Seewölfe - Piraten der Weltmeere 489

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 489
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Impressum

© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-897-3

Internet:

www.vpm.de

 und E-Mail:

info@vpm.de









Burt Frederick











Auf den Bänken der Caicos-Inseln







Sie versteckten die Schatzbeute – denn die Jagd hatte begonnen







Die drei Männer auf der Gräting, die einzigen Überlebenden der „Scorpion“, hatten kaum eine Chance gegen die angreifenden Haie. Aber Schiffbrüchige hatte der Seewolf noch nie ihrem Schicksal überlassen. Darum ließ er die drei Männer mit einer Jolle von Dan O’Flynn und vier Arwenacks von der Gräting bergen und auf Middle Caicos an Land setzen. Nur tauchten zu diesem Zeitpunkt drei spanische Kriegsgaleonen auf, und der Seewolf mußte einen taktischen Rückzug antreten. Auf Dan O’Flynn konnte er sich verlassen, auch wenn jetzt die Spanier einen Kommandotrupp an Land setzten, der das „englische Piratengesindel“ vereinnahmen sollte. Der junge Teniente dieses Trupps wiederum stellte sich das „Vereinnahmen“ zu leicht vor, denn die Arwenacks waren harte Kämpfer …









Die Hauptpersonen des Romans:





Don Diego de Campos

 – der Generalkapitän hat den Eindruck, nur von „Einfaltspinseln“ umgeben zu sein.



Don Gaspar de Mello

 – Kommandant der „San Sebastian“, hat Schwierigkeiten, eine Ramming zu vermeiden.



Juan de Alvarez

 – Kommandant der „Monarca“, nennt den Generalkapitän einen „Idioten“.



Old Donegal O’Flynn

 – auf Kriegslisten versteht er sich wie kein anderer.



Philip Hasard Killigrew

 – um kämpfen zu können, läßt er die Schiffe entladen.




Inhalt





Kapitel 1







Kapitel 2







Kapitel 3







Kapitel 4







Kapitel 5







Kapitel 6







Kapitel 7







Kapitel 8









1.





Joaquin Delvero ließ das Geitau los, das er eben gelöst hatte. Er bewegte sich im Gleichtakt mit den anderen, die sich in die Fußpferde der Großmarsrah stemmten.



Das Segeltuch rauschte abwärts und verursachte eine Folge von hart schlagenden Geräuschen, bis es ganz vom Wind erfaßt und gestrafft wurde. Tief unten, auf dem Hauptdeck, reagierten die Männer an den Schoten.



Delvero nahm die linke Hand zur Rah hoch. Etwas tropfte auf den Handrücken. Er begriff nicht sofort, was es war. Zwei, drei Tropfen und dann noch ein paar.



Es wurde ihm erst in dem Moment klar, als etwas in seinen Brauen schillerte und gleich darauf salzig-brennend in die Winkel der Augenlider sickerte. Er kniff die Augen zusammen, aber es half nichts. Das Brennen hörte nicht auf.



Er hielt sich nun mit beiden Händen an der Rah fest. Seltsam undeutlich, wie durch dicken Nebel, hörte er die murmelnden Stimmen seiner Gefährten. Der Wind schien sich um seinen Nacken zu legen wie eine mächtige Faust, die ihn zu schütteln beabsichtigte. Auf einmal spürte Joaquin Delvero die Nässe seines Gesichts, ohne daß er es berühren mußte.



Schweiß!



Kalter Schweiß perlte regelrecht von seinem Gesicht. Das Klatschen auf seiner Handfläche hatte sich wie von Regentropfen angefühlt. Er erschrak. Nie zuvor hatte er etwas Derartiges an sich bemerkt. Was, in aller Welt, war mit ihm geschehen? Schweiß war ihm in Strömen über das Gesicht gelaufen, und er spürte es erst jetzt, da sein Hemd schon stellenweise durchnäßt war.



Er riß die Augen auf.



Von neuem traf ihn der Schreck – boshafter als die Faust des Windes in seinem Nacken. Das Schiff schien in einer wolkigen Masse zu schweben. Die Segel, bauchig, wie von einem Steinmetz aus Marmor modelliert, zerflossen an den Seiten mit faserigen Linien.



