Seewölfe - Piraten der Weltmeere 520

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 520
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Impressum

© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-928-4

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Burt Frederick

Die Bucht der Galgenstricke

Sie haben nur eine Chance – eine zweite geben ihnen die Spanier nicht

Es wurde dunkel. Am Eingang des Lagers, beim großen Tor, wurden Fackeln angezündet. Auch in der Nähe der Mannschaftsbaracken begann Flammenschein zu züngeln. Bald darauf waren die Marschkolonnen zu hören. Ketten klirrten, nackte Fußsohlen scharrten über die feinen, scharfkantigen Steine der behelfsmäßigen Straße. Es hörte sich an wie ein beständiges Mahlen.

Der Seewolf und seine Gefährten spähten durch das Gatter, das jenes eingezäunte Geviert verschloß, in dem sie gefangengehalten wurden.

Noch war beim Tor nichts zu erkennen. Dennoch verhärteten sich die Gesichter der Männer. Sie hatten genug gesehen, als sie hergebracht worden waren. Für den Lagerkommandanten, Capitán Hernán Carraldo, waren die Gefangenen weniger wert als Tiere.

Der Fackelschein verstärkte sich. Die Geräusche nahmen zu. Posten öffneten ein Tor. Es erklangen keine Stimmen. Weder Befehlsgebrüll von den Aufsehern noch Gemurmel von den Zwangsarbeitern.

Die Hauptpersonen des Romans:

Hernán Carraldo – Für den Kommandanten des Strafgefangenenlagers sind Indianer keine Menschen, und die Engländer haßt er.

Will Thorne – Der Segelmacher der Arwenacks ist fieberkrank, aber er beißt die Zähne zusammen.

Philip Hasard Killigrew – Der Seewolf verteidigt seinen Segelmacher, und dafür muß er büßen.

Dan O’Flynn – Zusammen mit Carberry, Matt Davies und Batuti zeigt er spanischen Soldaten, wie Engländer kämpfen.

Fuero – Der filzbärtige Menschenhändler ist auf Kopfgelder scharf, doch seine Opfer sind nicht wehrlos.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Auf einmal waren sie da. Ein trottendes Heer von dürren Gliedmaßen, Haut über Knochen, von Staub und Schweiß verkrustet. Die Fackeln warfen schlängelnde Schatten auf die ausgemergelten Körper.

Sie erreichten den Appellplatz vor den Baracken. Ihre Augen lagen ohne Glanz in tiefen Höhlen. Einige stützten sich gegenseitig, es wurde von den Aufsehern geduldet. Wankend, immer noch stumm, nahmen die Indianer Aufstellung.

Ohne daß Befehle dafür erforderlich waren, bildeten sie Gruppen von dreißig bis vierzig Mann. Es war eine alltägliche Prozedur für sie. Sie funktionierten wie willenlose Wesen.

Dem Seewolf schnürte der Anblick die Kehle zu. Er wußte, daß es seinen Gefährten kaum anders erging. Bei den Gefangenen handelte es sich fast ausnahmslos um Indianer.

Nur wenige hellhäutige Männer befanden sich unter ihnen, Verbrecher vermutlich, die man nicht zum Tode, sondern zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt hatte – was ein Todesurteil bedeutete. Nur der Zeitpunkt der Vollstreckung war ungewiß. Er hing davon ab, wie lange die Kräfte eines Mannes ausreichten. Die Gruppen wurden in ihre verbreiterten Großkäfige getrieben. Jedes der umzäunten Gevierte, auch das der Arwenacks, maß etwa hundert Yards im Quadrat. Ein Dach gab es nicht, keine schützende Kleidung, keine Planen, keine Decken. Capitán Carraldo tat wirklich alles, um die Geknechteten zu demütigen.

Handkarren rollten von außerhalb des Tores heran, beladen mit Kübeln. Aufseher teilten Wasser und Suppe aus, Soldaten mit schußbereiten Pistolen überwachten es.

