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Carine Bernard

App to Date

Jenny gehört zu einem Team von Psychologen, das eine neuartige Dating-App entwickelt. Eigene Verabredungen trifft sie nur, um die App zu testen. Doch dann verliebt sie sich in Jakob – mit verheerenden Folgen für die Männer in ihrer Umgebung: Eines ihrer Dates stirbt, und Jakob steht auf einmal unter Mordverdacht.

Jenny will seine Unschuld beweisen und stößt auf einen skandalösen Missbrauch der App. Als sie endlich erfährt, wer hinter all dem steckt, ist es fast zu spät …

Über Carine Bernard

Carine Bernard wurde 1964 in Niederösterreich geboren. Seit 2002 lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Deutschland in der Nähe von Düsseldorf.

Sie fotografiert gern und geht in ihrer Freizeit Geocachen. Beim Erfinden von Geocache-Rätseln entdeckte sie ihre alte Liebe zum Schreiben wieder und nach einigen Rätselgeschichten rund um Molly Preston folgte 2015 ihr erster Roman

FREITAG

Jenny stand ein wenig abseits und beobachtete unauffällig die Umstehenden. Die meisten hatten ein Smartphone in der Hand und starrten gebannt auf den Bildschirm. Einige von ihnen waren bestimmt Dater. Den ein oder anderen hätte sie durchaus schon treffen können. Aber keines der Gesichter kam ihr bekannt vor, zum Glück.

Es knisterte im Lautsprecher, und eine schnarrende Stimme kündigte den einfahrenden ICE an. Der Triebwagen kam in Sicht und drückte mit seiner imaginären Bugwelle die Leute an der Bahnsteigkante zur Seite. Zischend öffneten sich die Türen und spuckten Menschen aus. Jenny stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals.

»Jenny!« Ein Arm erhob sich über die Menge und bewegte sich hin und her. Zwischen den Köpfen der Menschen flackerte der rote Haarschopf ihres Bruders.

Das Feierabendgedränge auf dem Bahnsteig schwappte über Jenny hinweg und drohte, sie zum Ausgang mitzureißen. Kurz entschlossen kletterte sie auf die Sitzfläche einer Wartebank. Ungefähr zwei Waggons entfernt sah sie ihn. Er war stehen geblieben und bildete ein Hindernis in dem stetigen Strom von Aussteigenden. Jenny winkte heftig. »Marc, hier bin ich!«

Sein Gesicht leuchtete auf. Mit den Armen schob er die Menschen beiseite und pflügte durch Hüte, Mützen und hochgeschlagene Mantelkragen. Als er vor ihr stand, umfasste er ihre Mitte, hob sie von der Bank und drückte sie so fest an sich, dass sie durch Parka und Pullover und Strickjacke hindurch seinen Herzschlag zu spüren glaubte.

»Schön, dich zu sehen, Schwesterherz!«

Jenny musste den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm hochzuschauen. Ihr kleiner Bruder war ihr schon vor Jahren über den Kopf gewachsen. Die Haarfarbe, die leuchtend blauen Augen und die vielen Sommersprossen, die die Kontur der Lippen verwischten, wiesen sie dennoch als Bruder und Schwester aus. Merkmale, die alle fünf Schürmann-Kinder teilten, und die ihnen in der Schule den Spitznamen »Weasley-Bande« eingetragen hatten.

Marc drückte sie noch einmal und schmatzte ihr zwei Küsse rechts und links auf die Wangen. Dann schob er sie von sich und musterte ihr Gesicht. »Du siehst gut aus«, stellte er fest. »Das Arbeiten scheint dir zu bekommen.«

Jenny lachte. »Was soll das denn heißen?«

Er zwinkerte. »Gar nichts. Nur dass wir uns viel zu lange nicht gesehen haben.«

»Da hast du recht.«

Seit Marc in München arbeitete, kam er nur noch selten nach Hause. Nicht einmal Weihnachten hatte er mit der Familie verbracht – seine Firma hatte ihn nach China zu einem Kongress geschickt. Aber nun hatte er beruflich in Düsseldorf zu tun, und Jenny freute sich, ihn endlich wiederzusehen.