Er konnte die Blinde sehen und einen Teil des Bugspriets. Dort vorn, in der Tiefe, hob und senkte sich die „Sant Jago“ in wogende Berge und Täler, aus denen bei jedem Abwärtssinken weiße Fächer aus Gischt zur Seite fortwehten.



Die Rah, an die sich Joaquin Delvero mit beiden Armen klammerte, schien nicht zu dem stolzen Flaggschiff zu gehören. Ihn befiel die Gewißheit, daß er diesen Platz niemals wieder verlassen würde.



Eine Hand für den Mann, eine Hand für das Schiff – dieser Grundsatz war für ihn stets ehernes Gesetz gewesen. Jetzt hatte er gegen das Gesetz verstoßen. Es war ein böses Omen. Es verhieß nichts Gutes.



Er war verloren.



Auf einmal wußte er es.



Die mächtigen Segel der „Sant Jago“ verschwammen unter ihm zu grauen Wolken, die wabernd ineinander verquollen. War das der Himmel? War dies das Gefühl, wenn die Seele ihre sterbliche Hülle verließ und schließlich auf all das Bedeutungslose hinunterblickte, das ihr einmal wichtig erschienen war?



Ich bin ein guter Mensch gewesen, durchzuckte es Delvero, das kann ich mit Fug und Recht von mir sagen. Bestimmt werde ich nicht im Höllenfeuer rösten. Nein, davor brauche ich keine Angst zu haben.



„Ich will nicht sterben!“ hörte er sich schreien und riß die Augen weit auf. Es half nichts. Die Segel der Galeone waren noch immer wie verschwommene Wolkenfelder.



Er sah nicht, wie ihn die anderen entgeistert anstarrten. Paco Rincon, sein Nebenmann, war auch sein bester Freund. Paco schob sich auf ihn zu. Joaquin wurde seiner erst gewahr, als er ein vorsichtiges Zupfen am Ärmel verspürte.



„Mein Gott, Joaquin! Was ist los mit dir? Du siehst aus wie dein eigener Geist.“



Joaquin Delvero hörte die Stimme seines Freundes wie aus der Tiefe eines Brunnens.



„Paco“, flüsterte er tonlos, „ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich muß sterben, ich weiß es.“



„Unsinn“, knurrte Rincon. „Was redest du für ein verrücktes Zeug! Warum bist du überhaupt auf geentert, du Schwachkopf? Du hättest dich krank melden sollen, statt den Helden zu spielen. Niemand wird es dir danken, wenn du dich aufopferst. De Campos am allerwenigsten.“



Die anderen hatten begonnen, in den Luvwanten abzuentern. Da sich Rincon und Delvero am weitesten außen an Steuerbord befanden, behinderten sie niemanden. Aber es war außer Paco Rincon auch niemand da, der sich wegen Delveros offensichtlich schlechten Zustands gesorgt hätte.



„Ich habe mich völlig normal gefühlt, als wir auf enterten“, sagte Joaquin ächzend. „Es überfiel mich plötzlich. Und es hört nicht auf. Ich – ich habe Angst, Paco. Ich will nicht sterben.“



„Hör auf jetzt“, sagte Paco Rincon wütend. „Du bringst dich noch selbst um den Verstand. Einen kleinen Fieberanfall hat jeder mal in der verfluchten Karibik. Und so schnell stirbt es sich nicht, Amigo.“ Er glaubte seinen eigenen Worten nicht, und er spürte, wie seine Stimme heiser wurde.



In Havanna kursierten neuerdings Gerüchte von einer seltsamen Krankheit. Sie kam wie ein mörderischer Blitz aus heiterem Himmel, und sie brachte ihre Opfer innerhalb von wenigen Tagen oder bestenfalls Wochen um.



Niemand hatte je von dieser Krankheit gehört, folglich hatte sie keinen Namen. Selbst die erfahrensten Ärzte von Havanna, sonst immer schnell mit Erklärungen zur Hand, schienen diesmal ratlos zu sein.



„Ich kann ja nicht mal runter“, flüsterte Joaquin. „Ich brauche schon zwei Hände für mich, und wenn ich nur mit einer loslasse, stürze ich ab. Das weiß ich.“



„Glaubst du, ich lasse dich allein abentern?“ sagte Rincon. „Hältst du mich für ein solches Schwein? Los jetzt, packen wir’s. Je eher du in deiner Koje liegst, desto eher bist du wieder auf den Beinen.“



Er schob sich dicht neben den kreidebleichen Freund, legte ihm den linken Arm um den Oberkörper und veranlaßte Joaquin, seinerseits den rechten Arm über seine Schulter zu legen.