Pro Gatterbereich gab es einen Kübel mit Wasser und einen Kübel mit Suppe, wobei sich der Inhalt nicht wesentlich voneinander unterschied. In jedem der großen Gefäße hing eine Kelle. Die Kübel wurden vor die verriegelten Gatter gewuchtet.

Die Gefangenen mußten durch die Bretterverstrebungen greifen, um sich mit Essen und Trinken zu versorgen – eine langwierige Prozedur im schwachen Licht, das von den nun fernen Fackeln herüberfiel. Denn die Kellen konnten nur immer von einem Gefangenen benutzt werden.

Hasard wandte sich angewidert ab.

In der entfernten Ecke des eingezäunten Bereichs lag Will Thorne auf dem Sandboden. Er fieberte noch immer. Jeder der Männer hatte ein wenig von seiner ohnehin spärlichen Kleidung geopfert. Und sie hatten Will zugedeckt, damit er die kühler werdende Nacht überstehen konnte.

Von überall war das Klappern der Kellen in den eisernen Kübeln zu hören. Auf den hohen Erdwällen, die das Lager umgaben, waren Fackeln in Stangenkörben angezündet worden. Die Wachen wurden verstärkt.

Statt vier waren es jetzt sechs Doppelstreifen, die in entgegengesetzten Richtungen patrouillierten. Der Comandante wußte, warum er für die Nacht schärfere Sicherheitsmaßnahmen anordnete.

Hasard richtete sich auf. Seine Männer versorgten sich aus den Kübeln, auch die Zwillinge. Sie wußten alle, daß sie ihre Kräfte brauchten. Denn was vor ihnen lag, war schlimmer als alle Strapazen, die sie auf dem Marsch durch den Dschungel des Istmo de Tehuantepec überstanden hatten.

Carraldo wußte, daß sie Engländer waren, Feinde des Königreichs Spanien. Er würde sie noch mehr schinden lassen als die Indianer. Und sie würden Juchitán, die nahe Hafenstadt an der Pazifikküste, nicht einmal zu sehen kriegen, obwohl man praktisch hinspucken konnte.

Aus war der Traum von der Reise nach China, wo sie neue Brandsätze hatten holen wollen, um den erhöhten Sicherheitsmaßnahmen der Spanier in der Karibik besser begegnen zu können.

Hier, am Pazifik, waren die Maßnahmen der Dons offenbar noch wirkungsvoller als irgendwo sonst. Carraldo verfügte über Reitersoldaten. Eine halbe Hundertschaft davon hatte die Arwenacks ohne große Mühe eingefangen.

Bis auf Ed Carberry, Dan O’Flynn, Batuti und Matt Davies.

Auf die vier gründete sich alle Hoffnung des Seewolfs.

Am Rand des Dschungels, vier Meilen nordöstlich vom Gefangenenlager, war es finster wie in einem fensterlosen Keller.

Die drei Soldaten hatten ihre Pferde angepflockt. Der Mond, der tief im Osten stand, erreichte das Land erst eine Meile weiter westlich mit seinem fahlen Licht. Mattsilbern schimmerten dort die Hügel, hinter denen die Zwangsarbeiter in Bretterverschlägen gehalten wurden. Und noch ein Stück weiter war ein flacher heller Streifen am Horizont.

Die Lichter der Stadt Juchitán. Dort herrschte jetzt Hochbetrieb in den Bodegas und Cantinas. Überall brannten Lampen, Laternen und Fackeln, und der Wein machte es leichter, ein Mädchen zu erobern.

Die Seesoldaten, die in der Garnison von Juchitán stationiert waren, hatten es gut. Wenig Dienst, nur gelegentliche Küstenfahrten. Um so mehr Gelegenheit bestand, den Sold an den langen Abenden in hemmungsloses Vergnügen umzusetzen.

Die drei Soldaten hatten sich einen vom Blitz gefällten Baum als Sitzgelegenheit ausgesucht. Ihre Pferde standen fünf Yards entfernt und rissen saftiges Gras in großen Büscheln aus dem Boden. Das Mahlen ihrer Zähne war das einzige Geräusch in der Finsternis.

