Czytaj książkę: «Das Buch der Bücher»
C. D. Gerion
Das Buch der Bücher
Ein Flüchtlingsroman
Impressum
© NIBE Media © C. D. Gerion
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für den Inhalt des Buches ist allein der Autor verantwortlich und er muss nicht der Meinung des Verlags entsprechen.
Created by NIBE Media
NIBE Media
Broicher Straße 130
52146 Würselen
Telefon: +49 (0) 2405 4064447
E-Mail: info@nibe-media.de
Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Der Roman enthält darüber hinaus zahlreiche Bezüge zu realen gegenwärtigen und historischen Ereignissen und Gegebenheiten.
Sei die Rose noch so voller Dornen,
so ist sie es doch wert, gehegt zu werden
- um der Liebe willen.
Sei die Geschichte noch so voller Schmerz,
so ist sie es doch wert, aufgezeichnet zu werden
- um der Wahrheit willen.
Samira
Inhaltsverzeichnis:
Erstes Buch – Flucht
Zweites Buch – Ankommen
Drittes Buch – Traumata
Viertes Buch – Die Rettung
Fünftes Buch – Das Ende (Epilog)
Erstes Buch – Flucht
Jetzt, wo die Geschichte doch noch ein so tragisches Ende gefunden hat, kommen wir nicht darum herum, alles noch einmal hervorzuholen. All das, was wir schon einmal zusammengestellt hatten, vor einem Dreivierteljahr, als wir sicher waren, es wäre geschafft.
Jetzt nämlich müssen wir ein weiteres Kapitel hinzufügen zu den Aufzeichnungen, Protokollen und Tagebucheinträgen aus unseren ersten anderthalb Jahren mit Adib. Es gilt vorbereitet zu sein für den Fall, dass man uns doch noch einmal kritische Fragen stellt. Wir wollen aber auch Klarheit für uns selbst, damit diese Geschichte uns nicht auf Dauer in unseren Alpträumen heimsucht, so wie seine Geschichte unseren Adib. Und möglicherweise werden auch unsere Kinder eines Tages genau wissen wollen, wie es dazu kommen konnte, dass dieses Abenteuer ihrer Eltern so endete.
An den Anfang gehören die Aufzeichnungen, die uns der Junge an einem Tag überreicht hat, an dem wir alle noch voller Optimismus gewesen sind – am Morgen seines achtzehnten Geburtstags.
MEINE FLUCHTGESCHICHTE
– Für Mama Martina und Papa Mitch –
So steht es vorne auf dem weißen Aufkleber, eigenhändig geschrieben von unserem Jungen, in sorgfältig ausgemalten Buchstaben. Die mehr als hundert Seiten in dem schwarzen Hefter sind eng bedruckt in Kursivschrift – so, als müssten sich die Buchstaben anlehnen und die Sätze Halt suchen aneinander.
Ich weiß noch, wie Martina gestaunt hat. „Das ist ja ein ganzes Buch.“
Heute wissen wir, dass es vor allem sein schlechtes Gewissen war, das den Jungen dazu gebracht hat, die Geschichte seiner Flucht aufzuschreiben – extra für uns. Schlechtes Gewissen, weil er es nicht vermocht hat, uns die eigentliche Geschichte anzuvertrauen. Wir haben diese Seiten damals also zur Kenntnis genommen, ohne den Schlüssel zu ihrem vollen Verständnis zu haben.
Sobald der Junge zur Haustür raus war, haben wir es uns in unserer Sitzecke bequem gemacht, um uns sein ‚Buch‘ abwechselnd vorzulesen.
„Du zuerst.“ Ich habe Martina den schwarzen Hefter über den Tisch geschoben. Adib war ja zuallererst ihr Junge.
Martina hat auf das schwarze Cover hinuntergesehen, als würde sie sich fürchten vor dem, was auf den Seiten dahinter zu lesen sein würde.
„Nein, du zuerst. Schließlich ist er auch dein Junge.“
„Nein, du zuerst – er hat dich ja im Untertitel an erster Stelle genannt.“
„Okay“, Martina hat einmal tief durchgeatmet. „Aber dann unterbrich mich nicht dauernd.“
. . .
