Czytaj książkę: «Seewölfe Paket 26», strona 15
5.
Eine flackernde Öllampe erhellte die aufgeschlagenen Seiten des Dienstbuches, in das der neue Wachhabende soeben eingetragen hatte, daß er an diesem 25. Juni 1595 um sechs Uhr abends den Schutz des Waffenarsenals von Havanna übernommen habe.
Die Wachstube war feucht, kühl und ungemütlich. Der Wachhabende, ein Sargento, hatte seine zwanzig Mann antreten lassen und erstattete Meldung, als Primer Teniente Echeverria den Raum betrat.
Echeverria winkte ab. Er streifte das Dienstbuch mit einem Blick, dann wandte er sich den Gardisten zu und legte die Hände auf den Rücken.
„Männer“, sagte er mit klirrender Stimme. „Ihr wißt, daß wir das Arsenal seit fünf Tagen mit verdoppelter Mannschaftsstärke bewachen lassen. Ihr kennt auch die Gründe, die Gouverneur Marcelo zu dieser Anordnung bewogen haben. Trotzdem sehe ich mich veranlaßt, euch noch einmal den besonderen Ernst der Lage vor Augen zu führen. Sargento!“
„Teniente?“ Der Wachhabende salutierte.
„Wie viele Männer befinden sich bereits auf Wache?“
„Vier Mann, Teniente.“
„Gut. Sie sind mir dafür verantwortlich, daß diese vier Mann ebenfalls über das informiert werden, was ich jetzt den hier Anwesenden erkläre.“
„Jawohl, Señor Teniente. Jetzige Wachgänger über Ihre Erklärungen informieren!“
Der Offizier nickte wohlwollend und wandte sich wieder den Angetretenen zu.
„Steht bequem, Männer. Wahrscheinlich werdet ihr jetzt denken, ich rede überflüssiges Zeug. Denn jeder von euch weiß, was in Havanna los ist. Trotzdem muß ich es euch noch einmal vor Augen führen, damit ihr begreift, wie verantwortungsvoll gerade eure Aufgabe in dieser Nacht ist. Wenn ihr auf der Hut seid, wie alle anderen gesetzestreuen Staatsdiener und Bürger auch, dann werden wir schlimmere Gefahren von unserer Stadt abwenden können. Ich verrate euch andererseits aber kein Geheimnis, wenn ich sage, daß der Pöbel in eine Stimmung geraten ist, die für uns alle bedrohlich werden kann. Angefangen hat es mit der Nachricht vom Tod des Generalkapitäns de Campos, der kommissarisch auch das Amt des Gouverneurs verwaltete. Diese Nachricht blieb aus bestimmten Gründen nicht geheim. Und es scheint sich die Ansicht durchzusetzen, daß der Gouverneurssessel noch immer so gut wie verwaist sei.“
Einige der Männer grinsten, was Echeverria veranlaßte, mißbilligend die linke Augenbraue hochzuziehen. Doch er maßregelte die Gardisten nicht. Vielmehr fuhr er in scharfem Tonfall fort.
„Es brodelt überall in den finsteren Winkeln von Havanna. Wir hatten die ersten gewaltsamen Übergriffe von lichtscheuem Gesindel auf ehrbare Bürger zu verzeichnen. Eine Reihe von Festnahmen brachte jedoch keine abschreckende Wirkung. Im Gegenteil. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß immer mehr menschliche Ratten aus ihren Löchern kriechen. Man hält Havanna gewissermaßen für obrigkeitslos. Zu was das führen kann, brauche ich nicht zu erklären. Es gibt Beispiele aus der Vergangenheit. Bislang sind wir allerdings immer mit einem blauen Auge davongekommen. Diesmal scheint die Lage ernster zu sein als je zuvor. Das ist nicht übertrieben, Männer. Seid euch deshalb bewußt, was das Arsenal gerade in dieser Situation bedeutet. Und sollte es wirklich einen Übergriff geben, liegt es an euch, den ersten Ansturm abzuwehren. Es ist wichtig, daß sofort ein Melder losgeschickt wird, der in der Residenz, in der Garnison oder an einem anderen geeigneten Ort Alarm schlägt. Es wird dann umgehend für Verstärkung gesorgt.“
Die Männer wußten, was der Teniente mit diesem „an einem anderen Ort“ meinte. Jener Melder, der im Ernstfall von dem am Hafen gelegenen Arsenal quer durch die Stadt zur Residenz oder zur Garnison eilen wollte, würde vermutlich wenig Chancen haben, sich durchzuschlagen. In einem solchen Fall würde nur noch eins der Bürgerhäuser als Zufluchtsort in Betracht kommen, das gegen das Gesindel wirksam verteidigt werden konnte.