Paco Sereno sah sich immer wieder um. Die Sinnlosigkeit seiner Unrast erkannte er nicht. Nichts war zu erspähen, und wenn man die Augen noch so sehr anstrengte. Denn der Dschungel war wie eine schwarze Wand, die man beim besten Willen nicht mit Blicken durchdringen konnte. In der entgegengesetzten Richtung, vom Lager her, tat sich ebenfalls nichts.

„Die haben uns vergessen“, wisperte Sereno. „Ich sage euch, die haben uns vergessen. Wir hocken hier die ganze Nacht über mit knurrendem Magen, und morgen früh fällt ihnen beim Appell auf, daß drei Mann fehlen. So wird es kommen. Verlaßt euch drauf.“

Sereno nahm den Helm ab und fuhr sich zum wiederholten Male durch das strähnige schwarze Haar. Er war ein schlanker, mittelgroßer Mann. Das Weiße seiner Augen bewegte sich unablässig, da er fortwährend von einer Richtung in die andere blickte.

„Hunger hast du also“, sagte sein Nebenmann spöttisch – Rubio Fungador, ein bulliger Katalane. „Und das ist wirklich alles, was dich plagt?“

Sereno ruckte herum.

„Wie meinst du das?“

„Ich meine es so, daß du vielleicht die Hosen voll haben könntest.“ Das Blitzen von Fungadors Zähnen war zu sehen, als er grinste.

„Nicht ganz“, entgegnete Sereno. „Ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut. Das gebe ich zu. Oder behagt dir der Gedanke, daß da womöglich ein paar Engländer hinter uns im Dickicht lauern und nur darauf warten, uns die Kehle durchzuschneiden?“

„Das sollen sie nur versuchen“, sagte Fungador mit dröhnender Selbstsicherheit. „Dann werden sie ihr blaues Wunder erleben.“

 

„Leise!“ zischte Sereno. „Am besten grölst du noch lauter, damit sie uns auch schnell genug finden.“

„Ich glaube, du hast doch die Hosen voll“, sagte der Katalane mitleidig. „Nimm dir unseren kleinen Hochwohlgeborenen als Beispiel. Der verrichtet seinen Dienst, wie es sich gehört – schweigend, aufmerksam und mit gespitzten Ohren.“

„Laß ihn in Ruhe“, sagte Sereno ärgerlich. „Er hat dir nun wirklich nichts getan.“

„Habe ich das gesagt?“

„Nein, aber ich kenne dich. Wenn dir sonst nichts mehr einfällt, ziehst du über ihn her.“

„Von mir wird er nicht besser und nicht schlechter behandelt als jeder andere“, brummte Fungador.

„Tu nicht so! Dir hat es schon immer gefallen, über Schwächere herzuziehen.“

„Hört, hört! Scheint so, als ob du schon jetzt vor dem Kerlchen katzbuckelst. Könnte ja sein, daß aus ihm mal ein Teniente wird, vor dem man strammstehen muß, nicht wahr? Früh übt sich, was ein rechter Speichellecker werden will. Stimmt’s?“

„Jetzt reicht’s!“ knurrte Sereno. Er wollte aufspringen.

Der, von dem zuletzt die Rede gewesen war, hinderte ihn mit einem vernehmlichen Räuspern daran. Estebán de la Madrid, ein schmalgesichtiger Jüngling, saß mit einem Yard Distanz auf dem Baumstamm. Während der letzten halben Stunde hatte er sich mit keiner Silbe an dem Gespräch der beiden Soldaten beteiligt.

„Gib dir keine Mühe, Paco“, sagte er energisch. „Du wirst ihn doch nicht belehren. Aber wenn ich erst mal Teniente bin, dann lasse ich ihn zur Strafe den Stall mit dem Eßbesteck ausmisten.“

Der Katalane wandte sich um. Einen Moment sah er den jungen Offiziersanwärter stumm an, dann brach er in schallendes Gelächter aus.