Kabul, Afghanistan
Mir blutet das Herz. Immer wieder, wenn ich nur daran denke. „Du darfst unter keinen Umständen wiederkommen“, hat Tante Khosala gesagt. „Niemals. Und nimm auch nie wieder Kontakt zu uns auf.“ Tante Khosala, Trost meiner Kindheit, letzte Zuflucht in tiefster Not, Tante Khosala hat mich über die Schwelle geschoben und fortgescheucht wie einen bösen Traum. Alle meine Sachen hat sie verbrannt. Meine struppigen Haare hat sie geschoren. Am Ende hat sie mir auch noch eine Baseball-Kappe tief ins Gesicht gedrückt, damit mich auch ja keiner erkennt. Damals habe ich nicht verstanden, wie sie so grausam sein konnte.
Es wurde schon dunkel. Ich musste so schnell wie möglich einen Winkel finden, in dem ich mich für die Nacht verkriechen konnte. Erst am Morgen, um sieben Uhr spätestens, musste ich an der Asmayi Road stehen, am großen Kreisverkehr, an dem auch die Darul Aman in Richtung Nationalmuseum abgeht. Ich aber musste an der Ausfahrt Richtung Westen warten. Ein Lastwagen mit Nummernschild aus Herat würde mich aufnehmen, hatten sie gesagt. Es begann zu nieseln. Die neuen Schuhe drückten, die steifen Jeans scheuerten auf der Haut, die Gurte des schweren Rucksacks schnitten mir in die Schultern. Mir fiel nur ein einziger Ort in der Nähe ein, an dem ich – mit etwas Glück – niemandem auffallen würde. Zitternd drückte ich mich in die Lücke zwischen der Mauer um den Innenhof der Moschee und dem rissigen Stamm des alten Maulbeerbaums. Damals, im letzten Sommer meiner Kindheit, hatte das dichte Laub dieses Baums meinem Vetter Xatar perfekten Sichtschutz geboten. Jetzt aber – im März – war das frische Grün noch nicht dicht genug. So blieb mir nur der enge, feuchte Winkel auf dem Boden hinter dem Stamm, damit mich niemand bemerkte.
In nicht einmal zwanzig Minuten hätte ich von diesem Versteck aus an den Stätten meiner Kindheit sein können. Hätte hinauflaufen können in den fünften Stock und mit klopfendem Herzen vor unserer Wohnungstür gestanden. Hätte laut „Hallo, ich bin wieder da…“ rufen können. Aber Großvater wäre nicht da gewesen, um mir die Tür zu öffnen. Auch zum Block VI hätte ich hinüberlaufen können, um noch einmal hinaufzusehen zu den Fenstern im dritten Stock. Das aber hätte mir das Herz zerrissen. Auch an meiner alten Schule wäre ich schnell gewesen, aber man hätte mich dort nicht mehr eingelassen. Außerdem gab es ja auch noch den Militärposten direkt gegenüber dem Schultor. Ohnehin hätte mich in dieser Schule niemand mehr als den ‚Kleinen von unserer Zohra‘ begrüßt. Selbst an den Namen meiner Mutter hätten sich die wenigen dort, die sie noch kannten, inzwischen sicher kaum noch erinnert. Nein, meine Kindheit war endgültig tot und begraben. Es war sinnlos, sich an eine Welt zu klammern, die es gar nicht mehr gab. Alles was es gab, war ein Ziel, das ich nicht kannte. Aber ein Ziel immerhin. Wer ein Ziel hat, hat auch wieder Grund, etwas zu hoffen, selbst wenn es nur die Hoffnung auf eine Ankunft irgendwo ist.
Ja, ich musste alles hinter mir lassen und nur noch nach vorne schauen. Das war ich schließlich auch meiner Tante Khosala schuldig. Trotz allem hatte ich es nur ihr zu verdanken, dass es noch einmal so etwas wie eine Hoffnung gab. Najib, ihr Mann, hatte mich schon an der Haustür davonjagen wollen. „Aber sieh dir den Jungen doch einmal an“, hatte Tante Khosala gerufen. „Und jetzt, im Dunkeln, hat ihn bestimmt auch keiner gesehen.“ Damit hatte sie Onkel Najib beiseitegeschoben, mich ins Haus gezogen und schnell die Tür zugeworfen. Da war ich zusammengebrochen.