Die Menschen auf dem Bahnsteig hatten sich inzwischen verlaufen. Jenny sah sich um und deutete auf die nächstgelegene Treppe. »Da hinüber.«

Marc rückte seinen Rucksack zurecht und folgte ihr. »Bist du mit dem Auto da?«, wollte er wissen.

»Ich habe kein Auto«, gab sie zurück. »Das macht in Düsseldorf keinen Sinn.«

»Vernünftig und sparsam wie immer«, neckte Marc sie. »Ich hätte gedacht, dass du dir mit deinem Job an der Uni zumindest einen Kleinwagen leisten könntest.«

»Du vergisst, dass ich nur eine halbe Stelle habe. Ich mache meinen Master, ich bin immer noch Studentin.«

»Ja, schon, aber …«

»Außerdem wohne ich praktisch an der Uni, ich brauche kein Auto.«

Marc seufzte theatralisch. »Wenn wir jetzt noch eine Weltreise mit den Düsseldorfer Verkehrsbetrieben vor uns haben, muss ich erst etwas essen.«

Jenny hob die Brauen. »Ich dachte, wir fahren zu mir, und ich koche uns etwas.«

»Oh nein, das kommt gar nicht in Frage. Ich lade dich ein.«

»Aber ich …«

»Nichts gegen deine Kochkünste, Schwesterherz, aber du kochst mir zu gesund. Ich brauche jetzt Sauerbraten und Altbier und …«

»Ja, schon gut, ich habe verstanden.« Jenny lachte. Sie kannte die Portionen, die ihre Brüder verdrücken konnten, und war im Grunde dankbar für den Vorschlag. »Dann auf in die Altstadt!«

Drei U-Bahn-Stationen und ein paar Minuten Fußmarsch später saßen sie im »Benders Marie« an einem massiven Holztisch, speckig und dunkel von der jahrzehntelangen Benutzung. Ein Kellner, die traditionelle dunkelblaue Schürze um den Bauch gebunden, stellte ungefragt zwei Gläser mit Altbier vor ihnen ab und malte auf jeden Bierdeckel einen Strich.

Jenny sah aus dem Fenster, es hatte zu regnen begonnen, Regenschirme bevölkerten die Straße, und die Menschen beeilten sich, ins Trockene zu kommen.

»Bei uns in München liegt Schnee«, bemerkte Marc. »Es ist letzte Woche noch einmal richtig kalt geworden.«

»Schnee hatten wir dieses Jahr noch gar nicht«, erwiderte Jenny. »Nur Regen.«

»Düsseldorf, die Stadt mit vierhundert Regentagen pro Jahr«, spottete er und verzog das Gesicht. »Jetzt weiß ich wieder, warum ich weggegangen bin.«

Jenny boxte ihn spielerisch gegen den Arm. »Du bist doch gerade erst angekommen und willst schon wieder weg?«

»Aber nein, ich mache nur Spaß.« Marc nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier. »Ich vermisse das alles hier wirklich.«

Er zog die Speisekarte heran und schlug sie auf. »Was möchtest du?«

Jenny vertiefte sich ebenfalls in die Karte. »Ich probiere die Gemüsepfanne«, entschied sie.

»Und ich nehme den Sauerbraten und hinterher Apfelkuchen.«

»Weißt du schon, was du machen wirst, wenn du mit deinem Masterstudium fertig bist?«, fragte Marc, nachdem der Kellner die Teller abgeräumt hatte.

Jenny schüttelte den Kopf. »Ich dachte immer, ich würde mich zur Therapeutin ausbilden lassen, aber inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher. Warum fragst du?«

»Du weißt ja, dass ich in der Marktforschung arbeite.«

Jenny nickte.

»Wir entwickeln Testumgebungen für neue Produkte, aber nicht nur im technischen Sinn. Wir vergleichen auch Dinge wie Usability, Kundenerwartung, Kaufwille, Needability. Da gehört das Marketing genauso dazu wie die Farbgebung eines neuen Produkts oder irgendwelche Alleinstellungsmerkmale.«

Jenny sah ihn überrascht an. »Und was hat das mit mir zu tun?«

»Wir beschäftigen auch einige Psychologen«, erwiderte Marc. »Wenn du also mal einen Job brauchst …«

Jenny lachte. »Danke, das ist lieb von dir. Aber ich arbeite lieber mit Menschen als mit Computern.«

»Da fällt mir ein, ich habe dir etwas mitgebracht.«

Er öffnete seinen Rucksack und brachte einen kleinen flachen Karton zum Vorschein. Jenny nahm ihn entgegen und musterte ihn neugierig. Er war unverpackt, hatte keinen Aufdruck und war ziemlich schwer.

