Czytaj książkę: «Flügelschatten», strona 5

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Ich gähne und stoße mit dem Fuß die Zimmertür auf. Es ist heiß und stickig darin. Müde ziehe ich die Schultern hoch und schlurfe zu dem Fenster auf der linken Seite. Jetzt, wo die Sonne von dunklen Wolken überschattet wird und sich der Abend neigt, ist es zum Glück ein wenig kühler geworden. Ich reiße die Fenster weit auf und atme die frische Luft ein, die nach Sommerregen riecht. Er prasselt lautstark auf das Dach und der Wind heult um das Haus. Froh, hier drinnen zu sein, recke ich den Hals und blicke auf das Dorf hinunter, das man von unserer Anhöhe gut sehen kann.

Die spitzen Dächer ragen fast schon bedrohlich in der Nacht auf, ihre grauen Schieferplatten heben sich kaum von der Dunkelheit ab und der Wind trägt das Schlagen der Kirchturmuhr zu uns herüber. Es sieht friedlich aus. Leer und verlassen. Ich weiß, dass der Schein trügt.

Gerade als ich mich wieder abwenden und auf mein Bett werfen will, meine ich, aus dem Augenwinkel eine Bewegung zu sehen. Vom Regen verzerrt, abgehackt und kurz wie das Flügelschlagen einer Libelle. Ich kneife die Augen zusammen und sehe erneut dorthin, wo ich meine, eine Gestalt gesehen zu haben. Und tatsächlich:

Eine junge Frau, nur schemenhaft erkennbar, denn der Regen verschleiert meine Sicht. Ihre weißblonden Strähnen kleben an ihrem Gesicht und sie zittert erbärmlich, die Arme um den Körper geschlungen. Ihr blasses Gesicht leuchtet in der Dunkelheit und die Haut ihrer nackten Beine schimmert wie Mondlicht.

Sie wirkt klein und verlassen und einsam.

Mit einem Mal hebt sie den Blick und starrt mich direkt an. Ich zucke zurück, dann beuge ich mich vor. Sieht sie tatsächlich mich an? Kann sie mich überhaupt erkennen, durch den Regen und im zweiten Stock des großen Hauses? Kann ich ihre Augen richtig sehen und beurteilen, dass sie zu mir aufblickt? Ich bin mir sicher. Es fühlt sich an, als würde mich ihr Blick geradewegs durchbohren, und ich spüre ein unangenehmes Ziehen in der Brust.

Verwirrt erwidere ich einen Moment lang den intensiven Blick, unfähig, mich von ihr loszureißen. Irgendwie gruselig. Dann wende ich mich ab und streife mein Hemd über den Kopf, um es achtlos in eine Ecke zu pfeffern. Mein Blick gleitet zu dem hohen Wandspiegel und ich begutachte die Muskeln an meinen Armen. Das anstrengende Training macht sich bezahlt und ich nicke mir zufrieden zu. Unter meinem linken Auge hat sich ein Bluterguss gebildet, aber es könnte deutlich schlimmer sein. Verächtlich schnaube ich bei dem Gedanken daran, wie Liam mich damit ärgern wollte, dass es die braune Farbe meiner Iriden zur Geltung bringe.

Mit einem Mal fegt ein Windstoß in das Zimmer herein. Er bauscht die Vorhänge auf und lässt die Fenster zittern. Obwohl mir vorhin viel zu warm war, fröstele ich jetzt. Regentropfen sprenkeln den Boden und es ist, als würde der Himmel noch ein wenig düsterer werden. Andererseits hatten wir auch lange kein ordentliches Sommer­gewitter mehr und Ilóris hat schon vor einigen Tagen prophezeit, dass es kommen würde.

Halbherzig fahre ich mir durch die Haare und betrachte den breiten Kratzer an meinem Kinn, den ich mir gestern zugezogen habe. Hoffentlich wird er verschwinden und nicht zu einer hässlichen Narbe werden, von denen ich im Gesicht bisher kaum welche hab.

Wumm.