Als ich wieder zu mir gekommen bin, habe ich auf dem Bauch gelegen, auf etwas so kühl und so glatt, wie ich es noch nie zuvor gefühlt hatte. Etwas hat an meinen Haaren gezupft, da war ein metallisches Klicken zu hören und irgendjemand atmete schwer. Endlich habe ich die Kraft aufgebracht, meine Augen zu öffnen. Erst habe ich nur schwarze Haarbüschel auf weißglänzenden Fliesen liegen gesehen, dann einen schwarz-rot gemusterten Stoff, über ein paar Knie gespannt. Dann erst habe ich erkannt, dass das Tante Khosala war, die vor meinem Gesicht gekniet hat. Sie war dabei, mir die struppigen Haare zu scheren wie einem Schaf. Ich war nackt! Sie hatten mir die schmutzigen Kleider vom Leib gezogen, bevor sie mich auf ihren sauberen, weißen Fliesen abgelegt hatten. Haben sie etwa gedacht, sie könnten mir so meine Vergangenheit abstreifen?
Tante Khosala hat wohl gemerkt, wie ich mich verkrampft habe. „Keine Angst, Adib. Jetzt bist du erst einmal sicher“, hat sie leise gesagt. Das Mitleid in ihrer Stimme brachte etwas tief in mir zum Schmelzen. „Lass die Tränen nur fließen. Die duschen wir dann auch gleich mit ab.“
Ich hatte das Haus von Onkel Najib und Tante Khosala im Stadtteil Karta-i-Seh erst gar nicht wiedererkannt. Damals, als sie geheiratet hatten, war es ein etwas heruntergekommenes Haus auf einem großen Grundstück gewesen. Inzwischen war daraus eine prächtige Villa geworden. Ich erinnerte mich, dass Onkel Najib noch in meiner Zeit in Kabul den Auftrag erhalten hatte, in seiner Druckerei die Schulbücher für das ganze Land zu drucken. Welch ein Wunder, dass man durch Bücher reich werden konnte.
Die glatten Fliesen, diese herrliche Dusche, aus der heißes Wasser kam, alles glänzend und neu. Und dann erst das Bett. Als ich das erste Mal in diesem Hause gewesen war, am Abend von Tante Khosalas Hochzeit, sieben Jahre zuvor, hatten wir als die engsten Verwandten des Brautpaars uns um das riesige Bett im Hochzeitszimmer gedrängt und gestaunt. Ich, damals gerade neun Jahre alt, hatte an einer Ecke des Fußendes heimlich über die seidig glänzende Überdecke gestrichen und mir vorgestellt, wie es sich wohl anfühlen würde, in so einem Bett zu liegen.
Inzwischen gab es anscheinend mehrere Schlafzimmer im Haus, in denen richtige Betten standen wie in einem amerikanischen Film. In eines dieser Zimmer im ersten Obergeschoß hat mich Tante Khosala geführt, nachdem sie mit mir fertig gewesen ist. Hemd und Hose von Onkel Najib sind mir lose um den Körper geschlottert. Ich habe mich in das Bett fallen lassen. Als die weiche Decke über mir zufiel, war es, als versänke ich in einem tiefen, warmen See. Ich müsse die ganze Zeit leise sein, hat Tante Khosala gesagt. Damit mich die Mädchen nicht hörten.
Die drei Tage und Nächte, die ich in diesem Zimmer weggesperrt war, habe ich die meiste Zeit nur geschlafen oder gedöst. Nicht einmal Alpträume hatte ich. Kann man zu erschöpft sein, um Alpträume zu haben? Als ich das erste Mal wieder aufgewacht bin, hat eine ganze Schüssel Kabuli Pilau mit Lammfleisch und vielen Rosinen auf dem Stuhl neben meinem Bett gestanden. Später, wenn ich zwischendurch wach lag, habe ich kaum gewagt, mich zu rühren. Ich hatte Angst, durch eine unbedachte Bewegung herauszufallen aus diesem watteweichen Traum, diesem Zustand zwischen Tod und Paradies.
Vom Kampf um mein Schicksal habe ich immer nur Bruchstücke mitbekommen: Wortfetzen einer etwas lauteren Diskussion unten, ein kurzes, heftiges Wort direkt vor meiner Tür, Austausch gemurmelter Argumente nebenan in der Nacht: „…muss sofort aus dem Land… kommt er nie durch… Flug von Peschawar nach Maschhad… Paschtunengebiete…wissen doch, wie er aussieht… geht nicht, in seinem Zustand… Landweg… Straßensperren… ohne Papiere…“ Ja, sie hatten Angst, aber sie wollten mir helfen.