»Was ist es?«

»Mach es auf.« Marc grinste spitzbübisch.

Jenny schob die Lasche zur Seite und klappte den Deckel auf. Ihre Augen wurden groß.

»Aber Marc, das geht doch nicht!« Mit spitzen Fingern nahm sie ein Handy aus der Aussparung. Es war groß, fast so groß wie eine Tafel Schokolade, und schimmerte in mattem Gold.

»Das ist das neueste Modell«, erklärte Marc stolz. »Ich habe es dir schon eingerichtet, du musst nur noch deine SIM-Karte einstecken und dich anmelden.«

»Das ist doch viel zu teuer!« Sie legte es in die Schachtel zurück und schob sie von sich weg.

»Blödsinn«, erwiderte Marc und nahm das Handy wieder heraus. »Ich habe es nicht gekauft, es stammt aus unserer letzten Testreihe. Aber es ist so gut wie neu, und zu Weihnachten hat unser Chef die Geräte an die Mitarbeiter verteilt.«

»Wieso behältst du es denn nicht selbst?«

»Was soll ich mit einem goldenen Handy?« Marc verzog abfällig das Gesicht. »Das ist was für Mädchen. Außerdem habe ich eines, ich brauche kein neues.« Er zog ein schlankes stahlgraues Telefon aus der Gesäßtasche seiner Jeans, das in seiner großen Hand fast verschwand. »Siehst du?«

Jenny schluckte. Ihr eigenes Handy war nichts Besonderes, aber sie stellte daran auch keine großen Ansprüche. Marc wartete auf ihre Reaktion, und in seinen Augenwinkeln lauerte schon ängstlich die Enttäuschung.

»Danke, Marc.« Jenny lächelte ihn an. »Wenn das so ist, dann nehme ich es gerne an.«

Marc strahlte. »Ich wusste doch, dass es dir gefällt.« Er öffnete eine Klappe an der Seite des Geräts. »Gib mir dein Handy, ich stecke die SIM-Karte gleich für dich um.«

Zögernd nahm Jenny ihr Smartphone aus der Tasche. »Was ist mit meinen Daten?«

»Die sind doch in der Cloud, Dummerchen. Sobald du dich angemeldet hast, wird alles automatisch übertragen.«

Mit einem melodiösen Dreiklang wurde der Bildschirm hell, und der Startbildschirm erschien.

»Hier, gib deine Zugangsdaten ein.«

Jenny tat wie geheißen und sah staunend zu, wie sich die Statusleiste mit Leben füllte. Nach wenigen Minuten war alles erledigt.

»Nun sollte alles so sein wie vorher«, sagte Marc.

»So wie vorher?« Jenny lachte. »Wohl kaum.«

»Besser als vorher«, stimmte Marc schmunzelnd zu. »Vor allem die Kamera ist eine Wucht. Sie hat 24 Megapixel, kannst du dir das vorstellen?«

Jenny schüttelte stumm den Kopf. Nein, sie konnte sich darunter gar nichts vorstellen, aber sie erkannte das Icon der Kamera-App in der unteren Ecke und rief sie auf. Sie richtete das Telefon auf Marcs Gesicht und drückte auf den Auslöser. Trotz des gedämpften Lichts in der Gaststube wurde es ein perfekt belichtetes, scharfes Foto.

»Das ist super«, murmelte sie und sah hoch. »Nein, es ist wundervoll!«

Marc zwinkerte ihr zu. »Was macht eigentlich die Liebe?«, fragte er unvermittelt.

