Wilms als zugezogene Wessi.

Als nach der Flüchtlingskrise Pegida in Dresden aufmarschierte, Ausländer und Journalisten in Chemnitz angegriffen wurden und große Stimmengewinne der AfD bei Bundes- und Landtagswahlen im In- und Ausland für Entsetzen sorgten, schien sich die Kluft abermals zu vergrößern. Wir Journalistinnen mit Sitz in Leipzig fragten uns um so mehr: Verstehen wir uns?

In den Kapiteln, die wir gemeinsam und einzeln geschrieben haben, wollen wir Wissen zusammentragen, um einen Beitrag zum deutsch-deutschen Zusammenwachsen zu leisten:

Was etwa Heimat für jede von uns bedeutet, beschreiben wir im gleichnamigen Kapitel.

Warum das Interesse am Osten bei manchen Wessis so verhalten ist, fragt sich Ilka Wild in „Arm, aber trotzdem nicht sexy“. In welcher Weise hallt die Diktatur noch nach? War es damals schöner? „Ostalgie, verlass mich nie“ heißt ein Kapitel, in dem sich Ilka Wild wundert, warum die seinerzeit verhassten DDRProdukte heute eine solche Renaissance erfahren. In „Schmuddelecke Diktatur“ schreibt Carolin Wilms, dass sie die Skrupellosigkeit derer abstößt, die früher ihre eigenen Mitbürger ausspioniert und gequält haben, sich aber heute munter unter das Volk mischen. Dass auch das Erinnern in beiden deutschen Staaten über viele Jahre ein anderes war, und was das mit unserem Geschichtsverständnis heute zu tun hat, erläutert Carolin Wilms im Kapitel „Erinnerungskulturen“.

Warum Vornamen heute noch als Kompass taugen, erklärt Ilka Wild, und dass wir eigentlich viel voneinander lernen können, wenn wir die Perspektive des anderen der eigenen gegenüberstellen und dadurch relativieren, beschreibt Carolin Wilms in ihrem Text „Ost-westliche Transzendenz“.

Dabei waren wir nicht immer einer Meinung. Wir haben einiges kontrovers diskutiert und kamen zur Frage: Sind wir uns wirklich einig?

Uns wurde bewusst, dass wir nicht die eine, richtige Antwort haben, vielmehr wird es fast 83 Millionen Antworten geben. Gleichzeitig sind wir der Auffassung, dass, allen Unkenrufen und Spaltungsversuchen zum Trotz, nun eine Einheit entsteht, mit der, bei Licht betrachtet, auch nicht früher zu rechnen war.

Denn die ununterbrochene Diktaturerfahrung von über 50 Jahren sowie die Abschottung durch die Mauer wirken – wen wundert es – auch 30 Jahre später nach. Zwei aktuelle Studien haben zuletzt wieder gezeigt, dass der Osten mit Blick auf gesellschaftlichen Zusammenhalt, Akzeptanz von Diversität und Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland deutliche Unterschiede zum Westen zeigt.

Die Diktatur in der DDR hat sich mit deutscher Gründlichkeit stark auf das tägliche Leben ausgewirkt und manchmal hat es das Regime so sehr übertrieben, dass es unfreiwillig komisch wurde. Um darüber aber wirklich lachen zu können, braucht es Verständnis und Kenntnis über den anderen.

So einfach verwachsen ein System und seine Folgen nicht, Erfahrungen werden an die nachfolgenden Generationen in unterschiedlicher Weise weitergegeben. Auch Millennials tragen das Erbe der Diktatur und die Folgen der Transformation in ihrem Gedächtnis. Aber: Sie haben sie eben nicht in ihrer DNA; die DDR wird irgendwann nur noch etwas sein, das man aus dem Geschichtsbuch oder aus Omas Erinnerungen kennt. Und so haben wir uns herangetastet, haben unsere Beobachtungen und Eindrücke aufgeschrieben und versucht, dahinter zu blicken.