Und dann auf einmal: „Nauroz…“ Ein Wort aus einer anderen Zeit, ein Wort, wie ein Versprechen, ein Wort, das sie einem aus dem Kopf schlagen und aus dem Körper peitschen wollen, weil es all das verheißt, was ihnen ein Gräuel ist: Musik – Tanz – die Feier des Lebens. Als Tante Khosala mir das nächste Mal Essen ins Zimmer gebracht hat, habe ich nachgefragt. Ja, in zwei Tagen war der einundzwanzigste März. An dem Abend kämen Gäste ins Haus. Eine Party zur Feier des Frühlingsfests. Wichtige Gäste. Bis dahin müsse ich aus dem Haus sein. Ich habe noch die Tränen in ihren Augen gesehen, als sie sich umgedreht hat, um aus dem Zimmer zu gehen. Nach Großvater zu fragen und ob sie etwas von ihm gehört hätten, habe ich gar nicht gewagt. Und ihnen ist es in der restlichen Zeit ja ohnehin nur noch darum gegangen, mir einzuschärfen, was ich für die Flucht wissen musste.
Plötzlich schreckte ich hoch. Etwas Heißes breitete sich aus, unten am Bein. Ein großer, magerer Köter stand da – mit dem Hintern zu mir und einem Bein in der Luft. Der heiße Urin sickerte mir durch die Hose und bis in den Schuh. Einen Aufschrei konnte ich gerade noch unterdrücken. Später begann ein kalter Nieselregen aus der Finsternis über mir herniederzugehen. So tief es ging, habe ich mich in meine neue, gefütterte Jacke verkrochen. Gegen Morgen haben meine Zähne vor Kälte so laut zu klappern begonnen, dass ich Angst bekam, jemand könnte mich hören. Da habe ich mich hochgerappelt und habe mich auf den Weg gemacht.
Ich hatte schon über eine Stunde an dem Kreisel gestanden, da endlich näherte sich ein Lastwagen mit Kennzeichen aus Herat. Auch die fünfstellige Zahl hinter dem HRT stimmte. Ich begann, wild zu winken. Ich hatte Angst, der Fahrer könnte mich übersehen. Er bremste erst in letzter Minute. Ich rannte, als ginge es um mein Leben. Die Tür des Fahrerhäuschens flog auf, ich wurde nach oben gerissen und im nächsten Moment schon presste mich die zuschlagende Tür an den kräftigen Jungen, der mich hochgehievt hatte.
Der Fahrer fluchte und trat aufs Gas. Gleichzeitig langte er an seinem Beifahrer vorbei und riss mir die Baseball-Kappe vom Kopf. „Sowas hier vorne bei uns, und die winken uns an jedem Kontrollpunkt an die Seite. Und dann auch noch kahlgeschoren – wie ein entlaufener Soldat. Gib ihm deine Pakol.“ Sein junger Helfer grinste, zog seine schmutzig braune Mütze ab – eine von der Art, wie sie bei uns Leute aus den Bergen tragen – und drückte sie mir auf den Kopf. „Außerdem stinkt er nach Hundepisse. Bei der nächsten Gelegenheit muss er nach hinten.“
Der Fahrer schien mich nicht zu mögen. Er war ein vierschrötiger Typ mit rundem Gesicht, breiter Nase und schmalen Augenschlitzen, der mich an ein Bild von Dschingis Khan aus einem meiner alten Kinderbücher erinnerte. Offenbar ein Hazara. Das einzige, was mich beruhigte, war das Wissen, dass er erst dann voll bezahlt werden würde, wenn er mich unversehrt über die iranische Grenze gebracht haben würde. Das hatte mir Onkel Najib gesagt. Ansonsten wusste ich nur, dass die Reise bis Endstation Italien ‚gebucht‘ und entsprechend Geld hinterlegt war. Danach würde ich mich allein durchschlagen müssen. Am besten bis nach Deutschland, hatte mir Onkel Najib geraten. Angeblich bekam man dort als Flüchtling gleich eine Wohnung und sogar ein Gehalt vom Staat. Das hatte er mir aber wohl nur erzählt, um mir die Angst vor der langen und gefährlichen Reise zu nehmen. Ich aber wollte sowieso lieber nach Frankreich. Ein Stoß in meine Seite schreckte mich aus meinen Gedanken.