„Himmel noch mal, unser kleiner Hochwohlgeborener hat ja Humor! Mann, Paco, der hat mehr Humor als wir beide zusammen!“

„Still!“ fauchte Sereno. „Willst du den ganzen Dschungel aufscheuchen?“

„Wenn ich die Señores mal auf die Tatsachen hinweisen darf“, sagte de la Madrid in jenem näselnden Tonfall, mit dem die anderen so gern die Offiziere nachzuäffen pflegten. „Erstens haben wir uns schon vor Einbruch der Dunkelheit an dieser Stelle befunden, und zweitens sind wir den Engländern gegenüber so oder so im Nachteil.“

„Wieso denn das?“ fragte der Katalane erstaunt. „Ich warne dich. Wenn du uns wieder irgendwie aufs Kreuz legen willst …“

Estebán de la Madrid lächelte. Aber es war in der Dunkelheit nicht zu sehen. Mit seinen raffinierten Wortspielen gelang es ihm nicht selten, die einfachen Gemüter restlos zu verwirren. Doch daran war ihm diesmal nicht gelegen. Er empfand selbst jenes Unbehagen, das Paco Sereno so unverblümt ausgedrückt hatte.

„Es war ein absolut unsinniger Befehl, uns ausgerechnet hier zu postieren“, sagte der Offiziersanwärter. „Ich würde einen solchen Befehl niemals erteilen. Unsere Aufgabe sollte es sein, zu beobachten und den Gegner gegebenenfalls an einen Ort zu binden, bis Verstärkung eintrifft.“

„Du meinst, die Kerle fesseln?“ sagte Sereno erstaunt. „Wie sollen wir denn das fertigkriegen?“

„Unsinn“, entgegnete de la Madrid. „Binden heißt in diesem Fall, sie zu zwingen, auf einem Fleck zu bleiben. Beispielsweise, indem wir sie ständig beschießen und auf diese Weise in Deckung zwingen. Klar?“

„Klar“, brummten Sereno und Fungador im Chor.

„Zu dem Zweck“, fuhr de la Madrid fort, „wäre es sinnvoller gewesen, uns auf einem nahen Hügel zu postieren. Dort hätten wir erstens einen besseren Überblick und wären zweitens weit genug vom Dschungel entfernt, um vor Überraschungen sicher zu sein.“

„Verdammt, ja“, murmelte der Katalane verblüfft. „Du hast recht, Kerlchen. Ich glaube, aus dir wird doch mal ein guter Teniente.“

„Und ein guter Primer Teniente und ein guter Capitán“, sagte Sereno. „Das habe ich immer gewußt. Wir werden noch mal stolz darauf sein, daß er bei uns in die Lehre gegangen ist.“

„Wir haben nur einen kleinen Trost“, fuhr de la Madrid in schulmeisterhaftem Ton fort. „Wenn sich die Kerle im Dschungel anschleichen, werden wir sie stören. Niemand bewegt sich in dem Dickicht lautlos. Das können sie einfach nicht schaffen.“

Sereno und Fungador nickten und empfanden Erleichterung. Die Worte des kleinen Hochwohlgeborenen klangen so überzeugend, daß man einfach daran glauben mußte.

2.

Hasard blickte durch den handbreiten Zwischenraum zwischen zwei Zaunplanken. Ein Weg von etwa einem Yard Breite trennte ihn von dem angrenzenden Geviert. Zwischen allen eingezäunten Bereichen gab es diese Kontrollwege, keiner grenzte direkt an den anderen.

Hasard brauchte nicht herumzurätseln, um den Grund herauszufinden. Auf diese Weise hatte man mögliche Revolten der Geknechteten schnell im Griff. Ein paar Tromblons, durch die Planken geschoben, genügten schon. Mit weit gestreutem, gehacktem Blei machten diese Waffen im Handumdrehen eine ganze Gruppe von Gefangenen kampfunfähig.

Capitán Carraldo hatte seine Erfahrung im Umgang mit Wehrlosen.

Der Seewolf bemerkte ein mattes Augenpaar im Halbdunkel auf der anderen Seite des Weges. Die Augen, zwischen zwei Planken, betrachteten das, was die Zaunbretter von ihm sehen ließen.

„Sprichst du Spanisch?“ fragte Hasard halblaut.