Ich fahre heftig zusammen, als über meiner linken Schulter urplötzlich ein Gesicht auftaucht. Verschreckt wirbele ich herum, so schnell, dass ich den Spiegel umstoße und er scheppernd zu Boden fällt. Doch hinter mir ist niemand. Das Zimmer ist leer, nur der Wind rüttelt an den Wänden.

Dennoch bin ich mir sicher, dass ich jemanden gesehen habe … Unruhig wage ich nicht, mich zu rühren, mit meinen Blicken suche ich den Raum ab, dabei gibt es kaum Möglichkeiten, sich in dem spärlich eingerichteten Zimmer zu verstecken, schon gar nicht so schnell. Ich muss es mir wohl nur eingebildet haben … Ganz sicher habe ich es mir nur eingebildet. Langsam drehe ich mich zurück und hebe den Spiegel auf.

Dann lege mich auf mein Bett. Aber sosehr ich es auch versuche, der Schlaf will nicht kommen. Dieser kurze Moment, dieses flüchtige Bild, es will mir einfach nicht aus dem Kopf gehen.

Aufgekratzt wälze ich mich hin und her, finde keine Ruhe. Eine Windböe fegt erneut den Regen herein und ich springe auf, um die Fenster mit einem lauten Knall zu schließen. Erst jetzt merke ich, dass meine Hände beben. Der Schock sitzt tief in meinen Gliedern. Sei nicht albern, schimpfe ich mit mir selbst und ziehe die Vorhänge ruckartig zu. Dennoch, das bleiche Gesicht der jungen Frau lässt mir keine Ruhe, ebenso wenig wie ihre unheilvollen Augen, die ich im Spiegel erblickt zu haben glaubte.


Ich husche um die Ecke und bringe mich hinter einer Hauswand in Sicherheit. Um an Essen zu kommen, betätige ich mich als Diebin, was viel einfacher ist, als irgendwie Wertvolles zu verdienen oder etwas in der Art. Außerdem fällt es mir seltsam leicht, zu stehlen. Heute muss ein Bäcker dran glauben. Ich stoße gegen ihn, wobei sein beladenes Backblech gefährlich kippt und ich es gerade noch retten kann. Ein paar der frischen Brötchen landen wie geplant trotzdem auf dem Boden. Ich reiße die Augen auf und schlage mir die Hand erschrocken vor den Mund.

»Kannst du denn nicht besser aufpassen?«, schimpft er halb­herzig und nimmt mir das Blech ab. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht verschreckt zurückzuweichen. In einen solchen Kontakt zu den menschlichen Wesen zu treten, bereitet mir Magenschmerzen, trotzdem zwinge ich mich dazu, um die Angst vor ihnen zu verlieren. Dann sieht der Mann mich jedoch genau an. Sein Blick fällt auf meine Flügel und seine Augen werden groß. Der Ausdruck in ihnen verändert sich. Er wirkt verängstigt.

»Vergiss es, schon gut. Hier, nimm, die kann ja keiner mehr essen«, stottert der hochgewachsene Bäcker, mit einem Mal ganz kleinlaut, während er mir die Brötchen hastig in die Hand drückt.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, dreht er sich um und geht weiter, während ich die noch warmen Brotstücke glücklich an meinen Leib presse. Sie duften verführerisch und ich verschwinde mit ihnen, um sie in einem ruhigen Versteck zu essen, darauf bedacht, von keinem bemerkt zu werden. Gleichzeitig versuche ich, das flaue Gefühl zu vertreiben, das in mir hochgekrochen ist, seit der Bäcker mich derart entsetzt angestarrt hat. Genau wie die Frau in dem Dorf, die mit den Glasprismen, und genau wie der Händler. Sie sahen mich an, als hätten sie etwas wie mich nie zuvor gesehen. Warum?

Es ist der zweite Sonnenaufgang, seit ich in dem Dorf bin, und ich bin bisher unschlüssig, was ich weiterhin tun will.

Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich vor allem deswegen noch hier, weil mir dieser seltsame Mann nicht aus dem Kopf geht, den ich auf der Brücke getroffen habe. Ich bin mir sicher, dass ich ihn schon einmal gesehen habe. Nicht, wie mir eben die Namen zu Dingen wie den Bäumen oder den Weg einfallen, weil ich sie kenne, sondern er, genau er, kommt mir bekannt vor. Und dieses Gefühl ist so überwältigend, weil ich es noch nie zuvor empfunden habe.

Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, war ich ihm zaghaft gefolgt, denn auch wenn sein Gesicht etwas in mir ausgelöst hatte, konnte ich nicht erklären, woher und weshalb genau er mir vertraut war. Aber ich wusste, dass er im Moment das Einzige war, das mich mit meinen fehlenden Erinnerungen verbindet, also durfte ich ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren.

Ich war ihm durch die verlassenen Gassen nachgelaufen und hatte nicht auf den Regen geachtet, der mich schnell bis auf die Knochen durchnässt hatte. Der Mann musste es sehr eilig gehabt haben: Mit hochgeschlagenem Kragen und langen, energischen Schritten war er durch die Straßen geeilt, über Brücken, bis die Häuser nicht mehr so dicht beisammenstanden und die Landschaft sich langsam weiter vor uns ausgebreitet hatte.

Er hatte das Dorf verlassen und stattdessen einen kleinen Hügel erklommen, der sich in einiger Entfernung zum Ort in der Dunkelheit erhob. Dort oben thronte ein riesiges Haus, schwarz und unheilvoll. Es schien mich von seinem erhöhten Platz aus zu beobachten, als hätte es unzählige Augen, die lauernd auf mich herabblickten.

Ich hatte schlucken müssen.

Der Mann hatte nicht angehalten, sondern war geradewegs auf dieses imposante Gebäude zugegangen. Es wirkte ein wenig alt und heruntergekommen, wie eine ehemals erhabene Villa, die mehr gepflegt werden könnte mit ihrer hölzernen Veranda, den bodentiefen Fenstern und unzähligen Giebeln und Balkonen. Der Mann hatte sie wie selbstverständlich betreten und leise die Tür hinter sich geschlossen.

Ich hatte gewartet. Die ganze Nacht hatte ich vor dem Haus gestanden und gewartet, dass etwas, irgendetwas geschah, stattdessen hatte er sich sicherlich schlafen gelegt und ahnte nichts von mir, der pitschnassen Frau, die vor seiner Tür stand und nicht wusste, was sie noch denken sollte.

Wer ist er nur und welche Verbindung haben wir zueinander?

Ich weiß es nicht. Und solange ich diese Frage nicht geklärt habe, kann ich unmöglich weiterziehen. Habe ich nicht genau danach gesucht? Nach irgendetwas, irgendjemandem, der mir die Antworten geben kann, nach denen ich in meinem Kopf so verzweifelt suche?

Am nächsten Morgen hatte ich mich im Schutze einiger Bäume verborgen und gehofft, einen weiteren Blick auf den Mann zu erhaschen, doch an diesem Tag hatte er die Villa nicht verlassen. Deshalb hatte ich mich dazu entschlossen, durch das Dorf zu streunen, und in der Nacht war ich erneut zum Fuße des Hügels gelaufen, allerdings war wieder nichts Aufregendes geschehen. Mittlerweile bin ich enttäuscht und frustriert und weiß einfach nicht, was ich tun soll.

Ich beschließe, einen letzten Diebstahl für heute zu begehen, damit ich abends nichts zu tun habe und den Mann vielleicht in der Dämmerung finde, und begebe mich wieder auf die Straße. Die Bewohner bestehlen sich untereinander offensichtlich nicht, deswegen ist für mich umso mehr Vorsicht geboten.

Ich entdecke einige Arbeiter, die gut bei den Obstbäumen am Rande des Dorfes gewesen sein können: jeder von ihnen schleppt Kisten mit Äpfeln und sie haben mehrere Pferde mit Säcken beladen, außerdem tragen sie ihr Werkzeug und ihre Taschen auf den Schultern und sehen müde und erschöpft aus. Perfekt für mich. Ich nähere mich ihnen unauffällig und verstecke mich in einer Nische zwischen zwei Häusern. Es ist dunkel, denn die Dächer berühren sich fast und kein Sonnenstrahl dringt auf den Boden.