„Hey, willst du nicht langsam mal deinen Rucksack abnehmen? Oder hast du da einen Goldschatz drin?“ Der Gehilfe Dschingis Khans zwinkerte mir zu. Er schien kaum älter zu sein, als ich, war aber viel kräftiger. Wie sein Boss hatte auch er die typischen Gesichtszüge der Hazara. Er half mir, meinen Rucksack herunterzunehmen und zwischen meinen Füßen zu verstauen.
Je weiter wir aus dem Stadtgebiet von Kabul herauskamen, desto mehr lichtete sich der Verkehr. Wir fuhren ein Stück weit an einem Flüsschen entlang. Das Wasser glitzerte in der aufgehenden Sonne. Beim Anblick der bereits rosa und weiß blühenden Obstbäume am Ufer und der dahinter in frischem Grün leuchtenden Felder entfuhr mir ein Seufzer. Der lange Winter war endlich zu Ende. Das Leben kehrte zurück.
Die Autobahn machte eine scharfe Rechtskurve und unmittelbar danach trat der Fahrer erneut voll auf die Bremse. Auf einer Brücke über ein ausgetrocknetes Flussbett kamen wir zum Stehen. „Yallah! Los, raus. Raus!“, bellte Dschingis Khan in meine Richtung. Sein Helfer stieß die Wagentür an meiner Seite auf und schubste mich aus dem Führerhaus. Ich wäre hingestürzt, wenn ich nicht sofort das Brückengeländer zu fassen bekommen hätte. Da flog auch schon mein Rucksack auf mich zu.
Der Junge sprang hinterher. Auch er brüllte jetzt „Yallah, Yallah“ und trieb mich durch den schmalen Zwischenraum zwischen Brückengeländer und LKW nach hinten, löste mit einigen geübten Griffen die Plane, ließ die Ladeklappe herunter und warf meinen Rucksack in den schmalen Zwischenraum zwischen zwei großen Holzkisten, die gleich vorn auf der Ladefläche standen. Dann half er mir hinauf.
Ich quetschte mich zwischen die Kisten, die fast so hoch waren wie ich. Die Ladeklappe schloss sich mit einem Knall, die Plane fiel zu und wurde festgezurrt. „Mach dich unsichtbar“, hörte ich noch, dann stand ich im Dunkeln. Ich hatte gerade noch sehen können, dass weiter hinten Kartons und Autoreifen gestapelt waren. Kaum hatte ich mich zwischen den Kisten hindurchgezwängt und mir einen Sitzplatz zwischen den Autoreifen ertastet, erzitterte der Laster und setzte sich ruckartig in Bewegung.
Eigentlich hätte ich wütend sein sollen auf den jungen Kerl, der mich wie ein Stück Vieh vor sich hergetrieben und in dieses finstere, nach Motorenöl stinkende Loch eingesperrt hatte. Aber der hatte ja nur die Anweisungen seines Bosses befolgen müssen. Der befürchtete wohl, dass es vor Maydanschahr – den Namen der Stadt hatte ich kurz zuvor noch auf einem Hinweisschild gelesen – schon eine erste Kontrolle geben könnte. Bei dem Gedanken an eine mögliche Kontrolle und daran, dass meine Flucht ein Ende finden könnte, bevor sie richtig begonnen hatte, spürte ich ein Würgen im Hals. Außerdem hatte ich Durst.
Ich tastete nach meinem Rucksack, der zwischen die Reifen gerutscht war. Innerhalb kürzester Zeit war meine Feldflasche leer. Onkel Najib hatte mir gesagt, dass die Schlepper auch dafür bezahlt wurden, mich unterwegs mit Essen und Trinken zu versorgen. Aber bei dem Motorenlärm und Gerüttel hatte ich keine Chance, mich bemerkbar zu machen. Trotzdem arbeitete ich mich langsam über die Stapel von Reifen, Holzkisten und Kartons Richtung Führerhaus vor. Schließlich musste ich rechtzeitig vor der ersten Kontrolle auch noch ein Plätzchen finden, um mich unsichtbar zu machen. Direkt vor dem Führerhaus stieß ich auf eine ganze Wand aus Kartons, die mir bis unters Kinn reichte. Beim Herumtasten stellte ich fest, dass es dahinter noch einen Hohlraum gab, wohl gerade groß genug, um im Fall einer Kontrolle darin verschwinden zu können.