Der Primer Teniente wünschte den Wachgardisten einen nächtlichen Dienst ohne ernsthafte Zwischenfälle. Zu Pferde, von vier ebenfalls berittenen Gardisten begleitet, entfernte er sich kurz darauf stadteinwärts.
Der Sargento vergewisserte sich, daß die Riegelbalken des Tors ordnungsgemäß vorgelegt waren. Dann unternahm er seinen ersten Kontrollgang, um die Doppelstreifen zu überprüfen und ihnen gleichzeitig die Ansprache des Primer Teniente sinngemäß mitzuteilen.
Wenn sich einer der Offiziere aus der Kommandantur ausgerechnet im Arsenal blicken ließ, dann gab es keinen Zweifel am Ernst der Lage. Wenn dieser Offizier auch noch von vier Gardisten eskortiert wurde, dann unterstrich das nur, daß nicht der geringste Zweifel angebracht war.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit blieb es in der Umgebung des Arsenals verhältnismäßig ruhig. Einige Gruppen von lärmenden Seeleuten zogen auf ihrem Weg stadteinwärts vorbei.
Einmal, als sich der Sargento auf den Wachgang hinter der Mauerkrone begab, um sich einen Überblick zu verschaffen, tauchte eine Horde von zehn wüsten Gestalten auf, die dem Wachhabenden unflätige Schimpfworte zubrüllten und sich vor Lachen ausschütteten, als er drohend seine Dienstpistole auf sie richtete.
Er mußte an die „menschlichen Ratten“ denken, von denen der Teniente gesprochen hatte. Deshalb ignorierte er die Kerle schließlich und gab auch den Posten Anweisung, sich nicht um sie zu kümmern und auf Beschimpfungen zu reagieren.
So geschah es, daß der Sargento zum ersten Wachwechsel nach vier Stunden den Vermerk „keine Vorkommnisse von erwähnenswerter Art“ in das Dienstbuch eintrug. Er wußte nicht, daß es die letzte Eintragung sein sollte, die er in seinem Leben überhaupt vornahm.
Mit dem Hereinbrechen der Dunkelheit befiel die Wachgardisten eine Nervosität, die sie sich gegenseitig nicht mehr verheimlichen konnten. Der Lärm aus den Kneipen klang wilder als sonst.
Und da die Gardisten vor einer Woche zuletzt Dienst im Arsenal gehabt hatten, erschraken sie geradezu über die Zahl der grölenden, Rumflaschen schwenkenden Horden, die sich in der Nähe herumtrieben. Vielfach waren Hafendirnen dabei, die mit obszönen Gesten über die Wachposten auf dem Wehrgang spotteten. Die Galgenstricke brüllten jedesmal vor Begeisterung.
Die wirkliche Gefahr näherte sich dem Arsenal indessen nicht lautstark und von weitem erkennbar.
Lautlos schlichen kurz nach Mitternacht Gestalten auf die Südseite des Komplexes zu, wo eine Gasse unmittelbar an der Außenmauer entlangführte. Die dunkel gekleideten Gestalten, noch dazu mit kohlegeschwärzten Gesichtern, hatten haargenau den Moment abgepaßt, in dem beide Doppelstreifen am weitesten entfernt waren.
Drei, vier Leitern wurden auf einmal angelegt. In Sekundenschnelle waren mehr als ein Dutzend Eindringlinge auf dem Wehrgang. Ihre Zahl verstärkte sich noch, als die ersten bereits innerhalb der Mauer zu Boden sprangen und auf die Wachstube zuhuschten.