„Si, Señor. Aber – ich verstehe nicht. Die Aufseher sagten, es wäre eine Gruppe von Engländern eingeliefert worden. Sie aber sprechen die Sprache unserer Unterdrücker, als ob …“

„Als ob ich einer von ihnen wäre?“

„Si, Señor.“

„Nun, es ist in der Alten Welt nichts Besonderes, die Sprachen anderer Völker zu lernen. Und Spanisch ist so einfach, daß man keine großen Schwierigkeiten damit hat.“ Er sagte es, um dem bronzehäutigen Mann einen Gefallen zu tun.

Ein Lächeln entstand in dem staubverschmierten, müden Gesicht auf der anderen Seite des Kontrollweges.

„Señor, ich muß Ihnen recht geben. Auch mir fiel es leicht, die Sprache dieser Bastarde zu lernen.“

„Sie sind ein gebildeter Mann“, sagte der Seewolf stirnrunzelnd. „Wie sind Sie ausgerechnet hierher geraten?“

„Die gleichen Worte könnte ich an Sie richten, Señor. Aber ich muß Sie um Verzeihung bitten, daß ich mich noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Oztoma. Ich bin der Häuptling in dem Dorf gewesen, aus dem die Männer hier stammen. Das Dorf existiert nicht mehr. Man hat uns alles genommen. Unsere Familien, unsere Häuser und unser Land.“

„Was ist mit den Familien geschehen?“ fragte Hasard, und seine Stimme klang belegt.

„Ist das so schwer zu erraten?“ entgegnete Oztoma voller Bitterkeit. „Die Alten und die Kinder wurden erschlagen, erstochen oder erschossen. Unsere Frauen wurden geschändet und anschließend verschleppt. Wir werden wohl niemals erfahren, was mit ihnen geschehen ist.“

Der Seewolf konnte nicht sofort antworten. Eine selten erlebte Art von ohnmächtiger Wut versiegelte ihm die Stimmbänder.

„Vielleicht ist es besser so“, sagte er schließlich, und er meinte jedes Wort so, wie er es sagte.

Denn niemals würde er dem Mann verraten, was er über Indianerinnen in Spanien wußte. In hochherrschaftlichen Häusern wurden sie wie exotische Wundertiere gehalten, von den Señores zu allen nur erdenklichen Vergnügungen mißbraucht und anschließend, wenn sie ihrer überdrüssig waren, an jene Menschenhändler verkauft, die die Spelunken in den Hafenstädten belieferten.

„Sie haben recht“, erwiderte Oztoma leise und mit schwerfällig klingender Stimme. „Etwas nicht zu wissen, ermöglicht gute Erinnerungen. Es hat ohnehin keinen Sinn, in der Vergangenheit zu leben, selbst dann nicht, wenn man keine Zukunft mehr hat – wie wir.“

„Ist der Glaube an die Zukunft nicht auch eine Willensfrage?“ Hasard hätte sich gewünscht, mit diesem Mann ein Gespräch unter angenehmeren Bedingungen zu führen. Allein hier unter diesen entwürdigenden Umständen, vermittelte der Wortwechsel mit Oztoma das Gefühl, daß man voneinander lernen konnte – Erkenntnisse, die man auf keiner Schulbank lernte.

Aus Oztoma sprach die Weisheit eines Volkes von hoher Kultur. Es hieß, daß die Azteken den Spaniern weit voraus gewesen seien. Nur eben den rechten Glauben, den christlichen, hatten sie nicht. Hernán Cortés, der große Eroberer, habe deshalb die Dinge rasch ins Lot gebracht, indem er die Azteken mit List und Tücke besiegte und unterjochte.

Der Häuptling lachte leise. Hinter ihm und überall in den Gattergehegen waren die bronzehäutigen Männer zu Boden gesunken und auf der Stelle eingeschlafen.