Jenny sah zur Seite. »Liebe?« Im Augenblick traf sie Verabredungen nur aus wissenschaftlichem Interesse, aber das konnte sie ihm nicht gut sagen. »Dafür habe ich doch gar keine Zeit!«

»Keine Zeit für die Liebe? Schwesterherz, das ist nicht dein Ernst!«

»Ich stecke mitten in meiner Masterarbeit«, verteidigte sie sich halbherzig. »Ich habe wirklich keinen Nerv, auch noch auf die Piste zu gehen.«

»Ich frage mich gerade …«

»Was denn?«

»Es gibt da eine neue App, mit der man Leute daten kann, die ist richtig gut. Ich glaube, die solltest du mal ausprobieren.«

»Eine App?« Jenny wurde heiß und kalt. Er meinte doch nicht etwa …

»Sie heißt App2Date.«

Jenny schloss für einen kurzen Moment die Augen. Doch, er meinte genau das.

»Sie wurde von Psychologen entwickelt«, fuhr Marc fort, »und wirklich alle reden momentan darüber. Ich kann nicht glauben, dass du noch nicht davon gehört hast.«

Wieso fing ihr Bruder ausgerechnet jetzt mit der App an? »Ich, äh, weißt du …«

Marc grinste sie an. »Gib mir noch mal dein Handy, ich installiere sie dir.«

»Marc, nein, ich will das nicht. Ich …« Verflixt, wie kam sie aus der Nummer wieder heraus, ohne ihm alles zu verraten?

»Keine Widerrede. Gib her!« Er sah sie streng an. »Du kannst nicht immer nur über deinen Büchern sitzen, du musst endlich in der Neuzeit ankommen.«

Jenny seufzte resigniert und schob ihm das goldene Handy hin. »Bitte schön.« Zum Glück hatte er keine Ahnung.

Es dauerte nicht lange, und auf dem Display leuchtete das bunte Logo von App2Date auf. Es drehte sich wie ein Globus, während die App ihre Daten scannte.

Du lieber Himmel! Ihr Dozent hatte sie eindringlich davor gewarnt, nein, ihnen geradezu verboten, die Client-Version der App selbst zu benutzen. Aber nun war es zu spät. Wenn sie das Erstellen des Profils jetzt abbräche, müsste sie es Marc erklären, und das ging erst recht nicht. Niemand durfte davon wissen, Geheimhaltung hatte oberste Priorität.

Dem schlechten Gewissen zum Trotz war sie nun doch neugierig, wie ihr Profil aussehen würde. Gespannt beobachtete sie, wie das kreiselnde Logo zum Stillstand kam. Die Profilseite sah genauso aus wie die vielen Profilseiten, mit denen sie im Lauf der letzten Monate gearbeitet hatte, und trotzdem klopfte verrückterweise ihr Herz. Zum ersten Mal betrachtete sie ihr eigenes Profil.

Ein rotes Tier mit buschigem Schweif saß in der Mitte des Bildschirms, Feuerrotes Eichhörnchen stand darunter. Sie tippte es an, es verblasste, und drei Wörter erschienen.

»Freundschaft, Liebe oder Sex?« Marc war aufgestanden und um den Tisch herumgekommen. »Liebe, keine Frage, oder?« Er griff über ihre Hand hinweg, und bevor Jenny protestieren konnte, tippte er auf das Herz in der Mitte. »Und hetero.«

Er bestätigte die letzte Eingabe, der Bildschirm wurde kurz dunkel, und die Kartenansicht erschien. Die Punkte tauchten auf, viel schneller als sie es von ihrem alten Handy kannte. Viele rote, einige gelbe und nur zwei grüne.

»Die Punkte hier sind andere Dater. Die grünen Punkte sind die, die am besten zu dir passen«, erklärte Marc unnötigerweise. Aber woher sollte er auch ahnen, dass sie genau wusste, was da zu sehen war. Besser als er, besser als jeder andere.

»Das sind aber nicht viele«, antwortete sie, um irgendetwas zu sagen.

»Du bist eben speziell, kleine Schwester«, erwiderte er und zwinkerte ihr zu. »Bei allen anderen Dating-Apps kannst du deine Daten und deine Vorlieben selbst eingeben. Damit beeinflusst du aber das Ergebnis. App2Date dagegen liest die Daten direkt aus deinem Handy aus, natürlich anonym, und erstellt daraus selbstständig ein Profil. Wer zu dir passt, wird dir mit einem Ampelsystem angezeigt: Rot passt gar nicht, Gelb ist okay, und Grün ist perfekt.«

»Und das funktioniert wirklich?« Sie rang sich ein Lächeln ab. Ihrem Bruder gegenüber so zu tun, als wüsste sie das alles nicht, fiel ihr schwer.