Die Schar der lautlosen Eindringlinge war auf fast dreißig angewachsen, als sie zum Angriff übergingen. Gellende Schreie von den Wehrgängen ließen den Sargento und seine Männer in der Wachstube aufschrecken. Einige schafften es noch, zu den Pistolen zu greifen. Die Mehrzahl würde jedoch bereits von den ersten Kugeln getroffen, die durch die auffliegenden Türen hereinrasten.
Mit wüstem Triumphgebrüll stürmte die Horde in den Wachraums Unablässig krachten Pistolen. Säbel blitzten, sobald kein Pulver mehr in den Läufen war. Schon tödlich getroffen, war der Sargento einer der wenigen, die ihre Waffe noch abfeuern konnten.
Doch ihm erging es wie den anderen. Die Kugel aus seiner Waffe schlug lediglich wirkungslos in die Decke des Raumes, als er sterbend hintenüber kippte.
Lediglich einem der Posten auf dem Wehrgang gelang es, sich nach außen über die Mauer zu schwingen und in die Dunkelheit einer der Gassen zu entwischen. Die Worte des Primer Teniente hallten ihm in den Ohren, während er die Todesschreie seiner Kameraden aus dem Bereich des Arsenals hörte.
„In der Residenz, in der Garnison – an einem anderen geeigneten Ort …“
Die Hafengegend war von unbeschreiblichem Lärm erfüllt. Der Gardist rannte mit langen Sätzen, hörte seine Schritte von den Hauswänden zurückhallen und sah die erhellten Eingänge der Schenken wie durch einen Schleier.
Überall quollen Menschen ins Freie. Abgerissene Gestalten, zerklüftete Gesichter, haßerfüllte Augen, ordinäre Dirnen, die Gemeinheiten von sich gaben. Dolche und Entermesser, die unverhohlen unter zerlumpten Umhängen hervorgezogen wurden und drohend im Lampenlicht blitzten.
Erste Flüche wurden ihm zugerufen. Verwünschungsschreie gellten. Hinter ihm rotteten sich die Schreckensgestalten aus den Schenken zusammen. Panische Angst befiel den Gardisten. Er glaubte, noch immer die Schreie seiner sterbenden Gefährten zu hören.
Sie vermischten sich mit dem Keifen und Zetern des Pöbels hinter ihm, dazu die Schritte von immer mehr Füßen. Menschliche Ratten, wie der Teniente gesagt hatte. Sie vereinten sich zur gemeinsamen Angriffsrichtung. Ihr Haß und ihre Blutgier konzentrierten sich auf den Flüchtigen, der sich ihnen ausgeliefert hatte.
„Packt ihn!“ schrillte eine Frauenstimme.
„Dreht ihm den Hals um!“ geiferte eine andere, und gleich darauf steigerten sie sich in die wüstesten Tiraden. Vor allem die Hafenweiber waren es, die sich zu den übelsten Scheußlichkeiten verstiegen.
Der Gardist zerrte eine Pistole unter dem Gurt hervor und feuerte im Laufen nach hinten. Viel zu hoch sirrte die Kugel in die Dunkelheit. Er erntete nichts als höhnisches vielstimmiges Gelächter. Dafür aber nahm das hundertfache Geräusch von Schritten zu. Sie holten auf.
Schweißtropfen formten Bäche auf der Stirn des jungen Mannes, und er warf den Helm weg. Triumphierendes Gebrüll war die Antwort. In diesem Moment wußte er, daß er weder die Garnison noch die Residenz erreichen würde. Plötzlich erkannte er die Straße in Hafennähe, die er jetzt erreicht hatte.
Hier befand sich die Faktorei jenes aufrechten Mannes, jenes Deutschen namens Arne von Manteuffel. Manches Mal hatte er Übergriffen getrotzt, hatte sich erfolgreich letztlich auch gegen Vorstöße von Amts wegen zur Wehr gesetzt. Alonzo de Escobedo hatte in dieser Beziehung unrühmliche Beispiele geliefert, als er noch Gouverneur gewesen war.