Es kam aber keine Kontrolle. Stattdessen ging der Laster kurz darauf plötzlich in eine so enge Rechtskurve, dass ich gegen eine der Kisten geschleudert wurde. Zum Glück hatte ich die dicke Jacke an, die den heftigen Stoß gegen meine Schulter abpolsterte. Sobald der Schmerz etwas nachließ, klemmte ich mich in eine Lücke zwischen einem Stapel Reifen und einem großen Karton, in der ich mich vor weiteren solchen Unfällen geschützt glaubte.
Dann erst fiel mir auf, dass unser Fahrer jetzt häufiger hupte, bremste und schaltete und gelegentlich Hindernissen oder Schlaglöchern auszuweichen schien. Das konnte nur eins bedeuten: Wir waren von der Fernstraße abgebogen. Wir nahmen die Landstraße durch die Berge! Ich war davon ausgegangen, dass wir bis Herat auf der A01 bleiben würden. Noch aus dem Erdkundeunterricht hatte ich den riesigen Bogen vor Augen, den diese Fernstraße durch den ganzen Süden Afghanistans macht, bevor sie wieder in Richtung Norden auf Herat zuführt und damit in die Nähe der iranischen Grenze kommt. Das war zweifellos die am besten ausgebaute und damit schnellste Strecke dorthin.
Herat 1.070 km. Auch das hatte ich auf einem Hinweisschild gelesen, als ich noch vorne gesessen hatte. Ich hatte mir ausgerechnet, dass wir so in gut zwei Tagen in der Nähe der iranischen Grenze sein könnten. Aber jetzt durch die Berge? Das konnte eine Woche dauern. Sogar länger. Mir wurde schwindelig. Der Fahrer wollte wohl die Gebiete im Süden vermeiden, die von den Taliban kontrolliert wurden. Ich aber wusste nicht einmal, wovor ich mehr Angst haben sollte: Vor einem Hinterhalt der Bärtigen oder vor einer Kontrolle durch die Armee.
Laute Stimmen weckten mich auf. Wir standen. Mir war kalt. Ich hatte Hunger. Schlimmer noch war der Durst. Außerdem musste ich pinkeln. Motoren wurden abgestellt oder angelassen. Es roch nach Benzin. Offenbar eine Tankstelle. Kaum war ich zu diesem Schluss gelangt, da spürte ich am Vibrieren des Bodens, dass auch unser Motor wieder angelassen wurde. Am liebsten hätte ich laut geschrien. Hatten die mich etwa vergessen?
Ich hatte zuvor festgestellt, dass die Bretterwand, die die Ladefläche nach vorne hin abschloss, bis ganz nach oben reichte. Es war also nicht möglich, direkt ans Führerhaus zu klopfen. Vielleicht würden die mich dort drin aber hören, wenn ich mit meiner Feldflasche gegen die Bretter schlug. Ich arbeitete mich ganz nach vorn durch und kletterte dort auf die großen Kartons. In dem Moment wurde der Laster so abrupt abgebremst, dass ich fast in den Zwischenraum gerutscht wäre, den ich vorher entdeckt hatte. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig festklammern.
Der Laster bog ab auf einen offenbar unbefestigten Weg, es schaukelte heftig, wir fuhren bergauf. Mehrmals ging es um die Kurve, abwechselnd nach links und nach rechts – Serpentinen. Endlich kam der Laster zum Stehen.
Jemand rief etwas. Dann ein Quietschen und Einrasten, als würde hinter uns ein Metalltor geschlossen. Ich tastete mich hastig wieder zurück Richtung Ausstieg. Dort hörte ich schon jemanden hantieren. Ich steckte noch in dem Zwischenraum zwischen den beiden Holzkisten, als bereits die Ladeklappe herunterfiel.
Auch draußen war es dunkel, aber ich erkannte die Umrisse des Jungen. „Komm raus“, rief er mir mit gedämpfter Stimme entgegen. Mit den Füßen voran rutschte ich auf dem Bauch von der Ladefläche. Ich musste mich abstützen, so wackelig war ich im ersten Moment auf den Beinen. Der Junge lachte. Dann zeigte er auf den schwachen Lichtschein, der aus der angelehnten Tür des schlichten Lehmhauses fiel, vor dem wir standen. „Essen“, sagte er und führte seine Fingerspitzen zum Mund, als hielte er bereits ein zur Kugel geformtes Reisbällchen dazwischen. Ich hätte ihn umarmen können. „Erst pinkeln“, sagte ich. Er wies auf eine Mauer gegenüber und verschwand dann im Haus.