Paco wußte, daß es ihm mit seinem rauhen Ton nur halbwegs gelang, sein Erschrecken zu verbergen. Joaquin war immer wie ein junger Gott gewesen, voller überschwenglicher Lebenskraft. Daß es ausgerechnet ihn treffen sollte, war mehr als unbegreiflich.



Langsam schob sich Paco Rincon mit dem hilflosen Freund auf den Großmast zu. Unten, auf der Kuhl, waren sie bereits aufmerksam geworden.



Ein paar der Seesoldaten und auch einige Decksleute standen da, Fäuste in den Hüften, Kopf weit im Nacken. Etwas Abwechslung in der Bordroutine war ihnen immer willkommen, obwohl sie eigentlich genug damit zu tun haben sollten, sich innerlich auf die Begegnung mit den Engländern vorzubereiten. Denn es würde alles andere als ein Spaziergang werden, wenn man den gefürchteten Seewolf zur Strecke bringen wollte.



Aber so weit konnten diese Kerle nicht denken. Sie weideten sich an jeder kleinen Sensation. Wie dreckig es Joaquin Delvero ging, interessierte sie dabei überhaupt nicht. Und wenn er abkratzte, war für sie bestenfalls wichtig, ob es nach der Seebestattung eine Sonderration Rum gab oder nicht.



Kapitäne wie de Campos pflegten mit solchen Maßnahmen die Stimmung an Bord einigermaßen erträglich zu halten, wenn auch sonst meist ein Zustand herrschte, der knapp unterhalb der Grenze zur Meuterei lag.

 



Gebrüll wurde laut.



„He, Rincon!“ Eine Stimme, die sich so anhörte, als ob man mit einem rauhen Stein über ein Trommelfell fuhr. Der Profos. Einer, der beim Kapitän gern katzbuckelte. „Was ist los da oben? Händchenhalten oder so was?“



„Delvero ist krank!“ brüllte Paco zurück. „Ich bringe ihn runter.“



Der Profos schien sich vorerst damit zufrieden zu geben.



Die beiden Männer in den Fußpferden der Großmarsrah erreichten die Wanten. Paco Rincon schaffte es, seinen Freund in die Wanten zu bugsieren. Joaquin war bereits wie ein nasses, schlaffes Bündel. Den schlimmsten Teil hatten sie geschafft. Paco traute sich zu, in den Wanten sogar einen Toten nach unten zu bringen.



Er haßte sich für den Gedanken. Fing er etwa an, sich selbst auch verrückt zu machen? Joaquin war noch nicht tot, und er würde auch nicht sterben – einerlei; was in den Hafenschenken und überall in der Stadt über die heimtückische Krankheit erzählt wurde.



Bei den Huren sollte man sich’s holen, nichts von dem aber, was man schon kannte. Andere, die es noch genauer wissen wollten, hatten eine Geschichte in Umlauf gesetzt, die man sich nur hinter vorgehaltener Hand zu erzählen wagte.



Die Vornehmsten Señoras aus den allerfeinsten Kreisen sollten es noch viel schlimmer treiben als jedes Hafenmädchen. In eben jenen feinen Kreisen mit ihrem ausschweifenden Leben sollte die Krankheit entstanden sein.



Etliche der Hochwohlgeborenen hatte es vermutlich schon erwischt. Aber das wurde natürlich mit dem Mantel des Schweigens zugedeckt.



In Joaquins Fall konnte nichts von all dem zutreffen. Er war kein lasterhafter Mensch, und mit Dirnen hatte er nie und nimmer etwas zu tun. Dafür konnte Paco Rincon seine Hand ins Feuer legen. Und mit der Adelsclique von Havanna hatte Joaquin ebenfalls nie etwas im Sinn gehabt, obwohl er sich zu diesen Kreisen durchaus Zutritt verschaffen konnte, wenn er nur wollte. Doch er bewahrte sein Geheimnis. Paco hatte nie ganz begriffen, warum sein Freund diesen blödsinnigen Drang hatte, ein einfaches Leben zu leben, da er es doch viel, viel besser haben konnte – zu Hause, in Spanien.