„Früher hätte ich Ihnen recht gegeben, Señor. Aber seit wir in diese Hölle geraten sind, weiß ich, daß die Willenskraft eines Menschen restlos zerstört werden kann. Ich habe mit ansehen müssen, wie Männer den Tod herbeiflehten – Männer, die noch vor wenigen Monden voller Tapferkeit und Stolz waren. Die Spanier wollen uns vernichten. Sie werden erst dann zufrieden sein, wenn unsere Völker aus ihrem geliebten Land vertrieben sind. Ich habe gelernt, warum die Spanier das tun. Sie stehen unter der Macht eines grausamen Gottes. Es ist ein anmaßender Gott, der nichts anderes neben sich duldet. Die Spanier haben uns seine Botschaft überbracht: Entweder man glaubt an ihn und nur an ihn, oder man hat sein Leben verwirkt.“

Hasard schluckte trocken hinunter. Dies war die Wirklichkeit, wie sie sich aus der Sicht der Ureinwohner dieses Landes darstellte. Ob sich jemals ein Spanier die Mühe bereitet hatte, sich in die Gedankenwelt derer zu versetzen, die er für unwürdige Heiden hielt?

„Euer Denken ist von Bitterkeit bestimmt“, sagte der Seewolf. „Die Wahrheit findet man auf diese Weise nicht. Auch Ihre Vorfahren haben Fehler begangen, Oztoma. Sie sind den Eroberern wie einfältige Kinder begegnet.“

„Ich weiß“, erwiderte der Häuptling. „Und wir haben aus den Fehlern der Vergangenheit noch immer nicht gelernt. Wird Ihr Volk uns die Erlösung bringen, wenn es nicht schon zu spät ist?“

„Darauf weiß ich keine Antwort“, sagte Hasard dumpf. „Meine Freunde und ich haben uns auch von unserem Land abgewandt. Unsere Landsleute haben ebenso viele Fehler wie die Spanier. Jemand, der in der Alten Welt in Freiheit leben will, findet keinen Frieden.“

„Erzählen Sie mir mehr darüber“, bat der bronzehäutige Mann, der seine Müdigkeit überwunden hatte, um mit dem hochgewachsenen Engländer reden zu können.

Hasard sagte ihm, wer er war. Er berichtete über den Bund der Korsaren, ohne Einzelheiten zu nennen. Und er erklärte, daß der Bund sich zum Ziel gesetzt habe, den Spaniern zu schaden, wo es nur möglich war. Hasard spürte, daß er Oztoma vertrauen konnte. Selbst wenn die Spanier ihn folterten, würde nicht ein Wort über seine Lippen kommen.

Immerhin schien Carraldo nicht die leiseste Ahnung zu haben, wen er da gefangen hatte. Vielleicht lag es daran, daß er kein Seeoffizier war. Möglich, daß er deshalb noch nichts von dem Seewolf und seiner angeblichen Piratenbande gehört hatte.

„Wir sind auf dem Weg nach China“, fügte Hasard hinzu. „Dort gibt es Feuerwaffen, mit denen wir uns gegen die Spanier durchsetzen können.“

„Das Land jenseits des großen Wassers“, sagte Oztoma versonnen. „Ich habe davon gehört. Es soll ein großes Land sein, mit gelbhäutigen Menschen, die geschlitzte Augen haben.“

„Das ist wahr“, erwiderte der Seewolf. „Aber erzählen Sie mir, wie es hier zugeht. Ich möchte wissen, womit wir zu rechnen haben.“

„Mit dem schlimmsten, Señor Killigrew. Anfangs hat bestimmt jeder hier noch geglaubt, daß er irgendwann fliehen könnte. Aber die Hoffnung verfliegt schnell. Man nimmt uns die Kraft des Körpers und die Kraft der Seele. Das reicht, um uns bis zu unserem Ende niederzuhalten. Wir arbeiten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Wer durch Krankheit oder Entkräftung umfällt, bleibt einfach liegen. Niemand kümmert sich um ihn, und niemand von uns darf ihm helfen. Fast täglich verringert sich unsere Zahl, wenn wir abends ins Lager zurückkehren. Manche Männer wachen aber auch aus dem Schlaf nicht wieder auf. Das Sterben ist für uns mehr gegenwärtig als das Leben. Denn unser Leben ist kein Leben mehr.“