Der Gardist sah die erleuchteten Fenster der Faktorei, die nur noch um Stein Wurfweite von ihm entfernt war. Diese Fenster strahlten Geborgenheit aus, Sicherheit, Unerschütterlichkeit. Sie schienen zum Greifen nah und waren doch unerreichbar fern. Die Schritte klangen näher, immer näher. Der Gardist streckte die Arme aus und schrie:
„Señor von Manteuffel! Señor von Manteuffel! Hilfe! Das Arsenal …“
Die hastenden Schritte und geifernden Stimmen schnappten wie eine Woge über ihn hinweg und begruben ihn unter sich. Dolche und Entermesser blitzten. Frauen kreischten in Blutgier. Die Stimme des Gardisten erstarb in einem Gurgeln. Er konnte nicht mehr sehen, daß oben in der Faktorei ein Fenster geöffnet wurde.
Der hochgewachsene blonde Deutsche blickte auf die Straße hinunter, in der die entfesselte Meute allem Anschein nach ein Opfer gefunden hatte. Aber noch konnte er sich das Geschehen nicht zusammenreimen, und er wußte, daß es Selbstmord bedeutet hätte, jetzt die sicheren Mauern des Kontorhauses zu verlassen.
Innerhalb von Stunden spitzte sich die Lage zu.
Die Lunte des Pulverfasses Havanna hatte nicht mehr aufgehört zu glimmen.
Bereits drei Tage nach dem Sturm auf das Arsenal stand fest, daß die kubanische Hauptstadt im Chaos zu versinken drohte. Die unbekannten Täter hatten das Arsenal restlos ausgeplündert.
Hunderte von Pistolen und Musketen waren ihnen in die Hände gefallen. Dazu fässerweise Vorräte an Schwarzpulver und entsprechende Mengen an Säcken voller fertig gegossener Kugeln. Außerdem Flints, Ersatzteile für die Schlösser der Waffen, Ersatzläufe, Werkzeuge, Gießzangen für Bleikugeln und Stangenblei.
Über den Verbleib der Beute herrschte noch immer Unklarheit. Wahrscheinlich, so vermuteten Capitán Marcelo und seine Offiziere, hatten die Galgenstricke Waffen, Munition und Zubehör überall im Hafengebiet von Havanna verteilt. Es war unmöglich, all die Ecken und Winkel, von Kellern bis zu Dachböden, von gelockerten Fußbodendielen bis zu herausnehmbaren Mauersteinen, zu durchsuchen. Dazu fehlte es der Miliz und der Stadtgarde an Einsatzkräften.
Die Patrouillen, die für Ordnung zu sorgen versuchten, bekamen indessen zu spüren, daß sie es mit einem Gegner zu tun hatten, der bis an die Zähne bewaffnet war und seine Waffen auch skrupellos einsetzte.
Nur aus dem Dunkel schlug der Gegner zu. Immer häufiger waren in diesen Nächten krachende Schüsse in den Gassen von Havanna zu hören. In den verriegelten Häusern erschauerten Männer, Frauen und Kinder, wenn sie die Todesschreie hörten.
Immer nur nachts traf es die Männer von Garde und Miliz, und immer wurden die tödlichen Kugeln heimtückisch aus dem Hinterhalt abgefeuert. Angst grassierte nicht nur bei den Bürgern. Auch die Milizsoldaten und Gardisten schämten sich nicht länger, ihre Furcht vor Heckenschützen einzugestehen.
Die finsteren Elemente hatten es nicht nötig, mit Blankwaffen auf die verhaßten Ordnungskräfte loszugehen. Beinahe gefahrlos konnten sie sich als Heckenschützen betätigen und die nächtlichen Patrouillen dort dezimieren, wo sie sich in den Lichtschein von Schenken oder anderen Häusern wagten und ein gutes Ziel abgaben.
Die vom neuen kommissarischen Gouverneur angeordnete Verstärkung der Patrouillen erwies sich als wirkungslos. Der revoltierende Pöbel reagierte mit neuen Taktiken. Immer häufiger stießen Patrouillen auf plündernde Horden, die hemmungslos über Lagerhäuser und Geschäfte herfielen, Türen und Fenster einschlugen. Sobald Patrouillen die Verfolgung aufnahmen, flohen die Täter in finstere Winkel, wo dann die Pistolen und Musketen der im Hinterhalt lauernden krachten.