Als er mit seiner schweren Last endlich die sicheren Decksplanken erreichte, sah sich Paco Rincon einem starrenden Halbrund von neugierigen Augenpaaren gegenüber. Er hatte das Gefühl, daß Joaquin bereits bewußtlos war.



Doch unvermittelt löste sich Delvero von seinem stützenden Arm.



„Schon gut, Paco, es ist schon gut. Vielen Dank. Ich glaube, ich kann selber …“



Bevor Rincon es verhindern konnte, taumelte Delvero, kippte vornüber und schlug der Länge nach auf die Planken.



Paco spürte etwas wie Panik in sich aufsteigen. Wut und Besorgnis brachen aus ihm heraus. Wut über die Gleichgültigkeit der anderen, grenzenlose Besorgnis um den Freund.



„Will denn keiner den Feldscher holen?“ brüllte er. „Verdammt noch mal, seht ihr nicht, was los ist?“



Die Männer reagierten nicht, sie starrten ihn und den Ohnmächtigen nur an. Der Profos, ein klotziger Mann mit mächtigem Vollbart, trat vor. Mit der Stiefelspitze stieß er gegen den Oberarm Delveros und drehte ihn auf den Rücken.



„Lebt noch“, brummte der Klotz, „also simuliert er.“



Paco Rincon sperrte den Mund auf. Er glaubte, seinen Ohren nicht mehr trauen zu können.



„Joaquin Delvero hat stets seine Pflicht erfüllt“, sagte Paco Rincon standhaft und mit nur mühsam beherrschtem Zorn. „Er ist nie aufgefallen, hat sich nie vor einer Aufgabe gedrückt und ist nicht einen einzigen Tag krank gewesen. Es ist eine Sünde, ihn auf so eine Art und Weise zu beschuldigen. Niemals würde er simulieren, niemals!“



Die Augen des Profos verengten sich.



Rincon beachtete ihn nicht. Fassungslos blickte er in die stumme Runde.



„He, warum sagt ihr nichts? Ihr alle kennt Joaquin. Ihr wißt genau, daß ich die Wahrheit sage. Wollt ihr ihn etwa verrecken lassen?“



Keiner antwortete. Die Blicke senkten sich und wichen ihm aus.



„Rincon“, sagte der Profos gefährlich leise. „Jetzt hältst du das Maul, verstanden! Oder ich lasse dich wegen Aufsässigkeit an den Großmast binden. Die Arbeit an Deck geht weiter, damit das klar ist. So ein verdammter Simulant haut uns nicht den ganzen Arbeitsablauf kaputt. Verstanden?“



Paco Rincon hatte das ohnmächtige Gefühl, vor Verzweiflung aus der Haut fahren zu müssen. Doch er hatte nur die eine Möglichkeit, seiner Empörung Luft zu verschaffen. Er brüllte alles aus sich hinaus.



„Er ist kein Simulant, zum Teufel! Er ist krank, du Schinder! Wenn du ihn auf dem Gewissen hast, wird Gott dich bestrafen. Das schwöre ich dir. Du wirst verflucht sein bis ans Ende deiner Tage und …“



Eine Stimme wie ein Peitschenhieb unterbrach ihn.



„Was geht da vor? Profos, sorgen Sie für Ruhe, und machen Sie Meldung!“



Paco Rincon biß sich auf die Unterlippe. Doch der Trotz wollte aus seinem Gesicht nicht weichen.



Der Profos warf ihm noch einen drohenden Blick zu, dann drehte er sich langsam zum Achterdeck um. Es war der Erste Offizier, der sich an der Schmuckbalustrade aufgebaut hatte, sich mit den Fingerspitzen seiner behandschuhten Hände auf den Handlauf stützte und ungeduldig auf den Zehenspitzen wippte.



„Nun, was rechtfertigt so ein unflätiges Geschrei?“ peitschte seine Stimme abermals.



Der Profos nahm Hab-Acht-Stellung an.



„Mit Verlaub, Señor, ich habe einen Simulanten in der Mannschaft entlarvt, und dieser Drecksack behauptet, ich lüge.“ Anklagend wies er auf Rincon.



Der Erste Offizier rümpfte die Nase.