Wieder setzt ein leichter Nieselregen ein, der direkt unter die Haut geht. Nicht gerade angenehm. Ich werde mich wohl besser wieder unter die Brücke kauern – nur noch das hier und du bist für heute fertig, sage ich mir und ziehe die Kapuze meiner Jacke hoch.

Ich luge um die Ecke, die Männer sind jetzt nahe genug, sodass ich mich jeden Moment auf ihre Erträge stürzen kann. Plötzlich nehme ich eine Bewegung wahr, nur ganz kurz, blitzschnell, sodass ich mich auch geirrt haben könnte, meinen geübten Augen entgeht jedoch für gewöhnlich nichts: Zwei große Jungen sind mir zuvorgekommen und haben geschickt einige von den Säcken losgeschnitten, die die Pferde tragen, und eilen nun mit ihrer Beute davon. Ich stutze und nehme sofort die Verfolgung auf, denn wie ich feststelle, tragen sie in ihren Säcken nicht nur Äpfel, sondern auch andere Leckereien. Wo bringen sie das alles hin?

Sind sie wie ich?

Ich folge ihnen ausgerechnet bis zu der großen Villa auf dem Hügel, deren Fenster mich wie tote Augen anstarren. Ist es ein Zufall, dass sie auch hierherlaufen? Haben sie etwas mit dem Mann zu tun?

Meine Gedanken überschlagen sich, als ich mich auf den Boden in das hohe Gras kauere. Aus einiger Entfernung beobachte ich, wie sie durch eine Hintertür eintreten, dann sind sie schon im Inneren des Hauses verschwunden. Mit angespannten Nerven warte ich, aber es kommt niemand heraus.

Ich muss etwas tun. Von allein werden meine Erinnerungen niemals zurückkehren. Ich raffe mich energisch auf. Ich muss wissen, wer dieser Mann ist!


Es klopft an der Tür.

Ich reagiere nicht, sondern widme mich weiter dem Buch in meinen Händen. Niemand von uns würde jemals zur Tür gehen. Mein Vater ist der Einzige, der Besuch erwarten könnte. Nur hat der offenbar nichts bemerkt, denn es klopft ein zweites Mal. Genervt lege ich den Kopf in den Nacken und brülle: »Elijah! Da ist jemand!«

Keine Reaktion. Wütend schlage ich den Buchdeckel zu, erhebe mich aus meinem gemütlichen Sessel und renne zu der großen, alten Tür in der Eingangshalle. Energisch reiße ich sie auf und wappne mich für den Windstoß, der gleich hereinfegt und einige Regentropfen mitbringt. Ich blinzle und erkenne dann im Bruchteil eines Augenblicks die Gestalt. Am liebsten hätte ich die Tür wieder zugeknallt.

»Tut mir leid, Fremden soll man nicht die Tür aufmachen«, sage ich stattdessen recht knapp und will sie zuschieben. Die junge Frau stellt ihren Fuß dazwischen und hält mich auf diese Weise davon ab. Entnervt öffne ich sie wieder ein Stück.

»Ich mein’s ernst, verschwinde wieder«, knurre ich ungehalten. Sicher bin ich zu grob und barsch. Kein Wunder, nachdem ich sie gestern Nacht schon wieder vor dem Haus zu sehen glaubte, wird mir die ganze Sache ein wenig zu unheimlich. Was genau ist ihr Auftrag? Auch jetzt starrt sie mich nur an. Mann, hat die einen Blick drauf und komische Augen. Sie sind von einem solch kräftigen und tiefen Violett, dass ich fröstele. Ich habe schon einiges gesehen, aber bestimmt nicht solche Augen. Fragend mustere ich sie von oben bis unten und ziehe die Brauen hoch. Zum einen, weil sie im strömenden Regen nichts als ein einfaches Oberteil mit grober Jacke zu einer fast verboten kurzen Hose und keine Schuhe trägt, zum anderen, weil das ihre schlanken Beine perfekt in Szene setzt.

