Czytaj książkę: «Der Bergfrauendoktor»
Carolin Frölich, Thomas Schmidt,
Daniel Jaakov Kühn
DER
BERGFRAUEN-
DOKTOR
Ein Leben voller Abstriche
Volk Verlag München
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ISBN: 978-3-86222-145-5 (ePUB)
ISBN: 978-3-86222-146-2 (Kindle)
Es blitzt! Da, nochmal!
Gott macht ein Foto von der Stadt fürs Archiv.
HERMAN VAN VEEN
REGISSEUR: Meine Herren. Ich habe mich durchgerungen. In dieser Spielzeit geben wir den „Bergfrauendoktor“. Der „liebestolle Bauer“ ist restlos gestrichen. Zwangsversteigerungen ziehen nicht mehr.
AUTOR: Das kann ich bestätigen.
REGISSEUR: „Die drei Eisbären“ fallen ins Wasser, weil nur zwei aufzutreiben waren. Kretins!
SCHAUSPIELER: Was spui ma?
REGISSEUR: Den „Bergfrauendoktor – ein Leben voller Abstriche“!
SCHAUSPIELER: Da spür i nix.
AUTOR: Geben Sie der Bühne eine Chance.
SCHAUSPIELER: Und ghead hob i davo a no nix.
AUTOR: Es handelt sich um ein Pandämonium. Eine Dystopie. Erzählt wird die Menschheitsgeschichte, wenn man so will. Durch einen Spiegel, als Zerrbild. Das Leben und Wirken eines Mannes.
SCHAUSPIELER: Versteh i ned.
REGISSEUR: Ich interpretiere mal frei aus der Leber: das Stück vom Frauenarzt. Wohnt irgendwo auf dem Berg. In einem Dorf. Praktiziert dort. Der Berg spielt nach meinem Verständnis eine tragende Rolle.
SCHAUSPIELER: Und wer spuit an Berg? Der Daiser? Der is doch eh so fett.
AUTOR: Der Berg ist keine Rolle. Es geht um den Berg in uns. Geht die Welt unter, dann baut man eine neue. Kracht das Haus ein, baut man sich ein neues. Ist die Welt zu groß, dann baut man im Kleinen.
SCHAUSPIELER: Versteh i ned.
REGISSEUR: Wer hat die Katze rein gelassen?
AUTOR: Der Mensch muss das wollen, was er nicht ändern kann.
SCHAUSPIELER: An Schmarrn muas er.
REGISSEUR: Wer hat die Katze rein gelassen?
AUTOR: Welche Katze?
Rosa
Rosa schleicht in den staubigen Winkel einer Scheune, rollt sich ein und fällt in tiefen Schlaf. Sie träumt von einem blauen Zelt, von einem Käfig und einem Mann, der eine Peitsche schwingt. Sie träumt von Puppen, die reglos im Wald stehen, und von einer Faust, die aus dem Himmel fährt. Als Rosa aus dem Schlaf schreckt – es ist noch mitten in der Nacht –, zittert sie am ganzen Körper. Ein Bild steigt in ihr auf. Das Bild von einem warmen Bauch, der ihr Milch spendet. Dann treibt die Erinnerung davon. Rosa schläft wieder ein.
Blau
Wenn heute einer ein Doktor ist, dann kann er was erzählen, aber freilich nur, wenn er es seinem Spiegelbild anvertraut und sonst keiner im Raum ist. Weil: alles hochvertraulich. Wenn aber zum Beispiel ein Gynäkologe in einer Parallelwelt praktizieren würde – sagen wir in einem gottverlassenen Bergdorf, in das sich nicht einmal mehr der Wahnsinn hinein traut – und keiner da ist, der sagt: ‚Das darf man nicht erzählen, weil: Schweigepflicht.‘, dürfte man, quasi mit offizieller Erlaubnis, alles weitererzählen. Oder in unserem Fall in den Berg hinein rufen. Und das Echo die Geschichte erzählen lassen. Hören wir also genauer hin und schauen zu.
Stellen wir uns eine Welt vor – vielleicht blau, vielleicht grün –, die wie eine Blase in einem stehenden Gewässer treibt. In dieser Blase schwimmt ein Fremdkörper, der sich bei genauerer Betrachtung als Gynäkologe herausstellt. Fragen wir nicht nach dem Warum. Schauen wir ihm einfach zu. Stellen wir uns vor, wie er langsam aus der Schlafkammer tritt, die weißen Schlappen voraus, der Schlafrock schwingt ins Nebenzimmer hinein und dann der Kopf, der langen Nase nach einem schrillenden Satellitentelefon entgegen.