Bevor Capitán Marcelo den Befehl ausgab, fliehende Plünderer nicht mehr zu verfolgen, waren bereits vier Nachtpatrouillen bis auf den letzten Mann niedergeschossen worden.
Es war am Abend des 29. Juni, als Don Luis Marcelo entschlossen die Rotweinflasche in den Schrank zurückstellte, ohne auch nur einen Schluck getrunken zu haben. Was in Havanna geschah, war ihm unter die Haut gegangen. Etwas von seiner alten Härte drang an die Oberfläche.
Die Offiziere, die er zur Lagebesprechung zusammentrommelte, glaubten, ihren Augen und Ohren nicht trauen zu können. Es war ein völlig veränderter Marcelo, den sie da plötzlich vor sich hatten. Einer, der auf einmal durchaus geeignet zu sein schien, den Gouverneursposten auszufüllen.
Es waren knappe und präzise Anweisungen, die Marcelo für die Nacht auf den 30. Juni erteilte.
„Jetzt schnappen wir uns die Strolche“, sagte er mit metallisch klingender Stimme. „Wir greifen uns mindestens ein Dutzend, besser zwanzig oder dreißig, und veranstalten einen Schauprozeß auf der Plaza. Kurz und schmerzlos. Aburteilung und Hinrichtung auf einen Schlag. Als Abschreckung werden die Delinquenten nach der Exekution zur Schau gestellt.“
So wurde die Zahl der Patrouillen in dieser Nacht verdreifacht, und dank der markigen Worte des kommissarischen Gouverneurs gingen die Männer mit neuer Zuversicht auf Streife.
Immerhin wußten sie auch, daß Marcelo selbst eine der Patrouillen führte. Und er hatte ihnen eingeschärft, das Licht der Häuser zu meiden und in keinem Fall das Risiko eines Hinterhalts einzugehen.
Um Mitternacht erreichten Capitán Marcelo und seine zehn Mann starke Patrouille eine der Gassen, die auf die Straße am Kai mündeten. Hier befanden sich die Handelskontore und Lagerhäuser, die Schiffsausrüster und Handwerker. Nachdem ihm das Gesindel während der vergangenen Stunden immer wieder entwischt war, sah Marcelo plötzlich die Gelegenheit vor Augen, auf die er gewartet hatte.
Schatten verschwanden im Torweg eines Lagerhauses.
Es war die höchst willkommene Chance, ein Exempel zu statuieren. Marcelo erinnerte sich an jene Zeiten, in denen er als eisenfressender Gardist gefürchtet gewesen war. Verdammt, dieses lichtscheue Gesindel sollte zu spüren kriegen, mit wem es sich anlegte.
Er war überzeugt, kein Risiko einzugehen, als er halblaut seine Befehle erteilte, während er an der Spitze seiner Patrouille auf das Lagerhaus zumarschierte. Auf den ersten Blick schien es jetzt, als ob bei dem Gebäude alles still sei. Klar, daß die Kerle sich in der Dunkelheit versteckt hatten und nur darauf warteten, bis die Patrouille vorbeigezogen war.
Zwanzig Schritte vor dem Lagerhaus verschwanden vier Gardisten im Torweg des Nachbargebäudes. Es war eine fließende Bewegung aus dem Marschtritt heraus, und der Klang der Schritte ließ nicht auf Anhieb vermuten, daß es nur noch die halbe Patrouille war, die da scheinbar ahnungslos an dem Lagerhaus vorbeimarschieren würde.
„Rechts schwenkt!“ zischte Capitán Marcelo.
Er zog seinen Säbel in dem Moment, in dem er an der Spitze seiner Männer in den Torweg des Lagerhauses stürmte. Ein Weinlager, das sah er noch aus den Augenwinkeln heraus. Natürlich! Auf den berauschenden Teil der Plünderei wollten die Schweinehunde keineswegs verzichten.
Fackeln flammten auf, von jenen anderen geworfen, die über den Nachbar-Hinterhof vordrangen und den Galgenstricken in den Rücken fielen.
Mit gnadenlosen Säbelhieben drang Marcelo gegen die Gestalten vor, die sich im Fackelschein abzeichneten. Größer als erwartet war die Schar der Kerle, die sich da plötzlich in die Enge getrieben sah. Schüsse peitschten. Schreie gellten. Zum ersten Male waren es Plünderer, die in die Falle gerieten. Capitán Marcelo gelang es, kurz nacheinander drei der Kerle mit dem Säbel niederzustrecken.