„Versucht denn niemand, zu fliehen?“

„O doch, obwohl es aussichtslos ist. Sie haben die Wachen gesehen, Señor Killigrew. Wie sollen erschöpfte Männer, noch dazu in Ketten, aus einem solchen Lager ausbrechen? Trotzdem geschieht es immer wieder. Wahrscheinlich werden die Männer von der Verzweiflung dazu getrieben. Ebensogut könnten sie sich vorher selbst umbringen.“

 

Hasard wollte erwidern, daß mit derart düsteren Gedanken noch niemand etwas erreicht hätte. Aber es war, als hätten die Worte des Häuptlings genau das heraufbeschworen, wovon eben die Rede gewesen war.

Gebrüll ertönte plötzlich auf den Sicherungswällen. Im Fackelschein waren hastende Posten mit ihren blinkenden Brustpanzern und Helmen zu sehen. Alles konzentrierte sich auf einen Punkt im südwestlichen Bereich des Lagers.

Kein Schuß fiel.

Kurz entschlossen stieg Hasard auf das Gatter, um einen besseren Überblick zu haben.

„Tun Sie das nicht!“ rief Oztoma erschrocken. „Man wird denken, Sie wollen auch fliehen!“

„Die Gelegenheit wäre in der Tat günstig“, entgegnete der Seewolf grinsend. „Aber dazu kenne ich die Örtlichkeiten noch nicht genau genug.“

Oztoma sah ihn nur noch mit geweiteten Augen an. Es schien, als erkannte der Indianer in diesem Moment, aus welchem harten Holz dieser Mann aus dem fernen England geschnitzt war.

Im Südwestwinkel des Lagers, wo die Wälle rechtwinklig aufeinander zuführten, erschienen drei Gestalten im Fackellicht. Wie sie die Steigung erklommen, mit den Ketten an ihren Gelenken, wirkten sie bestürzend langsam. Eine vierte Gestalt tauchte auf, ausgemergelt und verdreckt wie die anderen.

Der Seewolf hielt den Atem an.

Es war ein widerwärtiges Schauspiel.

Die Posten standen oben auf dem Wall bereit, sechs Mann an der Zahl bereits. Von rechts eilte die nächste Doppelstreife herbei. Alle hatten ihre Pistolen gezogen, doch sie hielten sie am Lauf, um die schweren, eisenbeschlagenen Griffstücke zum Zuschlagen zu verwenden.

Grinsend nahmen sie die Indianer in Empfang. Der Fluchtversuch wirkte auf schmerzliche Weise absurd.

Nur kurz und abgehackt waren die Schreie der Gefangenen, als sie niedergeschlagen wurden.

Hasard ließ sich vom Gatter auf den Erdboden hinunter. Seine Ketten klirrten. Überall im Lager war es wieder still.

„Warum hat man die Männer nicht getötet, Oztoma?“ fragte er.

Der Häuptling stieß erbittert die Luft durch die Nase.

„So gnädig ist der Capitán nicht. Sie werden ihn kennenlernen. Noch in dieser Nacht. Er wird uns allen zeigen, was für ein Mensch er ist.“

Der Seewolf wandte sich ab. Die Schwellung über seinem rechten Ohr, wo ihn beim Angriff der Spanier ein Abpraller getroffen hatte, war zum Stillstand gelangt. Er erkundigte sich, wie es mit seinen Gefährten aussah.

Will Thorne schlief fest. Sein Fieber hatte sich noch nicht gesenkt. Nach Ansicht des Kutschers würde der morgige Tag für Will entscheidend sein. Er hatte die Konstitution, um die Krankheit zu besiegen. Wenn er aber gezwungen wurde, zu arbeiten wie die gesunden Männer, dann hatte er vermutlich keine Chance.

Al Conroy und Bob Grey winkten ab, als Hasard nach ihren Wunden fragte. Die Kratzer, so behaupteten sie, waren schon so gut wie verheilt. Der Seewolf lächelte. Es klang, als ob sie es für eine Beleidigung hielten, wenn man sie überhaupt als Verwundete bezeichnete.

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