Trotz meiner harschen Worte bewegt sie sich nicht und das lässt mich unruhig werden. Ich runzele die Stirn und versuche sie anzusehen, wobei ihr frostiger Blick das mehr als erschwert.

»Was willst du hier?«, setze ich nach, denn darauf, dass sie vor unserem Haus herumlungert und jetzt triefend nass mit diesen merkwürdigen Flügeln vor mir steht, kann ich mir beim besten Willen keinen Reim machen. Doch sie macht nicht einmal Anstalten, den Mund zu öffnen und mir zu antworten. Dazu hätte sie auch keine weitere Gelegenheit mehr.

»Bin schon da!«

Elijah, wie gewöhnlich ganz in Schwarz gekleidet, taucht hinter mir auf. Er klatscht erfreut in die Hände und lächelt die Frau mit diesem Lächeln an, das mich nur entnervt die Augen rollen lässt. Für meinen Geschmack ist es ein wenig zu freundlich. Sie reagiert nicht einmal mit einem Wimpernschlag.

»Schon ist gut«, erwidere ich meinerseits, wende mich ab und will gehen. Bei ihr habe ich alles andere als ein gutes Gefühl. Sie sieht nicht aus, als könnte man ihr vertrauen – warum sollte sie nun schon seit zwei Nächten in Folge vor unserem Haus herumlungern? Ist sie etwa eine Spionin, eine von denen?! Sofort spüre ich Wut in mir aufkochen und meine Hände ballen sich zu Fäusten. Jede Wette, sie hat schließlich noch Flügel! Mein Vater hält mich an der Schulter zurück.

»Es wäre kein Problem, wenn du höflicher zu Gästen wärst«, raunt er und wirft mir einen strengen Blick zu. Ich funkle ihn trotzig an.

»Sie sollte nicht unser Gast sein, Elijah«, gebe ich zurück.

Die Frau will ich auf keinem Fall hier im Haus haben. Bloß nicht. Auf mein Bauchgefühl ist für gewöhnlich Verlass und ihr traue ihr nicht weiter, als ich bei dem dichten Regen da draußen sehen kann. Es treiben sich zu viele zwielichtige Gestalten in der Gegend herum.

»Ich denke, das habe in erster Linie ich zu entscheiden.« Elijahs Stimme ist streng und hart. Ich beiße meinerseits mit meinen Zähnen fest aufeinander.

»Na dann wirst du wohl wissen, was du da tust«, presse ich hervor und reiße mich unwirsch aus seinem Griff los. Nach der Auseinandersetzung von vorhin wird er ohnehin nicht auf meine Meinung hören wollen. Ich schnaube – als würde er jemals darauf eingehen, was ich denke. In letzter Zeit geraten wir viel zu oft aneinander und kommen selten auf einen Nenner. Es ist die angespannte Stimmung, die wie eine düstere Wolke über unserem Haus liegt und an sämt­lichen Nerven zerrt. Deshalb kann ich gar nicht rasch genug zurück in mein Zimmer kommen. Gerade noch kann ich vernehmen, wie Elijah mit seiner lockeren, immer freundlichen Stimme zu der Frau sagt: »Ach, lass dich von ihm nicht verunsichern.«

Um zu wissen, dass er ihr dabei verschmitzt zuzwinkert und abwinkt, muss ich nicht neben ihm stehen.

Ich lache verächtlich und knalle grob meine Zimmertür zu.


Ganz gleich, wie unfreundlich der Kerl war, der mir die Tür geöffnet hat, es ist vergessen, sobald ich Elijah erkenne. Er ist es, zweifelsohne. Der Mann, den ich auf der Brücke gesehen habe und der mir so bekannt vorkam. Wie soll ich nur das vermitteln, was ich fühle? Wie soll ich ihm sagen, dass ich ihn kenne? Erkennt er mich denn nicht? Er hat nichts gesagt außer einem lockeren Komm doch herein und wenngleich ich noch nie in einem Haus gewesen bin und mich sofort Unwohlsein überkommt, will ich unbedingt mehr herausfinden.