Denn – wenn wir es schon nicht verstehen, wie sollen wir es unseren Freunden in Taiwan und Mexiko erklären können?

Ilka Wild und Carolin Wilms

Leipzig, im November 2020

Inhalt

Einführung

Wie soll es weitergehen?

Wo geht die Reise hin?

Eine Zeitreise

Wind of Change

Wahnsinn! Der Mauerfall

Blühende Landschaften?

1995 bis heute: Der Osten wird ein neues Land

Tägliches Leben

Erinnerungskulturen

Mandy oder Magdalena: Wo der Vorname zum Kompass wird

Vom Wagnis, ein Qualitätsprodukt zu kaufen

Ostalgie, verlass mich nie

Ost-westliche Transzendenz: hüben und drüben

Hausfrau, Mutter, Karrierefrau

Kinder laufen einfach mit

Augen auf bei der Berufswahl!

Karriere im Quoten-Osten

Steht sich der Ossi selbst im Weg?

Unsere Ossis – alles nur eine Frage der Zeit?

Arm, aber trotzdem nicht sexy

Lieber Gott, erhalt mir mein Klischee!

Heimat?

Trautes Heim, Glück allein?!

Heuschreckenplage im Osten

Siedler: Auf zu neuen Ufern – in Ost und West

Reizempfindlichkeit: Subventionitis im Osten damals und heute

Vorsicht, Propaganda!

„Fidschi“ & Co. in einem Land von Welt

Altlasten gestern und heute

 

Wie wollen wir über die DDR sprechen?

Schmuddelecke Diktatur

Die Sprache der DDR

Wenn die Stimmen flöten gehen

Aktuelles

Corona, Corona

Glossar

Die Autorinnen

Wie soll es weitergehen?
Von Carolin Wilms

Einige Zeit bevor wir nach Leipzig zogen, hatten wir im USBundesstaat Michigan gewohnt. Meine zweite Tochter kam dort zur Welt. In Amerika fühlte ich mich nicht ansatzweise so fremd wie später in Leipzig: Außer der Sprache, der Zeitverschiebung und der Notwendigkeit, von Celsius in Fahrenheit und von Metern in Yard umzurechnen, war eigentlich in Michigan alles wie zu Hause: leben und leben lassen. Die Menschen waren offen, es schlug uns kein Neid oder keine Missgunst entgegen, sondern eher freundliche Gleichgültigkeit.

In Leipzig hingegen, in meinem eigenen Land, fühlte ich mich zeitweise wie eine Außerirdische, die irgendwo im All falsch abgebogen war. Während mich in den USA die Leute nett fragten, woher ich kam und was mich an diesen Ort verschlagen hatte, erlebte ich in Leipzig zunächst eisige Ablehnung. Offenkundig war klar, dass ich aus dem Westen kam und irgendwie sollte ich dafür büßen. Besonders offensichtlich wurde das beim Autofahren. Wir hatten damals zwei Fahrzeuge mit Leipziger Kennzeichen zur Verfügung: einen verkratzten Toyota und einen Firmenwagen von einer deutschen Premiummarke. Ich fuhr jeden Tag dieselbe Strecke, je nach Umstand mit dem einen oder dem anderen Fahrzeug. Fuhr ich mit dem Toyota, geschah Folgendes: Die anderen Verkehrsteilnehmer ließen mich vor; als ich mich einmal verfahren hatte, klopfte sogar eine Frau an die Scheibe und fragte, ob sie mir helfen könne; ein Mann machte mich an der Ampel stehend darauf aufmerksam, dass meine TÜV-Plakette abgelaufen war. Alle waren freundlich. Ich war mit meinem Auto offenbar ein automobiler Underdog und damit eine von ihnen. Fuhr ich aber mit der vermeintlichen „Bonzen-Karre“, hatte ich keine Freunde mehr auf der Straße: Keiner ließ mich vor, man schnitt mich, wo immer es ging, und helfen wollte mir schon gar keiner. Die Wahl des Autos fiel somit nicht schwer, aber der schale Beigeschmack des mehr als offenkundigen Sozialneids meiner neuen Mitmenschen machte mich nachdenklich.