„Ihre Sprache ist nur teilweise angemessen, Profos“, sagte er näselnd. „Im Umgang mit einem Seeoffizier Seiner Allerkatholischsten Majestät sollten Sie sich befleißigen, nicht in die Niederungen des Vulgärjargons abzusinken.“



Der Profos sah blinzelnd zu dem eleganten Mann auf. Weiter hinten auf dem Achterdeck waren de Campos und der Zweite Offizier in ein angeregtes Gespräch vertieft und nahmen nicht die geringste Notiz von den für sie unwesentlichen Geschehnissen im Mannschaftsbereich, von dem sie sich durch Welten getrennt fühlten.



„Jawohl, ich habe verstanden, Señor“, sagte der Profos stramm, obwohl er nicht einmal die Hälfte begriffen hatte.



Der Erste nickte gnädig.



„Dann hoffe ich, daß Sie in Zukunft der Schiffsführung gegenüber nicht jenen Ton anschlagen, mit dem Sie sich an einen der Ihren wenden würden. Ist das klar?“



„Jawohl, Señor“, antwortete der Klotz dienernd und schien dabei zu schrumpfen.



Der Ohnmächtige auf den Decksplanken stöhnte verhalten.



Es ließ Paco Rincons Fassungslosigkeit übermächtig werden. Er konnte es einfach nicht mehr aushalten. Dieser blasierte Gockel von einem Offizier faselte über angemessene Sprachgewohnheiten, und vor ihm lag ein Mann auf den Planken, der möglicherweise sterbenskrank war. Es war ihm wichtiger, dem Profos richtige Sprechmanieren beizubringen, als den Kranken versorgen zu lassen.



Paco Rincon lief einfach los, an seinem ohnmächtigen Freund vorbei in Richtung Vorschiff. Die Decksleute wichen auseinander und bildeten verdattert und bereitwillig eine Gasse.



„He!“ brüllte der Profos. „Wer hat dir Drecksack erlaubt, einfach abzuhauen?“



Aber Paco Rincon hörte nicht hin. Er nahm das Risiko auf sich, wegen Ungehorsams bestraft zu werden. Es ging um Joaquins Gesundheit. Es mußte einfach sein.



Und er schaffte es. Wohl wegen des Wortwechsels mit dem Ersten war der Profos nicht so schnell mit Befehlen bei der Hand wie sonst. Da gab es keinen, der pflichteifrig hinter Rincon hergerannt wäre und ihn festgehalten hätte.



Er erreichte die Krankenkammer, die sich neben der Kombüse befand. Das Schott stand offen. In fliegender Hast stürmte er hinein und blieb respektvoll stehen.



Der Feldscher hatte erstaunt den Kopf gehoben. Vor ihm hockte einer der Helfer des Schiffszimmermanns, dem er einen dicken Splitter aus dem Daumenballen zu ziehen versuchte. Der Feldscher war ein gutmütig aussehender Mann mit schon ergrautem Haar an den Schläfen und Falten um Mundwinkel und Nasenflügel, die ihn ständig betrübt aussehen ließen.



„Ich nehme an“, sagte er ruhig und väterlich, „dein wilder Auftritt hat mit dem Gebrüll zu tun, das da eben von Deck zu hören war?“



„So ist es, Señor“, sagte Paco Rincon nach Atem ringend. Hastig schilderte er, was vorgefallen war. Er strengte sich höllisch an, sich so kurz wie möglich zu fassen.



Der Feldscher runzelte schon nach den ersten Sätzen des stämmig gebauten Decksmanns die Stirn. Dann, als Rincon weiter berichtete, sprang er auf und bedeutete dem Zimmermannsgehilfen, auf dem Behandlungsstuhl sitzenzubleiben und zu warten.



Ohne eine Sekunde zu verschwenden, ergriff der Feldscher einen messingbeschlagenen Instrumentenkasten und eilte hinaus.



Paco Rincon folgte ihm, innerlich jubelnd über die Richtigkeit seines Entschlusses. Gottlob hatte er sich nicht von dem verdammten Profos einschüchtern lassen. Und dieser Feldscher, dieser aufrechte Mann, war ein Geschenk des Himmels. Er hatte wesentlichen Anteil daran, daß das Leben an Bord der „Sant Jago“ überhaupt noch erträglich war.



Die Decksleute wichen auseinander, als die beiden Männer vom Vorschiff herbeirannten.



„… bringen Sie den Simulanten auf die Beine“, sagte der Erste Offizier soeben in seinem schnarrenden Tonfall und wandte sich ab, ohne das für ihn niedere Volk auf der Kuhl noch eines Blickes zu würdigen.