Doch unvermittelt, als er den Säbel eben wieder hochbringen wollte, sprang ihn aus dem Getümmel eine der Gestalten an. Er sah noch die blitzende Klinge. Dann löschte ein greller Schmerz sein Bewußtsein aus.
In der Lagebesprechung, die am darauffolgenden Morgen von Primer Teniente Echeverria geleitet wurde, konnte der Erfolg der Patrouille Marcelo gewürdigt werden. Der Capitán hatte schwere Stichwunden davongetragen und mußte Tag und Nacht von Ärzten überwacht werden. Außerdem hatte es bei der Patrouille nur drei Leichtverwundete gegeben.
Bei den Plünderern hatte es sich um insgesamt fünfzehn Kerle gehandelt. Zwölf waren getötet worden, drei hatten jedoch fliehen können. Einer der Gardisten war fest davon überzeugt, unter diesen drei Flüchtigen Alonzo de Escobedo erkannt zu haben.
Für einige Tage kehrte Ruhe ein, doch Primer Teniente Echeverria und die übrigen Offiziere wußten nur zu gut, daß es sich um eine Ruhe vor dem Sturm handelte. Der Gouverneurssessel war verwaister denn je, die Iststärke der Miliz und der Garde letztlich unter das Soll abgesunken.
Die Meute, die sich in ihre Rattenlöcher verkrochen hatte, wußte das. Nur vorübergehend glomm die Lunte im Verborgenen.
6.
Die Bürgerversammlung fand am frühen Nachmittag im Saal der Kaufmannschaft von Havanna statt. Überwiegend mit Kaleschen, teilweise aber auch zu Fuß, eilten die Männer aus allen Teilen der Stadt herbei. Patrouillen, die rings um das große Gebäude aufgezogen waren, erweckten wenigstens das Gefühl der Sicherheit. Indes konnte man davon ausgehen, daß die Gefahr von Übergriffen zumindest bei Tageslicht gering war.
Arne von Manteuffel zählte zu jenen Bürgern, die dem Versammlungsort zu Fuß entgegenstrebten. Und er war der einzige, der keine sichtliche Eile an den Tag legte. Unter seinem Umhang trug er eine doppelläufige Pistole und einen Cutlass. Wer immer ihn aus dem Hinterhalt ansprang, würde sich die Zähne ausbeißen.
Aber nichts geschah. Es zeigte sich immer wieder, daß die Galgenstricke zu feige waren, bei Tag offene Angriffe zu unternehmen. Die Bezeichnung lichtscheu traf für diese Leute im wahrsten Sinne des Wortes zu.
Arne erinnerte sich an jene Nacht, von der er mittlerweile wußte, daß es die Nacht des Überfalls auf das Arsenal gewesen war. Der arme Kerl, den sie da in Reichweite seiner Faktorei umgebracht hatten, war einer von der Arsenalwache gewesen.
Nur in der Masse waren sie stark, diese Entfesselten von der Schattenseite des Lebens. Das zeigten sie immer wieder, wenn sie Wehrlose oder fast Wehrlose ausraubten und töteten.
Der holzgetäfelte Saal war schon nahezu vollständig besetzt. Trotz der frühen Tageszeit hatten Diener die Kerzen der Leuchter angezündet. Der Himmel über Havanna war noch immer wolkenverhangen. Das schwache Tageslicht, das durch die Fenster hereindrang, reichte den Schreibern nicht aus, um ihre Protokolle aufzusetzen. Und sollten Dokumente gelesen oder unterzeichnet werden müssen, so brauchten die Señores ebenfalls Licht, um den Federkiel führen zu können.
Arne von Manteuffel fand Platz in einer der mittleren Reihen. Kurz nachdem er sich gesetzt hatte, wurde bereits vorn, am Tisch der Versammlungsleitung, eine Glocke geschwungen. Das Gemurmel ließ nach und verebbte kurz darauf ganz. Ein stattlicher Mann mit sorgfältig gepflegtem Vollbart erhob sich.