Diese Befindlichkeit konnte ich auch bei einer Autorenlesung von Holger Witzel in einer Leipziger Buchhandlung erleben, bei der dieser aus seinem Buch „Schnauze Wessi“ vorlas. Die Veranstaltung war bis auf den letzten Platz ausverkauft, und die intendierten Schenkelklopfer entfalteten ihre volle Wirkung: Der Wessi wurde angepasster dargestellt als es alle Ossis im Kollektiv jemals waren. Ich fand seine Sicht der Dinge teils erfrischend, andererseits fragte ich mich nach mehreren Kapiteln und beim Betrachten der Anwesenden, warum etwa die Frauen in Hamburg nicht zum Friseur gehen sollten? Ist ein gepflegtes Äußeres wirklich von Nachteil, über das er sich glossierend äußerte? Mulmig wurde mir zumute, als sich die innere Dynamik der zumeist älteren Zuhörer dahingehend entwickelte, dass sie den Autor baten, ihre Lieblingskapitel vorzulesen, in denen es polemisch um die Selbstgerechtigkeit und den Egoismus des Wessis ging. Der Autor schien den Leipziger Zuhörern aus der Seele zu sprechen.

Nun ist Satire eine Kunstform, deren Grenzen Jan Böhmermann mit seiner Klage gegen Angela Merkel ausgetestet hat und gleichzeitig müssen wir alle unser Geld mit irgendwas verdienen. Das scheint Herrn Witzel mit diesem Genre als nettes Zubrot zu gelingen und es ist Teil unserer demokratischen Rechte. Wenig hilfreich finde ich, dass beim historisch einmaligen Unterfangen, dem Zusammenwachsen der beiden ehemaligen Teile Deutschlands, absichtlich Salz in die Wunden gerieben wird. Wie ein Schmiss, der statt still und leise zu verheilen, absichtlich entzündet wird, um prominenter zu wirken, als er bei Licht betrachtet ist. Aus meiner Sicht hatte die Lesung dem Prozess der inneren Vereinigung einen Bärendienst erwiesen und zu einer lang unterdrückten Eruption von Gefühlen bei den „Unterdrückten und Missverstandenen“ geführt. Ironischerweise erinnerte sich in diesem emotionalen Überschwang keiner der Zuhörer an die alte Weisheit aller Gebrauchtwagenverkäufer: Jeden Morgen steht ein Blöder auf! Der Verkäufer will nicht recht haben, sondern Geld verdienen.

Als Journalistin, die von eigenem Augenschein und O-Tönen lebt und inkognito in den Reihen saß, brachte ich am Ende nicht mehr die nötige Neutralität auf und ging, während tosender Applaus den Autor bedachte. Ich kam mir vor wie im falschen Film.

Wie soll das weitergehen, fragte ich mich. Wie revanchistisch soll das noch werden?

In der Zwischenzeit hat sich einiges verändert. Fahrzeuge von Premiummarken sind mittlerweile in Leipzig allgegenwärtig. Die Porschedichte nimmt es mit Stuttgart-Zuffenhausen locker auf. Obwohl mir die eigene Erfahrung mit einem solchen Fahrzeug fehlt, stelle ich mir vor, dass die Fahrer nicht mehr in der Weise ausgegrenzt werden, wie ich es vor über zehn Jahren noch erlebt hatte. Schließlich gibt es zwei große Automobilhersteller im Norden Leipzigs, die viele gut bezahlte Arbeitsplätze geschaffen haben, und so die Menschen in der Region an der Prosperität dieser Industrie teilhaben.