„Jawohl, Señor!“ brüllte der Profos, ruckte nach links und schrie den Kerlen zu seiner Linken den Befehl zu: „Holt Pützen mit Wasser, los, los, bewegt euch! Wäre doch gelacht, wenn wir unseren Freund Delvero nicht wieder auf die Beine holten!“



Der Feldscher war stehengeblieben und warf nur einen raschen Blick auf den Ohnmächtigen.



Seine Stimme war von klirrender Kälte.



„Niemand gießt diesem Mann Wasser über den Kopf! Jeden, der das versucht, werde ich wegen Mordversuchs vor das Kriegsgericht bringen!“



Jähe Stille kehrte ein. Die Decksleute starrten den grauhaarigen Mann an, wie er sich neben Delvero auf die Knie sinken ließ, den Instrumentenkasten öffnete und zunächst den Brustkasten des Ohnmächtigen abhorchte.



Auch der Profos brachte kein Wort mehr heraus. Seine Kinnlade war nach unten gesackt. Mit offenem Mund stand er da, seine Augen waren groß und rund.



Auf dem Achterdeck blieb der Erste nach fünf Schritten stehen. Er bemerkte das Stirnrunzeln und den fragenden Blick von Generalkapitän de Campos. Auch der Zweite wirkte konsterniert wegen des lästigen Geschreis auf der Kuhl, dessen Ursache zudem von der Heckbalustrade aus nicht erkennbar war.



Der Erste hielt es demzufolge für unabdingbar, nun nach dem Rechten zu sehen und für Ruhe zu sorgen. Er vollführte eine schneidige Kehrtwendung und stelzte erneut zur vorderen Querbalustrade des Achterdecks.



Der Feldscher öffnete prüfend die Augenlider des Ohnmächtigen und tastete seine Stirn und seinen Hals ab.



„Feldscher!“ ertönte die Stimme des Ersten Offiziers. „Was fällt Ihnen ein, einen Simulanten zu behandeln?“



Der grauhaarige Mann hob langsam den Kopf. Furchtlos, mit einem beinahe mitleidigen Ausdruck im Gesicht, sah er den Offizier an.



„Dieser Mann ist schwer krank, Señor. Von einem Simulanten hier an Bord ist mir nichts bekannt.“



Der Erste lief krebsrot an.



„Nehmen Sie gefälligst Haltung an, wenn ich mit Ihnen rede!“



Der Feldscher blieb ruhig.



„Ich weise Sie darauf hin, Señor, daß ich bei Ausübung meiner Pflicht in einem Notfall von den Dienstvorschriften entbunden bin. Ich müßte beispielsweise auch keine Haltung annehmen, wenn ich Ihnen ein Stück Blei aus dem Hintern operiere.“



Einige der Männer konnten ein Grinsen nur schwer unterdrücken.



Dem Ersten entging das nicht. Doch er ließ sich nicht zu weiterem Geschrei hinreißen. Ihm wurde klar, daß er den kürzeren ziehen würde. Der Feldscher war ein allseits geachteter Mann. Er war Kriegsveteran, hatte an den großen Seeschlachten gegen die Engländer teilgenommen und war mehrfach für seine Verdienste geehrt worden.



Es hieß, daß er in naher Zukunft zum Doktor ehrenhalber ernannt werden sollte. Letzteres war immerhin außergewöhnlich bei einem Mann, der weder von Stand noch ein Studierter war. Der Feldscher der „Sant Jago“ war auch bei der Admiralität in Havanna bekannt.



Es konnte also kaum von Nutzen sein, ausgerechnet ihn allzu sehr zusammenzustauchen. Andererseits war sich der Erste darüber im klaren, daß er nicht sein Gesicht verlieren durfte. Unwillig, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen, wedelte er mit der Hand.

 



„Ich kann meine Zeit nicht mit Nebensächlichkeiten verplempern“, sagte er herablassend. „Was die Dienstvorschriften betrifft, billige ich Ihnen zu, daß Sie die Bestimmungen für Ihren persönlichen Arbeitsbereich wahrscheinlich besser kennen als jeder andere.“



„Danke, Señor“, sagte der Feldscher trocken, ohne auch nur den Anflug eines Grinsens zu zeigen. Seine Erfahrung

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