Obwohl ich völlig erschöpft war, lag ich nach dem Essen noch länger wach. Der Besitzer dieser Herberge, der Fahrer, sein Helfer und ich lagen aufgereiht nebeneinander auf dem Boden in dem Raum, in dem wir gegessen hatten. Die beiden Frauen unseres Wirts, die uns bedient hatten, schliefen in dem kleinen Küchenanbau nebenan, in dem auch meine Sachen trockneten. Außer dem Schnarchen des Fahrers, dem gelegentlichen Grunzen unseres Wirts und hin und wieder Hundegebell in der Ferne war kein Laut zu hören. Es war, als hätte man mich in meine Zeit in den Bergen zurückversetzt. Seltsamerweise war der Gedanke daran in dieser Nacht mit so etwas wie einem Gefühl von Vertrautheit und Heimat verbunden.
Beim Essen hatte mich der Junge gefragt, wo ich eigentlich hinwollte. Nach Maschhad – da hätte schon ein Bruder von mir Arbeit in einer Ziegelei, hatte ich behauptet. Diese Antwort hatte mir Tante Khosala eingeschärft. Es solle bloß keiner auf die Idee kommen, dass ich eine längere Reise vorhätte und dafür vielleicht eine größere Summe Geld dabeihaben könnte.
Dschingis Khan hatte mich durchdringend angesehen. Dann hatte er mir mit seiner Pranke auf die Schulter geschlagen. Mit Mühe hatte ich einen Aufschrei unterdrückt, denn die tat immer noch weh. „Verdammt schwere Arbeit – da wünsche ich dir viel Glück“, hatte er gerufen. „Jedenfalls schwerer als das, was mein Neffe Karim bei mir zu tun hat.“ Damit hatte er seinem jungen Helfer auch einen kräftigen Klaps versetzt. „Dafür muss der dir aber gleich noch zeigen, wo du dich waschen kannst. Sonst haben wir noch die ganze Nacht diesen Geruch in der Nase“, hatte er mit einem vielsagenden Seitenblick auf mein eines Hosenbein hinzugefügt.
Offenbar war er gutmütiger, als ich gedacht hatte. Ab da war ich zuversichtlich, dass er alles tun würde, um mich sicher in den Iran zu bringen. Mit diesem Gedanken bin ich am Ende des ersten Tages meiner Flucht schließlich eingeschlafen.
Karim rüttelte mich wach. „Auf, Wasser holen“, sagte er und stellte einen großen Plastikkanister neben mir ab. Sein Onkel und unser Wirt tranken da bereits in aller Ruhe ihren Morgentee. Ich lief dem Jungen hinterher nach draußen, wo es im Osten gerade erst zu dämmern begann. Wir liefen den steilen Pfad hinter dem Haus hinauf zu der Quelle des Bergbachs, in dem ich mich am Abend noch schnell gewaschen hatte, und füllten dort unsere zwei Kanister mit dem eiskalten Wasser.
Bevor wir uns auf den Rückweg machten, zeigte Karim zu dem unterhalb unserer Herberge gelegenen Dorf hinunter und von da aus weiter das frühlingsgrüne Tal entlang Richtung Westen. Dort ließen in diesem Moment die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne eine Reihe schneebedeckter Berggipfel rosa erglühen. „Koh-i Baba“, sagte er, „dort hinüber fahren wir jetzt weiter.“
Als ich kurz darauf wieder in den düsteren Laderaum kletterte, reichte er mir noch einige zusammengerollte Brotfladen zu und stellte einen der beiden Wasserkanister zu mir auf die Ladefläche hinauf. Er schärfte mir ein, möglichst wenig zu trinken. Wahrscheinlich würden wir wieder den ganzen Tag und bis in die Nacht ohne Halt durchfahren. Und wenn sein Onkel eines hasste, wäre das ein vollgepinkelter Laderaum. Außerdem würde das bei einer Kontrolle auch sofort auffallen. Wie lange wir wohl brauchen würden bis Herat, fragte ich noch schnell. Sechs, sieben Tage – wenn wir Glück hätten, war die knappe Antwort. Dann fiel die Plane zu und es wurde dunkel im Laderaum.