„Señores“, sagte er mit dunkler, volltönender Stimme, „man hat mich gebeten, die Versammlungsführung vorerst zu übernehmen, bis wir jemanden für dieses Amt gewählt haben. Für die, die mich nicht kennen: Mein Name ist Felipe Herrera; ich bin Inhaber des Handelshauses Herrera y Castillo an der Calle de Mora. Grund für die Einberufung der Bürgerschaft ist die akute Notlage, in der wir uns befinden. Einziger Diskussionspunkt: sinnvolle Abwehrmaßnahmen. Ich bitte um Wortmeldungen.“
Sofort begann das Gemurmel. In der dritten oder vierten Reihe sprang jemand auf.
„Erst muß der Versammlungsleiter gewählt werden!“ rief er. „Hier muß alles seine Richtigkeit haben, sonst sind unsere Beschlüsse unwirksam!“
Einige Männer lachten.
„Was nutzt dir ein wirksamer Beschluß“, rief ein anderer, „wenn dich der Pöbel genauso wirksam ins Jenseits befördert?“
Erneutes Gelächter. Felipe Herrera schwang die Glocke, und es wurde allmählich wieder ruhig.
„Señores, ich bitte um Ihre Zustimmung, daß wir uns möglichst kurz fassen. Vor Einbruch der Dunkelheit sollten wir unsere Entscheidung in die Tat umgesetzt haben. Um das Verfahren abzukürzen, erklärte ich mich daher bereit, die Versammlungsführung weiter zu übernehmen, wenn niemand dagegen ist. Wir würden uns einen Wahlgang ersparen.“
Minutenlanges Gemurmel folgte. Dann erhob sich ein älterer Mann in der vordersten Reihe und wandte sich zu den anderen um.
„Bei allem Verständnis für Eile, Señores, muß ich doch sagen, daß wir uns an die Gepflogenheiten halten sollten. Ich meine, daß wir in der Person von Señor Don Alfonso Cortés y Menacha den geeigneten Versammlungsleiter hätten. Nichts gegen Señor Herrera, aber …“ Die weiteren Worte des grauhaarigen Mannes gingen im erneuten Stimmengewirr unter.
Arne von Manteuffel mußte sich zusammennehmen, um sich nicht an den Kopf zu fassen. Da fingen diese Leute allen Ernstes an, über Kompetenzfragen zu diskutieren! Natürlich, wie konnte sich auch ein einfacher Handelsmann namens Herrera erdreisten, eine Versammlung leiten zu wollen! Ein solches Amt gebührte einem Mann von Stand – wem denn sonst! Cortés y Menacha war Magistratsbeamter, und er war adlig. Das allein zählte.
Die nächste halbe Stunde verbrachten sie mit Für und Wider, bis sie allen Ernstes den adligen Beamten aus dem Magistrat zum Versammlungsleiter wählten. Bevor er abtrat, erlaubte sich Felipe Herrera den eindringlichen Hinweis, daß es darum gehe, geeignete Maßnahmen gegen den Pöbel zu ergreifen. Nur erbarmungslose Härte helfe im Kampf gegen das mordende und plündernde Gesindel.
Es gab keine Reaktion. Statt dessen klatschten die ehrenwerten Señores Beifall, als Cortés y Menacha den Platz Herreras eingenommen hatte. Der Magistratsbeamte war ein behäbiger, zum Fettansatz neigender Mensch. Sein erster Vorschlag lautete, aus den Reihen der Versammlungsteilnehmer ein zwanzigköpfiges Gremium zu wählen, das zugleich autorisiert werden solle, im Namen aller die erforderlichen Entscheidungen zu treffen.
Nur vereinzelt wurden Stimmen des Unmuts laut.
„Und dann wählt ihr noch zehn Protokollführer, nicht wahr?“
„Faßt am besten auch einen Beschluß, welche Weinsorte ihr zum Treffen eurer Entscheidung trinken wollt!“
„Wenn ihr noch lange debattiert, habt ihr bald überhaupt keine Entscheidung mehr nötig!“
„Sehr richtig! Dann zünden sie euch heute abend den Saal unter dem Hintern an!“
Das beifällige Gelächter, das jedoch gleich wieder versiegte, stammte nur von jenen vereinzelten Stimmen – unter ihnen auch Felipe Herrera. Arne hielt diesen Mann für fähig, die Versammlung zielstrebig zu einem Entschluß zu führen.