„Stürzel.“
„Hofbauer hier!“
„Frau Hofbauer, was gibt’s, wo drückt der Schuh?“
Manchmal schiebt er Worte vor, es dauert dann länger bis das Unvermeidliche eintritt. Stürzel stellt unsinnige Fragen, um die Zeit zu dehnen.
Frau Hofbauer erzählt einen Witz. Einen Frauenarztwitz. Sie denkt sich die selbst aus.
„Kommt eine Frau zum Frauenarzt. ‚Herr Doktor, ich sehe alles doppelt.‘ Und sie zeigt auf ihre rechte Brust …“
„Mal wieder ein Guter.“, sagt Stürzel. „Wie kann ich helfen?“
„Ich habe ein zentrales Problem.“, sagt Frau Hofbauer und atmet tief ein. „Mein Mann hat etwas eingeführt. Und das steckt jetzt fest …“
Stürzel kratzt sich an der Stirn. Er seufzt.
„Ich komme runter.“, sagt er und legt auf.
Hinter Stürzels Haus steht ein windschiefer Holzschuppen. Angefüllt mit verrosteten Geräten, altem Metall, Rohren, Holzplanken, Werkzeugen. Ein Arbeitsraum, auch eine Höhle. Geburtsort der Maschine. Hier hat Stürzel den Stuhl erschaffen. In nur einer Nacht, wobei das glatt gelogen ist. Der Hang zur Übertreibung ist eine dem Mann angeborene Grundeigenschaft und hat, auch wenn es kein Mann zugeben mag, mit Selbstschutz zu tun.
Das kühle Metall und seine Beulen. Hammerschläge, Funkenregen, Schimpftiraden. Ein Ächzen und Keuchen. Balken geben nach, zerbrechen. Ein Stuhl in Verwandlung. Stangen, Drähte, Schnüre. Geschmortes, Verbranntes. Rauch, der durch die Ritzen kriecht und sich über die schwarze Wiese ergießt. Schöpfungsakt. Zeugung und Entbindung. Eine letzte Serie starker Hiebe. Ein leises Quietschen, ein trockener Riss.
Morgengrauen. Das Rauschen der Bäume. Gelenke knacken. Im Schuppen kühlt ein Maschinist ab, die Arme in die Hüften gestemmt. Stolz begutachtet er sein Werk. Im schwachen Lichtschein einer Glühbirne steht ein teutonisches Gefährt, ein Unding aus ferner Zeit. Der Welt erster mobiler Gynäkologenstuhl. Getauft auf den Namen ‚Rorhahn der Metallene‘.
Stürzel geht in den Schuppen. Man hört ihn randalieren, Dampf ablassen.
Adi Stürzel ist eine menschliche Dampfmaschine. Erfunden hat ihn seine Mutter.
Eisen scheppert. Holzdielen knarren. Mit einiger Anstrengung schleppt er seinen selbstpatentierten Gynäkologenstuhl ins Freie und legt sich den Tragegurt um. Er schwingt sich den Stuhl auf den Rücken, löst die Klammern, umschließt damit die Oberarme, zieht den Stuhl hoch auf den Buckel und macht den ersten Schritt.
Sagen wir fünfzig Kilo. Essen Sie mal fünfzig Kilo Fleisch. Oder fünfzig Kilo Stahl. Das ist kein gutes Gewicht. Den Berg hoch. Oder hinunter – was viel schlimmer ist. Auch wenn das der Bergwanderer aus dem Norden nicht glauben mag, weil es runter ja viel leichter ist.
‚Da fliegen die dicken Klopse wie von allein, da muss man sich gar nicht plagen.‘, denkt der blasse Vogel, rutscht aus mit seinen Plastiksandalen und stürzt in eine Schlucht.
Das Hinunter zerstört die Gelenke dauerhaft, außerdem ist es auch kurzfristig lebensgefährlich. Stürzel ist schon oft ausgerutscht und mitsamt Stuhl Abhänge hinunter geschlittert, in Bächen gelandet oder in Zäunen, auf einem Geröllfeld oder auch in einer Herde Schafe.
Ein Reh steckt den Kopf aus einem Busch. Ein Knacken, ein Fluchen. Das Reh duckt sich und verschwindet im Gehölz.