Die folgenden Tage kamen mir endlos vor. Wir fuhren meist den ganzen Tag durch und hielten erst nach Einbruch der Dunkelheit, manchmal an einer ähnlichen Herberge, wie in der ersten Nacht, manchmal aber auch nur irgendwo abseits der Straße, wo ich kurz austreten durfte, aber zum Schlafen wieder in den Laderaum musste. Die meiste Zeit über hatte ich Durst. Ich versuchte, den ganzen Tag mit dem einen Liter Wasser auszukommen, den ich mir morgens aus dem großen Plastikkanister in die Feldflasche abfüllte. Auch die Kälte war schlimm, vor allem nachts in meinem nur durch die dünne Plane geschützten Versteck. Je höher wir in die Berge hinaufkamen, desto eisiger wurde es. Oft zog ich mir die schmutzige, nach Motoröl stinkende Decke, die Karim mir vor der ersten Nacht draußen im Laster zugeworfen hatte, sogar bis über das Gesicht. Noch schlimmer war, dass die Straße immer schlechter wurde. Über weite Strecken war es nur eine aus lauter Schlaglöchern bestehende Piste. Über Stunden wurde ich durchgeschüttelt und musste mich, wenn der Laster um irgendwelche Hindernisse herumkurvte, immer wieder längere Zeit irgendwo festklammern, so dass mir bald jeder Knochen und jeder Muskel weh tat.
Während eines nächtlichen Halts, bei dem ich kurz austreten durfte, war es mir in einem unbeobachteten Moment gelungen, eine der Schnallen zu lockern, die an der Rückseite des Lasters ringsum die Plane verschlossen. Ab da konnte ich wenigstens hin und wieder einen Spalt öffnen und schräg nach hinten hinaussehen. So kam ich mir nicht mehr ganz so eingesperrt vor und der Tag verlor seine Eintönigkeit.
Über weite Strecken folgte die Straße den Flusstälern. Manchmal konnte ich direkt in tosende Bergbäche hinuntersehen. Dann wieder glitten auf meiner Seite schroffe Felswände so nah vor meinen Augen vorbei, dass ich sie beinahe hätte berühren können. Wenn ich dann starr geradeaus auf den vorbeihuschenden Fels blickte, schien es kein Halten mehr zu geben. Das schroffe Gestein wurde zu einem flatternden Band, und es gefiel mir, an die Helden meiner Kindheit zu denken, wie sie in wildem Ritt durch die Steppe ihren Feinden davongaloppierten.
Ich musste geschlafen haben. Ich schreckte hoch, weil ich laute Stimmen hörte. Wir standen. Ein feiner Streifen Licht verriet mir, dass es draußen noch hell war. Anscheinend hatte ich meinen Sehschlitz nicht sorgfältig genug verschlossen. So viele Stimmen auf einmal hatte ich schon seit Tagen nicht mehr gehört. Jemand lachte laut. Ein Kontrollposten war das nicht. Autotüren wurden zugeschlagen. Dann auch die unseres Lasters, wie ich am kurzen Erzittern meines Gefängnisses merkte. Wir fuhren an, nur um nach wenigen Minuten rüttelnder Fahrt wieder stehen zu bleiben. Es hatte sich angefühlt, als hätte Dschingis Khan irgendwo rückwärts eingeparkt.
Jemand stieg aus und dann hörte ich, wie mein Name gerufen wurde. Laut, denn im Hintergrund rauschte es. Dann machte sich jemand an der Plane zu schaffen. Ich erschrak. Jetzt haben sie meinen Sehschlitz entdeckt, dachte ich. Mit angehaltenem Atem wartete ich im Schutz der großen Holzkiste vor der Ladeklappe. Dann fiel Licht in den Laderaum und ich erkannte Karims Stimme. „Hier für dich“, rief er. Ich wagte mich hinter meiner Kiste hervor und dann erkannte ich, was er mir da unter der Plane entgegenstreckte: Ein ganzes Bündel Kebab-Spieße! Ich konnte es nicht glauben. „Nimm schon, wir müssen weiter“, hörte ich ihn rufen. Ich zwängte mich zwischen den Kisten hindurch. Hinter Karims grinsendem Gesicht strömte ein schäumender Fluss unterhalb einer Felswand vorbei.
„An der Brücke gab es einen Stand. Wohl die letzte solche Gelegenheit für längere Zeit“