Ein wenig unsicher und ein wenig neugierig gehe ich also hinter Elijah her. Er kleidet sich gänzlich in Schwarz, von der Hose über das Hemd bis hin zu dem Ring, den er im Ohrläppchen trägt. Sogar seine unordentlich abstehenden Haare sind dunkel sowie sein stoppeliger Bart, über den er sich beim Reden ständig streicht. Er ist ziemlich groß und deswegen muss ich den Kopf in den Nacken legen, wenn ich sein Gesicht im Auge behalten will. Am meisten irritiert mich das Lächeln darin. Es ist so ungewohnt freundlich, dass es eigentlich gar nicht mehr freundlich sein kann.

Von innen ist die Villa genauso imposant wie von außen. Die Türen sind alte Flügeltüren, die Möbel mit wunderschönen Schnitzereien verziert, die langen schmalen Fenster mit Vorhängen versehen, der Boden aus Holzdielen und die Zimmer haben hohe Decken. Es gibt sogar einen Kronleuchter, der in der Eingangshalle hängt und den ich eine ganze Weile beeindruckt anstarre, ehe ich Elijah überhaupt folgen kann. Er ist mit dunklen Kerzen bestückt und Kristalle funkeln an ihm.

Wir betreten einen großen und dann wieder winzig kleinen Raum nach dem anderen. Sie sind verbunden mit langen Fluren und Treppen mit verschlungenen Geländern führen in die oberen Stockwerke. Auf den offenen Galerien meine ich neugierige Gesichter zu erspähen, die zu uns herunterblicken; wenn ich nach oben sehe, verschwinden sie rasch wieder.

Ein leises Flüstern und Raunen dringt durch das verschachtelte Haus und ich ziehe die Schultern hoch, sehe beeindruckt an den Wänden hoch, die in bunten Farben angemalt sind. In einigen Räumen zieren Bilder die hohen Decken, Wälder oder andere Naturschauplätze, die mit einem feinen Pinsel gezeichnet wurden.

Ungeachtet dessen, dass alles sehr weitläufig und groß ist, fühle ich mich irgendwie eingeengt wie ein Vogel, der seine Flügel nicht ausbreiten kann. Meine muss ich eng an meinen Körper pressen, weil ich befürchte, sie könnten sonst irgendetwas umstoßen oder berühren.

Selbst wenn Elijah nicht durchblicken lässt, dass wir uns kennen, scheint er verstanden zu haben, dass ich keine Bleibe habe, und bietet mir an, mich im Haus umzusehen und bei ihnen unterzukommen.

»Es leben viele hier, die nicht wissen, wo sie sonst bleiben sollen«, erklärt er mir und ich nicke, wenngleich ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich das verstehe.

»Wie heißt du denn?«, fragt er jetzt und dreht sich zu mir herum. Ich fahre staunend mit den Fingern über eine Strebe des Treppen­geländers. Das Holz ist kühl unter meinen Fingern.

»Mädchen? Hast du einen Namen?«

Ich sehe ihn mit großen Augen an. Er erwidert meinen Blick mit seinen klaren, eisblauen. Sieht er nicht das, was ich sehe? Fühlt er nicht, dass wir einander bekannt sind? Oder irre ich mich?! Nein, das kann nicht sein! Sein Gesicht ist das erste, was dieses Gefühl in mir auslöst. Ich kann die Augen schließen und weiß ganz genau, wie es aussieht, habe es mir fest eingeprägt. Aber vielleicht habe ich ihn damals, vor der Dunkelheit, auch nur beobachtet, so wie auf der Brücke. Vielleicht kann er sich gar nicht an mich erinnern.

»Du verstehst mich, oder?«, meint er und legt seinen Kopf leicht schräg. Mein Herz gerät ins Stolpern. Was hat er gefragt? Ah. Mein Name. Was soll ich jetzt sagen? Dass mir niemand einen gegeben hat? Dass ich es nicht genau weiß? Dass ich gar nichts mehr weiß? Er übernimmt glücklicherweise das Reden für mich, als er meinen unschlüssigen Gesichtsausdruck bemerkt.