Im graugrünen Licht, zwischen Nebelschwaden, wankt eine Gestalt. Düster, grimmig. Der Stuhl wiegt schwer. Der Abstieg ist ein Stolpern, ein am finalen Todessturz vorbei von Taktik geprägtes Ausbalancieren der fleischlichen Hülle, eine Odyssee durch die kalten Windungen karger Berglandschaften. Gegen das dämmrige Licht der Sonne, die sich hinter einer schier unendlichen Wolkenfront versteckt, scheint es, als stapfe da ein Minotaurus über die schräge Anhöhe. Halb Mensch, halb Gynäkologenstuhl.
Aber es ist nur der Bergfrauendoktor. Jetzt hält er inne, wirft einen Blick über die Schulter als suche er etwas, aber er schaut nur nach einem kleinen schwarzen Fleck, der sich konzentriert an einem Zaunpfahl reibt – der Zaunpfahl neigt sich bereits.
Der Bergfrauendoktor muss täglich Abstriche machen. Auf mentaler wie auch beruflicher Ebene. Man sieht ihm das an. Von der Kopfspitze bis zum großen Zeh: Großbaustelle auf vermintem Gelände.
Frau Hofbauer kommt ihm bereits entgegen. Sie hat nur eine Bluse an und blaue Gummistiefel.
„Ausziehen muss ich mich ja ohnehin.“, sagt sie und zwinkert.
„Sie holen sich noch den Tod!“
Herr Hofbauer wartet in der Tür. Es ist ihm unangenehm, auch dass seine Frau untenrum nackt draußen rumturnt. Aber so ist sie. Sexuell hyperaktiv hoch Drei.
Etwas steckt zwischen Frau Hofbauers Oberschenkeln.
Der Stuhl ist schnell aufgebaut.
„Das ist Apfelwein.“, sagt Frau Hofbauer.
„War da noch Wein drin als …?“
Frau Hofbauer kichert. Sie hält sich die Hände vor die roten Wangen, rutscht auf dem Stuhl herum wie ein aufgeregtes Kleinkind.
Stürzel schaut durch das kleine Fenster nach draußen. Er sieht graue Wolken, die keine Form haben, Wolkenschlieren, die wie festgefroren über dem Dorf schweben. In seinem nächsten Leben möchte er eine Wolke sein, bewusstlos und dumm.
„Als die Flasche ausgelaufen ist, hat sich ein Vakuum gebildet.“, erklärt er. „Ich werde jetzt den Flaschenboden abschlagen.“
Er legt Frau Hofbauer ein paar Tücher über Körper und Gesicht. Von Herrn Hofbauer lässt er sich einen Hammer reichen.
Der Rest ist Bergfrauendoktorroutine.
Ein paar feste Schläge, das Becken der Patientin stößt zurück. Der Flaschenboden fällt in die Tiefe, ein Sturzbach Apfelwein schwappt hinterher.
Flüssig gewordene Erregung, Balsam für den Teufel.
Stürzel zieht langsam die Flasche heraus.
Plopp und Furz.
„Entschuldigung.“, sagt Frau Hofbauer. „Das letzte Wort hat immer meine ...“
„Passen Sie das nächste Mal besser auf.“, murmelt Stürzel und wirft seinen Kram in die Arzttasche.
Gedanklich befindet er sich bereits daheim in seinem knarrenden Bett, unter der Bettdecke. Rosa wird sich zu ihm gesellen und entweder die Bettkante missbrauchen oder sich schnurrend an ihm reiben. Seit Rosa ihm zugelaufen ist, verfasst Stürzel Katzengedichte. Seine Sammlung trägt den Titel: ‚Katzengedichte oder wie ich langsam zu einem irren Berggeist werde‘.
Alfred Stürzel wuchs als Sohn des Knopfindustriellen Fritz Stürzel und seiner repräsentativen Gattin Bertha Stürzel in finanziell sicheren und äußerlich höchst klinischen Verhältnissen auf. Die kleine Familie wohnte am Rande einer großen Stadt, durch deren Häuserschluchten unentwegt blecherne Schläge hallten. Aber alles endet, auch eine Stadt. Hinter dem akkurat gekämmten Garten, der groß war wie ein Fußballfeld, erstreckte sich eine grüne Landschaft: Ein Bach schlängelte sich durch Felder und Wiesen, weiter hinten streckten sich sanfte Busen dem blauen Himmel entgegen. Wenn Adi hinaus lief, war er ein weißer Fleck. Und als ebensolcher betrat er Stunden später das Haus wieder – er war schlau genug, sich die Erde, das zermahlene Gras, Insektenreste und Hundekot in dem kleinen Bach abzuwaschen.
Kätzchen, Kätzchen Kraule, Kraule Bist wie Wolle Meine Faule.