»Und wie!« Er grinste. »Ich habe in den vergangenen Monaten mehr Dates gehabt als in den letzten drei Jahren.« Er nahm ihr das Handy aus der Hand. »Schau her, die Punkte, die in der Nähe sind, kannst du antippen, dann bekommst du den Namen angezeigt. Der gelbe da zum Beispiel ist Stahlgrauer Habicht. Der rote dort auf dem Burgplatz ist Schneeweißer Leopard.«

Jenny nickte.

»Der grüne Punkt hier über dem »Benders Marie«, das bin wohl ich.« Marc tippte auf den Punkt, und der Name Schokobrauner Dalmatiner erschien. »Wenn du die Sprechblase neben dem Namen antippst, kannst du mit dem anderen chatten und ein Date vereinbaren. Die App schlägt dir dann einen Treffpunkt in der Nähe vor.«

Er zog sein eigenes Handy aus der Tasche und rief App2Date auf. »Wenn du jemanden datest, dann …«

Er berührte den grünen Punkt, der über dem Lokal aufgetaucht war, in dem sie saßen. Das rote Eichhörnchen erschien auf seinem Bildschirm, und er tippte es an. Ein unregelmäßiges Muster aus schwarzen und weißen Blöcken baute sich auf. Jenny tippte auf den Dalmatiner auf ihrem Handy, und auch bei ihr erschien das Muster, ähnlich, aber nicht völlig gleich.

»Jetzt halten wir unsere Handys aneinander«, sagte Marc.

Jenny hob ihr Telefon seinem Display entgegen, die Frontkamera las den grafischen Code und bestätigte den Handshake mit einem kurzen Vibrieren. Der Punkt, der den Dalmatiner repräsentierte, hatte jetzt einen grünen Rahmen, und Jenny wusste, dass er in der Kontaktliste der App gespeichert war.

»Keine Namen, keine Telefonnummern. Die Avatare vergibt die App. Jeder gibt dem anderen nur das preis, was er möchte, und trotzdem klappt es. Ein perfektes System.« Marc strahlte sie an, stolz, als ob er die App selbst programmiert hätte.

Jenny konnte ihm nicht in die Augen schauen. »Ein nettes Spielzeug«, murmelte sie.

»Es ist viel mehr als das!« Marc schaltete das Display aus und steckte sein Handy zurück in die Tasche. »Frag mich nicht, wie die Programmierer das machen, aber es funktioniert. Die Frauen, die ich dank dieser App getroffen habe, waren alle wundervoll, und ich hätte sie sonst nie kennengelernt.«

»Aber die große Liebe hast du damit nicht gefunden«, wandte Jenny ein.

»Nein, bis jetzt nicht«, gab Marc zu. »Es gibt eben noch mehr zwischen zwei Menschen, als eine App wissen kann. Aber sie ist ein guter Anfang und verbessert die Chancen, dem richtigen Partner zu begegnen, enorm.« Er sah sie an. »Probier es doch einfach mal aus.«

»Das werde ich.« Jenny schob das Telefon in ihre Umhängetasche. »Wissen eigentlich Mutter und Vater, dass du im Lande bist?«

»Nein, ich habe ihnen nichts gesagt. Mum würde nur wieder unnötig Wind um mich machen.«

Jenny schmunzelte. »Freu dich lieber. Wir sehen dich selten genug.«

»Ich freue mich ja. Ich muss nur …« Er zögerte. »Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?«

Sie sah ihn überrascht an. »Hast du kein Hotel?«

»Doch, aber erst ab Montag«, erklärte er. »Ich wollte eigentlich das Wochenende bei den Eltern verbringen, deshalb bin ich heute schon gefahren. Aber ich habe vorhin erfahren, dass ich morgen früh zum Messebüro muss, um noch etwas zu klären. Wenn ich heute schon nach Hause fahre, lässt mich Mum bestimmt nicht mehr weg.«

Jenny lachte. »Verstehe. Ja, von mir aus. Du kannst auf meiner Couch schlafen.«

SAMSTAG

Jenny hatte bereits Brötchen beim Bäcker geholt, den Frühstückstisch gedeckt und Kaffee gekocht, als Marcs roter Haarschopf endlich aus dem Schlafsack auftauchte.