»In Ordnung, du weißt es also nicht oder möchtest es mir zumindest gerade nicht sagen, habe ich recht?«

Ich nicke zaghaft. Nicken ist besser als etwas zu sagen.

»Nun gut, weißt du, wo du herkommst? Aus welchem Dorf?«

Dieses Mal schüttle ich den Kopf und mache eine unbedeutende Handbewegung.

»Hm, und deine Eltern? Was ist mit ihnen?«

Wieder schüttle ich den Kopf und hebe noch dazu die Achseln. Eltern … das Wort kommt mir bekannt vor, ich kann es zuordnen, aber das reicht nicht, um eine Erinnerung an jemanden hervorzu­rufen. Ich glaube nicht, dass ich Eltern habe. Ist das möglich?

»Du hast keine mehr«, stellt auch Elijah jetzt fest und sein Gesicht wird ernster. »Sind sie … wurdet ihr angegriffen?«, fragt er vorsichtig.

Ich wiege erneut den Kopf hin und her, sage lieber nichts, denn wenn er das mit den Eltern so weit ausführt, findet er es bestimmt seltsam, wenn ich sage, dass ich keine habe. Noch immer kann ich nicht anders, als ihn die ganze Zeit über intensiv anzustarren, weil es mich verblüfft und gleichzeitig unglaublich frustriert, dass ich ihn zu erkennen glaube. Wo sind die restlichen Erinnerungen? Oder die, die mit ihm zusammenhängen? Es muss mehr als dieses eine Bild in den schwarzen Fluten existieren, aus denen ich erwacht bin.

Elijah lächelt mir aufmunternd zu.

»Schon in Ordnung, ich verstehe dich. Du kannst hier wohnen bleiben, wenn du das möchtest. Viele von uns haben alles verloren, was sie hatten. Wir könnten hier ein Zimmer für dich finden.«

Möchte ich das? Ich weiß nicht. Unsicher weiche ich zurück. Und wieder sagt er irgendwie genau das Richtige: »Du musst jetzt nicht antworten. Ich zeige dir einfach die letzten Räume, ja? Oh.« Er schlägt sich die Hand vor die Stirn und verdreht die Augen. »Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Elijah.«

Er vollführt einen kleinen Halbbogen mit geöffneter Hand in der Luft.

»Das ist bei uns zur Begrüßung so üblich«, erklärt er mit einem erneuten Zwinkern. Aha. Ist dieses Blinzeln auch etwas, was sie öfter tun? Oder soll das hier alles eine Falle sein? Es ist zum Verzweifeln, ich weiß nicht, was ich denken soll!

Abwarten. Abwarten ist gut. Die Lage einschätzen. Möglichkeiten abwägen. Flucht oder Angriff.

Ich atme durch. Die Lage einschätzen. Ich muss mehr über Elijah erfahren. Immerhin habe ich jetzt einen Ort, an dem ich bleiben könnte, das ist mehr, als ich gestern Abend hatte. Elijah führt mich durch die einzelnen Stockwerke, öffnet diese oder jene Tür und erzählt zu jedem Zimmer etwas. Anfangs höre ich ihm noch zu, schon bald schalte ich jedoch ab, seine Stimme wird eine Hintergrund­musik. Viel mehr interessiert mich die Einrichtung, die Wandtapete, der Fuß­boden. Wie durch Watte dringen die Geräusche zu mir durch und da passiert es: Auf einmal verschwimmt der Raum vor meinen Augen, ich schwanke, Halt suchend klammere ich mich an einen kleinen Tisch, blinzle und versuche verzweifelt, klare Sicht zu bekommen. Vergeblich. Die Farben und Formen vermischen sich, alles dreht sich und ich kann es nicht aufhalten. Die Welt kippt vor meinen Augen. Urplötzlich taucht eine Szene auf, legt sich auf mein Gesicht.

Ein zerbrochenes Fenster, die Splitter fliegen in alle Richtungen davon, das Sonnenlicht bricht sich darin. Ein Schrei, ich wirble herum, ein Arm rutscht von meiner Schulter. Ich sehe in seine Augen. Vertraute Augen …

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