Seine Kindheit war blau. Blau wie der Himmel, unter dem er nach Maulwürfen grub oder Höhlen anlegte, in die er mit seiner Taschenlampe hineinleuchten konnte. Er untersuchte die Wände und pickte Schaben und Würmer heraus.
Blau wie die Schürze der Mutter, die wie ein flatternder Vogel durch die Zimmer jagte, auf der Suche nach Arbeit, die getan werden musste. Und war keine Arbeit da, wurde eine herangeschafft. Darin war seine Mutter gut.
Blau wie die Flecken, die ihm sein Vater vermachte.
Stürzel macht ein schreckliches Gesicht. Egal ob er träumt oder wach ist, alles ist gleich schlimm. Draußen sackt eine Nebelbank in die Tiefe. Von oben vernimmt er rhythmische Stöße: Rosa malträtiert das Klavier.
Jetzt – ein Stich im Nacken. Die Mühen fordern ihren Tribut. Stürzels Rücken ist ein alter Kran, die Knochen und Gelenke sind verrostete Streben, die unter einer pumpenden, roten Sonne verwittern.
Wie in Zeitlupe sieht er sich nun auf das schrillende Satellitentelefon zugehen, ganz langsam. Gäbe es einen Umweg, ganz grundsätzlich einen anderen Weg, alles würde er machen, dem Teufel die Sackhaare schneiden, solche Sachen, aber er kommt nicht aus. Die Bergrücken, die elenden schiefen Wiesen, die gewundenen Pfade. Ein stetes Abrutschen, aber nie ein sicheres Stürzen. Keine Schlucht, die ihn in sich aufnimmt, verschluckt.
Wir trafen uns im kleinen Park Ich fragte: Lust auf Mäusejagd? Sie reichte mir die Tatze Und fragte: Lust auf Katze?
Das Telefon schrillt nun seit zehn Minuten. Das ist sehr lang. Stürzel seufzt. Es ist ein beinahe endloses Seufzen.
‚Das Grauen ist Routine geworden.‘, sagt er zu sich selbst.
Er stolpert durch ein Leben, gegen das Hiob seines nicht tauschen würde.
„Stürzel hier. Was gibt’s, wo drückt der Schuh?“
„Herr Doktor … Es stirbt.“
„Herr Huber,“, sagt Stürzel, „es stirbt nicht.“
„Ich kann es nicht mehr fühlen. Da muss sich etwas entzündet haben. Vielleicht ein bisschen Salbe drauf …“
„Herr Huber, wie oft soll ich es Ihnen noch sagen. Ich behandle Sie nicht. Ich bin Bergfrauendoktor.“
„Was gegen das Jucken …“
Herr Huber leidet an einer gefestigten Weibsbildanomalie. Er redet sich ein, eine junge Lolita zu sein.
Eines Tages war Huber aufgewacht und seine Lust auf Frauen war wie verschluckt. Noch besser: Er hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, selbst Frau zu sein und als solche begehrt.
Ob er den Roman gelesen habe, wollte Stürzel einmal wissen – aber der Huber kann gar nicht lesen. Zumindest keine Bücher. Den Himmel, den ja, da weiß der Huber immer wo es herkommt, das verfluchte Sauwetter. Nämlich von Grönland. Da wird der Wind, wenn er über die schneidigen Wipfel schrammt, so grausam runter gekühlt, dass es manchmal gefrorene Gänse regnet.
Herr Huber hat eine Frau.
„Sexuell geht schon lang nichts mehr.“, sagt der Huber.
Früher, da hat er sich manchmal von hinten an sie ran geschlichen, wenn sie gerade im Stall ausgemistet hat. Und dann hat er ihr unter den Kittel gegriffen.
„Da war aber nichts was man greifen konnte.“, sagt der Huber. „Irgendetwas war da, aber es war nicht von dieser Welt.“
Ein Prickeln von oben nach unten – die erste Nacht als Lolita. Er zieht sich ein altes Kleid über, schlüpft in die gelben Gummistiefel. Er kichert – ein Kichern wie chronischer Husten. In Hubers Ohren ist es ein glockenhelles Kichern, lasziv und frühweiblich. Er beginnt den Stall auszumisten, wobei ihm immer wieder das Kleid hochrutscht beim Bücken. Und er muss sich oft bücken, weil die imaginären Lockenwickler einfach nicht halten wollen.
Reib mich am Menschen An seinem Bein Reib mich an Bäumen Im Sonnenschein.