»Riecht gut«, nuschelte er, ohne die Augen zu öffnen.

»Guten Morgen, kleiner Bruder«, erwiderte Jenny. »Das Frühstück ist fertig!«

»Mhm.« Marc streckte sich, bis sich der Schlafsack spannte, dann setzte er sich auf. »Guten Morgen!«

Er schälte sich aus der Ballonseide und verschwand im Bad. Jenny sah ihm hinterher. Die App hatte ihn gestern als grün, als perfekt passenden Partner angezeigt. Das war eine Überraschung. Sie hatte immer gedacht, dass sie und Marc sich nicht nur äußerlich ähnelten. Aber offenbar gab es auch genug Gegensätze, weswegen die App ihre Profile als harmonisierend einstufte.

Natürlich kannte sie die Algorithmen, nach denen die Profile abgeglichen wurden, sie war schließlich dabei gewesen, als sie entwickelt wurden. Sie wusste, dass es entgegen der landläufigen Meinung nicht nur auf Übereinstimmungen ankam. Genau genommen war es die Kombination aus Ähnlichkeiten und Gegensätzen in bestimmten Bereichen, die darüber entschied, wie gut zwei Menschen zusammenpassten. Herauszufinden, welche das genau waren, war Teil der Arbeit ihres Teams, und sie wurden dabei immer besser. Dass Marc ihr Bruder war, konnte der Algorithmus nicht wissen.

Als er zurückkam, versuchte sie, ihn nicht mit den Augen der Schwester zu sehen. Groß und schlank, aber immer noch sehr jungenhaft mit schmalen Schultern und dem sommersprossigen Gesicht. Die etwas zu langen Haare trugen ihr Übriges dazu bei, ihn jünger aussehen zu lassen als die sechsundzwanzig Jahre, die er zählte. Wie er jetzt in der Badezimmertür stand, die Locken verstrubbelt vom Schlaf, in Boxershorts und einem blauen T-Shirt mit verwaschenem Malibu-Aufdruck, sah er eher wie ein Student im ersten Semester aus und nicht wie der erfolgreiche Juniorbereichsleiter einer aufstrebenden Firma.

»Was ist los, warum siehst du mich so an?«, fragte er.

»Nichts«, gab Jenny zurück. »Ich habe mir nur gerade gedacht, dass du dich überhaupt nicht verändert hast.«

»Das will ich hoffen.« Er drückte ihr einen dicken Schmatz auf die Wange und setzte sich an den Frühstückstisch. »Oh, es gibt frische Brötchen!«

»Ich kann dich ja nicht ohne Frühstück gehen lassen, oder?« Jenny schenkte ihm Kaffee ein, während Marc dick Nutella auf sein Brötchen klatschte.

»Jetzt klingst du genau wie Mum«, sagte er mit vollem Mund.

»Ich hoffe nicht.« Jenny nahm sich ebenfalls ein Brötchen. Sie halbierte es und tunkte es in ihren Kaffee. »Was hast du heute vor?«

»Ich fahre gleich zum Messegelände, ich muss mit jemandem von der Messeverwaltung sprechen. Einer unserer Mitarbeiter ist seit gestern da, um den Aufbau unseres Standes zu beaufsichtigen, und es gibt wohl Probleme.«

Jenny hob die Brauen. »Aber wieso musst du …«

»Sie haben unseren Stand an eine neue Stelle verlegt. Das ist nicht weiter schlimm, aber wir brauchen jetzt eine andere Beleuchtung. Ich bekomme das schon geregelt.«

Jenny lächelte ihn an. Von dem kleinen Jungen war jetzt nichts mehr zu bemerken. »Das glaube ich auch.«

Den restlichen Tag verbrachte Jenny mit Hausarbeit. Sie traf sich mit einer Freundin, die ein Auto hatte, zum wöchentlichen Einkauf beim Großmarkt, sie putzte das kleine Ein-Zimmer-Appartement, das sie in einem Wohnkomplex bewohnte, der zur Uni gehörte, sie goss ihre Blumen, wusch Wäsche und erledigte all die vielen Dinge, für die sie während der Woche keine Zeit hatte.