Es geht auch in anderen Wirtschaftszweigen voran. Wissenschaftler, Gründer und Künstler sind in Leipzig dicht auf dicht beieinander. Das macht den besonderen Reiz dieser Stadt aus, die trotz der über 600.000 Einwohner wie ein Dorf wirkt, dabei aber jung und dynamisch ist: Die Stadt ist im Kommen, strahlt auf die Region aus und zieht magnetisch neue Menschen an. Sie ist noch eine zarte Pflanze, mit der man behutsam umgehen muss, damit sie weder niedergetrampelt wird, noch beim ersten Sturm umknickt. Die Arbeitslosigkeit hat mit knapp 6,5 Prozent im März 2019 den niedrigsten Stand seit 1991 erreicht. Das ist sicher kein Grund, um die Hände in den Schoß zu legen und alles schön zu reden: Nicht alle partizipieren von dem Boom, der Leipzig zu „Hypzig“ werden ließ. Die große Zahl der Hartz-IV-Empfänger, die über 58 Jahre alt sind, taucht in der Arbeitslosenstatistik nicht auf.

Viele Menschen finden heute noch die von der Treuhand veranlasste Deindustrialisierung Ostdeutschlands unverhältnismäßig, finden, dass ihr dadurch verursachter Arbeitsplatzverlust ungerechtfertigt sei und ihre Lebensleistung nicht ausreichend gewürdigt werde. Einige sehen in der Wiedervereinigung ein „unfriendly take over“, wie es im Investmentbanking üblich ist: Filetstück rausschneiden und der Rest kommt in die Wurst. Sie verstehen nicht, warum außer den minimalen Relikten von grünem Pfeil und Ampelmännchen, keine einzige ostdeutsche Einrichtung übernommen wurde. Sie fragen sich, warum haben die Westdeutschen den Sinn von Polikliniken nicht erkannt. So falsch kann es nicht gewesen sein, stellen sie heute teils mit Genugtuung fest, da genau dieses Konzept wieder diskutiert wird. Warum hat es keine neue Hymne gegeben, die Ausdruck von Neuem für alle Deutschen gewesen wäre? Warum wurde ein x-beliebiges Datum für den Feiertag der Deutschen Einheit gewählt, das in keinem Bezug zu den historischen Vorgängen steht? Einzig die Hauptstadt änderte sich für die Westdeutschen.

Das bewegt trotz des ökonomischen Aufschwungs die Gemüter und wird manchmal laut gefordert, manchmal hinter vorgehaltener Hand gesagt. Mitunter werden diese Befindlichkeiten befeuert durch Plattitüden, die die meisten zwar als solche erkennen, während bei anderen die Saat aufgeht. Zur Leipziger Buchmesse 2019 erschien ein Buch von einer Politikerin, die zwischenzeitlich als Lobbyistin scheinbar weniger Erfolg gehabt hatte und die Partei wechselte – Antje Hermenau. Die als Frau der ersten Stunde an den damaligen Runden Tischen und als späteres Mitglied des Bundestages in vieles Einblick nehmen konnte, das anderen verborgen blieb. Sachsentümelnd und polemisch bedient sie in ihrem Buch Gedanken, dass etwa die Wessis auch „keinen Plan haben“ und dass mit dem Geld, das für die Integration der Migranten ausgegeben wird, hervorragende Internetverbindungen bis zur letzten sächsischen Milchkanne verlegt werden könnten; erschienen in der Evangelischen Verlagsanstalt.

Es lese sich wie eine Abrechnung, schrieb ein Leser der Leipziger Volkszeitung in einem Leserbrief zu diesem Buch, ohne Optionen aufzuzeigen, wie ein Miteinander gelingen könne. Ein anderer nannte es gar eine primitiv und diskriminierend formulierte Lektüre.

Anders als über die berufssächsische Verfasserin habe ich im Podcast der Wochenzeitung Die Zeit vom 14. Februar 2019 in einem Gespräch mit der Leipziger Autorin und Journalistin Jana Hensel gestaunt, als sie auf die Frage, was sie beruflich gemacht hätte, wenn die Mauer nicht gefallen wäre, antwortete, dass sie genau dasselbe machen würde wie heute. Dass kritische Berichterstattung in der gleichgeschalteten DDR-Staats-propaganda nicht möglich war und zu Berufsverboten und Zuchthausstrafen geführt hat, ist bekannt. Eine solche Aussage verklärt die Situation, in der sich Andersdenkende in der DDR befunden haben.