Träume sind ja so eine Sache. Jeder macht dahingehend seine eigenen Erfahrungen und wenn es daran geht, einen Traum zu beschreiben, fällt einem meist nichts Gescheites ein.
‚Wirres Zeug.‘, sagt man oder: ‚Ich bin geflogen und es war recht schön.‘
Weil man ja nicht fliegen kann im regulären Alltag – nur im Flieger oder von der Schule. Das genießt er dann, der Mensch. So eine Sache, das könnte man öfter haben.
Was jeder kennt, eine Berühmtheit unter den Träumen, ist der Sturz vom Fahrrad. So im Halbschlaf, wenn es einen hineindrückt in die Traumwelt, wenn man noch nicht ganz im Traum drin ist, aber bereits mit den Füßen. Man schreckt dann regelrecht hoch und macht eine seltsame Verrenkung im Bett. Kann man sich wehtun, wenn der Kopf sich zu nah an der Wand befindet. Die Nase brechen zum Beispiel. Alles schon da gewesen.
Stürzels Träume tun allein vom Hörensagen weh. Zum Beispiel letzte Nacht. Da ist ihm wieder einer untergekommen. Eine Abart von einem Traum.
Stürzel hockt auf einem Traktor, obwohl er kein Traktorfahrer ist – muss er ja auch nicht als Gynäkologe. Die Berge ringsum sind unscharf gezeichnet und zittern als zeige ein Alkoholiker die Postkarte einer Bergkette vor. Unter ihm eine Art Feldweg, aber eher von der Sorte Daumenkino. Jedes Bild für sich und man weiß nie, ob es sich ausgeht mit dem Tempo und dem Effekt. Wände werden verschoben, weit hinten steigt etwas und kurz wird alles durcheinander gemischt: Farbstrudel, aber ein kalter.
Stürzel rattert über Wiesen und Felder.
Plötzlich: Katharina die Große. Neben ihm auf dem Traktor. Wie eine Marionette, die ihren Auftritt hat. Aus dem Himmel springt ein schwarzer Hengst, streift die Kaiserin seitlich, lässt ihr Kleid flattern.
„Untersuchens mich, Herr Doktor!“
Ihre Lippen bewegen sich nicht.
Stürzel steht über die Königin gebeugt.
„Greifens mich an!“
Die Kaiserin hebt das mächtige Gewand.
Zwischen ihren Beinen liegt das Dorf. Und als Stürzel genauer hinschaut, kann er sich selbst sehen als kleines Männchen, wie er eine Scheune anzündet.
Und damit ist Stürzel aufgewacht.
„Stürzel hier. Was gibt’s, wo drückt der Schuh?“
„Rohrbisler hier!“, flötet es.
„Ah, der Herr Rohrbisler.“
„Herr Doktor,“, säuselt die Stimme, „ich brauche Ihre Hilfe. Eine technische Sache. Wo Sie doch so ein technischer Hochgeist sind. Man sieht es an Ihrem Stuhl.“
Franz Rohrbisler ist in etwa so alt wie Stürzel, aber viel kleiner und gedrungener: ein hochgewachsener Zwerg mit einer kreisrunden Glatze, seitlich von schwarz gefärbten Einzelhaaren umzäunt.
Stürzel überlegt kurz, ihm fällt auf die Schnelle keine Ausrede ein.
„Um was geht es denn?“
„Sehen Sie selbst, schauen Sie nach. Keine Angst, ich werde Sie nicht verschleppen. Sie sind doch der Doktor, der große, kräftige Doktor … Was kann ich schon gegen Sie …“
Der Rohrbisler klingt wie Graf Dracula, wenn er zu wenig Blut getrunken hat.
„Ich komme rüber, Herr Rohrbisler.“
Die Tür steht offen. Drinnen ist es dunkel. Muffig. Die Vorhänge zugezogen, aber alle Stühle auf Bereitschaft.
Stürzel zuckt zusammen – ein Schatten rechts. Jemand sitzt an einem der Tische, über ein Bier gebeugt.
„Das ist Hugo.“, sagt Rohrbisler, der hinter dem Tresen steht und Stürzel von oben nach unten genauestens inspiziert. „Sag ‚Guten Tag‘ zum Herrn Doktor ...“
Die Schaufensterpuppe schweigt.
„Warum kommt denn keiner? Das muss doch deprimierend sein …“
„Das ist wegen der Steuer.“, sagt Rohrbisler und schenkt Stürzel ein Bier ein. „Die Wirtschaft ist reine Tarnung.“
„Interessant.“
„Ich tarne meinen Schatz.“, sagt Rohrbisler und er zeigt auf die schwarze Tür in seinem Rücken. „Wollen Sie mal einen Blick werfen? Ich brauche Ihre Hilfe.“
Stürzel nippt an seinem Bier. Er überlegt. In der Geisterbahn war er lange nicht.