Ihr Masterstudium näherte sich der heißen Phase, und sie war kaum noch zu Hause. Sie hatte alle Kurse bereits absolviert und verbrachte die meiste Zeit am Institut für vergleichende Psychologie mit dem großen Forschungsprojekt von Doktor Carsten Hennrich, dem Dozenten für Psychometrie, der auch der Betreuer ihrer Masterarbeit war. Obwohl sie nur eine halbe Stelle hatte, schien sie manchmal rund um die Uhr damit beschäftigt zu sein, endlose Datenblätter auszufüllen, Profile auszuwerten, Berechnungen anzustellen und mit dem Programmierer der App zu diskutieren.

Nur ein kleiner Teil ihres Jobs hatte unmittelbar mit ihrer Masterarbeit zu tun, die wiederum nur ein kleines Rädchen in diesem riesigen neuen Gebiet der Psychometrie war, in dem es darum ging, Menschen in Zahlen und Formeln zu zerlegen, die man mit wissenschaftlichen Mitteln vergleichen konnte.

Manchmal wunderte sie sich selbst, wie sehr sie sich inzwischen für diese Arbeit begeisterte. Als Studienanfängerin hatte sie sich als Therapeutin gesehen, als künftige Retterin psychisch kranker Menschen. Doch inzwischen hatte sie die Wissenschaft für sich entdeckt und fand ihre Tätigkeit ungemein spannend.

Carsten war daran nicht unschuldig. Ihr Dozent verstand es, selbst für die trockensten Datensätze noch Begeisterung zu entfachen. Und ihr Aufgabengebiet war beileibe nicht so trocken, wie es auf den ersten Blick aussah. Ihr Team hatte den Bereich der drögen Erstellung und Auswertung von Profilen längst verlassen und stieß mit zunehmendem Erfolg in das Neuland der Prognosen vor. Die App war Datenquelle und Testumgebung in einem, und weil sie funktionierte, waren immer mehr Menschen bereit, ihre privatesten Daten zur Verfügung zu stellen, in der Hoffnung, damit die Liebe ihres Lebens zu finden.

Als Jenny mit der letzten Wäsche aus der Gemeinschaftswaschküche wieder in ihre Wohnung kam, blinkte die Statusleuchte an ihrem neuen Handy, das auf dem Tisch lag. Eine Nachricht von Dana, ihrer Freundin und Kollegin: Ob sie Lust hätte, zum Essen zu kommen, ihre Mitbewohner hatten gekocht, und es wäre genug für sie da.

Jenny sah aus dem Fenster, es war bereits dunkel, und Regentropfen schlugen gegen die Scheibe. Einen Moment lang war sie versucht abzusagen, ihr kuscheliges Sofa und ein spannendes Buch erschienen ihr ungleich verlockender, aber dann gab sie sich einen Ruck. Das Wetter war keine Ausrede, Samstagabend alleine zu Hause zu hocken, und sie schickte der Freundin einen erhobenen Daumen zum Zeichen ihrer Zusage.

Auf dem Weg zu Dana bereute sie ihren Entschluss bereits. Der böige Wind trieb ihr den Regen ins Gesicht und schüttelte die nassen Bäume immer genau dann, wenn sie gerade darunter herging. Zum Glück wohnte Dana nicht weit entfernt, trotzdem war Jenny ziemlich durchnässt, als sie bei ihr ankam. Während sie auf den Türsummer wartete, wrang sie ihre grüne Strickmütze aus.

Danas Mitbewohner waren drei Männer, zwei Lehramtsstudenten, die schon seit ihrer Schulzeit ein Paar waren, und ein selten anwesender Soziologe. Auch heute fehlte er, weshalb Jenny seinen Platz am Küchentisch bekam.

Jenny wusste um die Kochkünste der beiden Männer und wurde nicht enttäuscht. Die Lasagne schmeckte himmlisch, der Rotwein war schnell geleert, eine zweite Flasche folgte, und als sie sich schließlich auf den Heimweg machte, hatte es zu regnen aufgehört. Der Mond leuchtete kalt vom Himmel und überstrahlte fast die wenigen Sterne, die in der Stadt zu sehen waren.

Trotz der inzwischen getrockneten Mütze fror sie, und sie beeilte sich, nach Hause zu kommen. Zwei Kapitel ihres Buches schaffte sie noch, bevor sie das Licht löschte. Alles in allem war es ein schöner Abend gewesen.

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