Und wieder frage ich mich, wie das weitergehen soll? Die eine peitscht auf, die andere spielt die mangelnde Meinungsfreiheit in der DDR runter.

Bei allen Ungerechtigkeiten, die die Kommission zur Aufarbeitung der Tätigkeit der Treuhand aufdecken soll, darf nicht aus dem Blick verloren werden, was alles erreicht wurde.

Für beide Teile Deutschlands war es die erste Wiedervereinigung, beim nächsten Mal wäre man schlauer, könnte einer einwenden, aber Gift entsteht erst durch seine Dosis: Daher wäre es für das Zusammenwachsen wichtig – allen Befindlichkeiten zum Trotz – das Positive zu sehen, was bisher erreicht wurde und den Blick nach vorn zu richten. Welches andere Land hat in diesem Hinblick etwas Vergleichbares vorzuweisen? Dieser Prozess war und ist nicht ohne Schwierigkeiten und Rückschläge möglich. Wenn sich die Menschen eher auf das Verbindende als auf das Trennende konzentrieren und nicht mit „Besatzer“-Begriffen die Glut schüren, wird das Gemeinsame in den Vordergrund gerückt.

Während früher die Unterschiede zwischen Bayern und Hamburg mit zahl- und achtlosen Witzen bedacht wurden, wird heute gern auf den Klischees des Ostens rumgeritten: Alle Ossis sind arbeitslos und rechts. Der Gag-Schreiber ist mit diesen Themen auf der sicheren Seite, die Lacher sind garantiert. Aber der Vergleich zu den alten BRD-Witzen hinkt.

Als ich in Nürnberg studierte, fragte mich mein oberbayrischer WG-Bewohner, wie das eigentlich sein könne, dass ich als Bremer Nutznießerin des Länderfinanzausgleichs, überhaupt ein Stimmrecht bei der Bundestagswahl haben könne. Wie sich zeigte, hatte nicht nur ich den Eindruck, dass er dämlich war, denn er fiel durch seine letzte Prüfung, aber befremdlich fand ich diese Denke schon. Der Spruch „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ mag vielleicht in einigen Familien funktionieren, innerhalb eines Landes aber sicher nicht. Den Ostdeutschen vorzuhalten, dass man so viel Geld in ihre Bundesländer gepumpt hat und sie mit ihren neuen Bürgersteigen endlich zufrieden und dankbar sein sollen, ist nicht nur unsensibel, sondern nicht zielführend. Wie bei Montessori ist Hilfe zur Selbsthilfe, eins der besten Konzepte überhaupt. Der Aufbau Ost war eine Selbstertüchtigung und sollte keine endlose Alimentierung werden. Die finanzielle Unterstützung läuft bald aus und das ist auch gut so. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle kam im März 2019 in seiner Studie „Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall“ etwa zu dem Schluss, dass die Produktivität des Ostens, der im Westen um 20 Prozent nachhängt, und zwar deswegen, weil der Arbeitsplatzerhalt staatlich subventioniert ist.

Und die Studie der Bertelsmann Stiftung „Monitor Nachhaltige Kommune“ aus dem Jahr 2018 ergab, dass die Armutsquote in Ludwigshafen und im Ruhrgebiet zugenommen, dafür aber in Städten wie Erfurt, Chemnitz und Rostock merklich abgenommen hat. Vielleicht verschiebt sich die Fokussierung für Wirtschafts- und Sozialhilfe nun auf diese Regionen im Westen und der Osten kann jetzt, auf eigenen Füßen stehend, den Westen unterstützen. Dann hören Neid, Bezichtigungen und Unterstellungen vielleicht von ganz allein auf und „Schnauze“-Bücher haben ausgedient.