„Nach Ihnen, Herr Rohrbisler.“
Sie betreten einen Raum, an dessen Decke sich eine Discokugel dreht und psychedelische Lichtbälle an die Wände wirft.
„Die ist immer in Betrieb.“, sagt Rohrbisler.
Es riecht nach Apotheke, nach Schlachthausapotheke. Etliche Ketten, im Raum verteilt wie Spielzeug, achtlos liegen gelassen. Eine Matratze ohne Bettbezug. An den Wänden Poster ausgepeitschter Hintern – ausschließlich haariger Natur. Ein kleiner Fernseher. Die vier männlichen Schaufensterpuppen, die dastehen, als warteten sie auf den FKK-Bus, weisen Brandspuren auf.
Ein bizarrer Wunschkasten, eine eingefrorene Fantasie.
Der Boden ist mit Folie abgedeckt.
Stürzel schüttelt es. Das Dorf hat ein Hinterzimmer.
„Ich träume von Männern, die ihre schweren Gummistiefel auf dem Bett ablegen – und sich selbst.“, sinniert Rohrbisler.
„So Träume hat man halt.“, sagt Stürzel. „Und wo ist jetzt das Problem, das Technische?“
Stürzel hat es plötzlich eilig. In einer Ecke steht etwas, unter einer Decke.
„Hier, sehen Sie …“, sagt Rohrbisler und zieht theatralisch die Decke weg. „Mein elektrischer Erotikstuhl!“
Jetzt gibt es einen kleinen Rundgang mit Erläuterung. Der Rohrbisler lässt kein Detail aus: „Hinten sind Rüssel und Rückenlehne, inklusive Brustwarzenzwickarmen mit optionalem Elektroschock. Dazu zwei rostige Klemmzangen, in Hodennähe angebracht, die nach Bedarf erhitzbar oder unter Strom zu stellen sind. Unterhalb dreht sich eine Anuspresse, Größe L, unterstützt von einem Prostatapürierstab mit Rückwärtsgang. Ein Mono-Darmwickler rundet diesen Teilbereich ab. An der rechten Seite, auf Kopfhöhe, ist ein ausfahrbarer Puppenarm installiert, der einen Leckstein aus getrocknetem Pferdehoden hält. Linkerhand sehen Sie eine bewegliche Gelenkstange, aggressiv programmiert, die fortwährend und mit Hilfe einer schwarz lackierten Aubergine, an deren Ende Schamhaare geklebt sind, den Mund zu penetrieren versucht. Dabei kommen sich Pferdehoden und Aubergine ständig in die Quere. Konstruktionsfehler, sehr bedauerlich. Unter dem Bodensatz ist eine Einschlauch-Melkmaschine installiert, die batteriebetrieben ist, einen starken Unterdruck erzeugt und sich erst abschaltet, wenn eine bestimmte ‚Füllmenge‘ erreicht ist. Nebenbei dient die Maschine zur Produktion von Eierlikör aus eigenem Anbau. Capiche?“
Stürzel räuspert sich.
„Nun …“
„Ich brauche einen Testkandidaten.“
„Wiederschaun, Herr Rohrbisler.“
S/M ist ein Erweiterungspaket und wird auch im zwischenmenschlichen Bereich angewandt. Oder allein im stillen Kämmerchen. Draußen Oberstudienrat, privat Kellermeister, Sklave, Windelträger. Man verschleudert auf Teilzeitbasis Amt und Würde, man taucht ab und ein in eine Mischung aus Urin und Sperma. Mit einem Haken: Im Himmel, nach dem Abgang, wenn man durch das Licht geschwommen ist und den großen Feuerkreis erreicht hat, der einem entflammten Anus ähnlich sieht, wird keiner warten, weil alle tief enttäuscht sind.
So stellt Stürzel sich das so vor.
Den Katzenschwanz in die Luft gereckt wird an der warmen Milch geschleckt. Welch‘ Katze macht sich dabei schon Gedanken zu der Produktion?
Ein paar Häuser weiter. Heinz Oberlechner zieht sich den Eisenbahnerkittel über, verschließt bedächtig die blauen Knöpfe und macht sich daran, in den Keller zu steigen. Man kann sich das so vorstellen: Eine Lok, die schon viel zu lang durch einen Tunnel düst und der Ausgang ist nur ein kleiner Lichtfleck, nicht größer als ein Staubkorn. Wobei Herr Oberlechner betont langsam nach unten steigt. Das Knarren der Stufen dehnt sich und wird in seinem Schädel zu einer Sinfonie. Durch eine Tür, durch einen schmalen Gang in einen Raum und wenn man es nicht besser wüsste: Hobbykeller.
Auf einer Spanplatte steht das originalgetreue Modell einer Bergkette. Im Maßstab 1:3500. Pappmaché, Puderzucker, Eierschalen, Haferflocken und Griebenschmalz. Eine sanfte Steigung, grün gezuckert, vereinzelt stehen Plastiktannen. Darüber, aus einem Steinhang heraus, erheben sich drei schroffe, ineinander verzahnte Bergmassive. Eine wunderschöne, liebevoll gestaltete Landschaft. Landschaft Nummer Zehn. Bestehend aus Henkerkamm, Galgenspitze und Waisenwipfel.
Herr Oberlechner sieht sich um, betrachtet die aufgestellten Schaukästen, die in den Regalen stehen. Darin: zersprengtes Papier, geschmolzene Bäume. Die Überreste des Höllensteins. Daneben die des Teufelsjochs und der Schnitterbergklamm.
Herr Oberlechner denkt an den Reporter, der ihn heimgesucht hat. Von dem er meint, dass er ihn heimgesucht hat. Das müsste vor ein paar Tagen gewesen sein. Vielleicht auch vor Wochen. Irgendwann in dieser Zeit. Herr Oberlechner untersucht das nicht näher.
Der Reporter wollte gehört haben, dass Herr Oberlechner ein Spezialist für Bergtopographie sei und sicher etwas zu den ständigen Murenabgängen sagen könne. Aber das Interview ist dann sozusagen selbst zu einer Mure geworden.
Er hat den Mann vom Radio in den Keller geführt und ihm seine Modelle gezeigt.
„Modelle der Wirklichkeit.“
„Beeindruckend, Herr Oberlechner!“
Der Reporter hat sogleich das Aufnahmegerät eingeschaltet. Und ist direkt eingestiegen in das Interview: „Herr Oberlechner. Sie können anhand Ihrer Modelle Murenabgänge vorhersagen ...“
Anstatt aber etwas Gescheites zu antworten, hat der Oberlechner die Faust gehoben. Ungewöhnlich langsam. Und am höchsten Punkt hat er die Faust geschüttelt wie wenn man einem Lausbub hinterher schimpft, der einem die Schnürsenkel zusammengebunden hat. Und dann ist die Faust brutal im Teufelsjoch eingeschlagen.
Der Reporter ist direkt weggezuckt und hat mit zitternder Stimme in sein Gerät hineindiktiert: „Gleich kommt die Mure.“
Plötzlich hat der Oberlechner eine Axt gehabt. Und der Reporter ist aus der einen Deckung in die nächste hinein.
„Jetzt zeig ich dir mal einen Murenabgang. Und zwar einen, der sich gewaschen hat!“
Mit einem asiatischen Kampfgruß hat der Oberlechner sich den Kittel vom Körper gerissen. Die Knöpfe sind gegen die Wände. Der Reporter hat das Aufnahmegerät wieder abgeschaltet.
„Elendiger! Elendiger!“
Oberlechners Stimme hat sich regelrecht überschlagen. Mehrfach. Speichel ist gespritzt. Volle Ladung auf den Reporter und das Aufnahmegerät.
„Abbrechen?“, hat der Reporter gefragt.
„Abbrechen!“, hat der Oberlechner gebrüllt und dem Höllenstein den Gipfel vom Hals gerissen. Sein Gesicht war rot und aufgebläht.
Der Reporter ist rückwärts die Treppe hinauf und mit großen Schritten aus dem Haus geflüchtet.
Herr Oberlechner verschließt die Erinnerung an den Reporter in einer defekten Schublade. Weil: Kein Schub mehr.
Jetzt zerrt Oberlechner an den Knöpfen. Bis der Kittel fällt. Dann: Kernschmelze, Götterdämmerung, Himmelfahrt. Oberlechner hackt, sprengt große Löcher in die Pappmasse.
„Ihr macht mich nicht kaputt!“, brüllt er.
Sein Kopf droht zu platzen.
„Ihr macht mich nicht kaputt!“
Er zerdrückt einen Hof, ballt ihn zu einer Kugel, zerstampft mit den Füßen einen Wald, wühlt sich dann in die Überreste und liebkost und küsst die Bergtrümmer.
Unten im Keller sitzt der Katzenmeister Wartet auf die Katzengeister Auf dass sie ihm ein Opfer bringen Und ihm grausig Lieder singen.
Stürzel erwacht aus tiefem Schlaf, legt ein Bein auf die Bettkante, tastet mit dem großen Zeh nach seinen Schlappen.
Vor dem Fenster kriecht Nebel. Es ist kalt. Das Feuer im Kamin ist erloschen, Rosa bereits auf der Pirsch.
Stürzel kratzt sich erst am Sack, dann am Kopf. Er schnuppert an seinem Finger – ein männlicher Automatismus. Immer auf der Jagd: nach Beute, nach neuen Gerüchen.
Wieder ein Tag. Stürzel fühlt sich matt. Seine Träume zertrümmern den Rest an Lebensfreude mit Inbrunst. Er fühlt sich dauerhaft erledigt. Nicht depressiv. Manisch schon. Kaputt auch. Auto kaputt, Motor futsch, geht nur noch das Licht – so in etwa. Den mit Schlafmitteln erzwungenen Schlaf bezahlt er Morgen für Morgen mit ausufernder Agonie.
Augen auf. Das Satellitentelefon schrillt, es lässt nicht nach. In Stürzels Kopf wird eine Nummer gewählt, Bilder rollen, Projektoren werden angeworfen. Stürzel erinnert sich.
Bei der Abschlussprüfung wird am lebenden Schwein praktiziert. Für den Bauern ist das Schwein laufendes Geld. Für den normalen Menschen laufendes Essen. Und für die Wissenschaft ein laufendes Testobjekt.
Das Schwein ist schon ziemlich gar, im übertragenen Sinn. Es rollt mit den Augen und versucht, sich ganz klein zu machen. Es strengt sich richtig an, windet sich, knurrt sogar. Aber es gibt kein Entrinnen für das Schwein, es ist an einem Gynäkologenstuhl fixiert.
In dem nackten Raum liegt eine unsichtbare Schwingung, die die Schritte nachhallen lässt. Alles Gesprochene klingt wie das Echo nach dem Sprung.
„Schweine ähneln dem Menschen – nicht nur was die Hautfarbe angeht.“, erklärt der Professor, der die Prüfung abnimmt. „Bestimmte Bereiche wie Gesichtsausdruck und Nase haben durchaus etwas Menschliches …“
Stürzel nickt.
„So, Stürzel, jetzt zeigen Sie mal wo der Gynäkologe seinen Wolkenpalast hinsetzt.“
Die Sau quiekt.
„Wir wollen Chlamydien feststellen. Was wäre der erste Schritt?“
„‚Grüß Gott‘ sagen.“, sagt Stürzel.
„Und schon ein Punkt weniger. Noch so eine dumme Bemerkung und sie dürfen im Frauenknast praktizieren.“
„Fingerintuitives Hineinfiebern.“, sagt Stürzel.
„Richtig. Und wie sieht das technisch aus?“
„Man führt den Finger etwa 2,5 Zentimeter in die Vagina ein. Tastet erst, ob sich noch Samenflüssigkeit im Luststamm befindet. Das könnte durchaus entzündlich sein …“
„Gut. Also walten Sie …“
Stürzel nähert sich dem Schwein. Ein kurzsichtiger Mensch könnte hier auch auf eine weibliche, etwas wuchtige Person tippen. Vorsichtig tastet sich sein Finger vor, dringt behutsam ein.
Das Schwein fiept.
„Langsam.“, sagt der Professor. „Machen Sie die Sau glücklich.“
Stürzel bewegt seinen Finger langsam vor und zurück.
Der Professor unterbricht sofort: „Gefährlich, Stürzel. Sehr gefährlich! Vor und zurück gibt es nicht in der Gynäkologie, nur einmal schnell hinein und dann unauffällig wieder hinaus. Niemals langsam vor und zurück. Da sind Sie schneller im Knast als Sie ein O mit den Lippen formen können.“
„Äha.“, sagt Stürzel.
„Auf so etwas reagieren Frauen,“, sagt der Professor, „wenn man ernst macht. Wenn man etwas simuliert. Da werden die Röhrchen gleich spitz.“
Stürzel schüttelt es.
‚So redet man nicht.‘, denkt er. ‚So redet nur ein geborenes Arschloch, mit Verlaub.‘
Und er notiert gedanklich, dass alle geborenen Arschlöcher in Arschlochnationalparks gehalten und mit Scheiße gefüttert werden sollten.
Darmowy fragment się skończył.