Daraus wurde nun jedoch nichts mehr. Unter Leitung des hohen Beamten beschloß die große Mehrheit der Versammlungsteilnehmer tatsächlich, das zwanzigköpfige Entscheidungsgremium zu wählen.
Eine langwierige Prozedur mit Stimmzetteln und Stimmzählern wurde vorbereitet. Über die Frage, ob alle vorgeschlagenen Namen auf einen Zettel oder jeder Name auf einen eigenen Zettel geschrieben werden solle, entspann sich eine längere Diskussion.
Es war dieser Zeitpunkt, zu dem Arne von Manteuffel und einige andere sich entschlossen, die Zusammenkunft zu verlassen. Auch Felipe Herrera hielt nichts mehr in den Reihen der Bürgerschaft. Die Hoffnung, daß sich die Bürger tatkräftig zusammentun würden, um ihren Besitz zu verteidigen und den marodierenden Banden die Stirn zu bieten, hatte sich zerschlagen. Arne von Manteuffel und Felipe Herrera gehörten zu den wenigen Entschlossenen, die ihre Häuser besetzt hielten und verbissenen Widerstand leisten würden.
Diese Versammlung im Haus der Kaufmannschaft war ein Armutszeugnis für die Bürger dieser Stadt. Und es war zugleich das Eingeständnis, daß man nicht in der Lage war, der Umstände Herr zu werden.
Erst zweieinhalb Stunden nach Versammlungsbeginn, so sickerte durch, hatte man es geschafft, das Zwanziger-Gremium zu bilden. Weitere zwei Stunden lang ging es innerhalb des Gremiums um die Frage, ob man eine Bürgerwehr bilden solle. Dies scheiterte dann an der Erkenntnis, daß man nicht über genügend Waffen und vor allem nicht über Munitionsvorräte verfügte.
Es war bereits sieben Uhr abends, als sich das Gremium zu der denkwürdigen Entscheidung aufraffte, die gesamte Bürgerschaft mit Frauen, Kindern und alten Leuten in die Residenz zu evakuieren. Der Gouverneurspalast hatte eine wehrhafte Mauerumfassung und ließ sich besser verteidigen als ein Bürgerhaus.
Die Evakuierung vollzog sich mit viel Händeringen und Gejammer der Señoras, die am liebsten bergeweise Koffer mit Schmuck und Kleidern mitgeschleppt hätten. Arne von Manteuffel unternahm um diese Zeit noch einen Rundgang durch die Straßen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Schnapphähne angesichts dieser Szenen bereits händereibend in ihren finsteren Winkeln lauerten.
Die Bürger mußten sich indessen mächtig sputen, wenn sie bis Einbruch der Dunkelheit noch alle wohlbehalten die Residenz erreichen wollten. Es wirkte beinahe rührend grotesk, wie die Hausherren sorgfältig die Türen ihrer Häuser abschlossen und sich vergewisserten, daß auch alle Fensterläden verriegelt waren, bevor sie in ihre Kutschen stiegen.
Die Faktorei des deutschen Kaufherrn Arne von Manteuffel gehörte in den darauffolgenden Tagen zu jenen uneinnehmbaren Widerstandsnestern, die sich im Stadtgebiet gegen die entfesselten Horden behaupteten.
Arne gab sich indessen keinen Illusionen hin. Das Betätigungsfeld für die Plünderer war weit und reich. Was sie bisher gegen seine Faktorei unternommen hatten, konnte man eher als Geplänkel bezeichnen. Ihm und seiner Helferschar gelang es ohne sonderliche Mühe, Einbruchsversuche zu vereiteln. In den Fällen, in denen es sich um größere Einbrechergruppen handelte, wurden Tromblons und Flaschenbomben eingesetzt. Die jeweilige Wirkung war verheerend und nachhaltig. In solchen Nächten riskierte der Pöbel dann meist keinen weiteren Angriff auf die Faktorei.
Bis zum 8. Juli zog sich das Geschehen auf diese Weise hin.
Nach dem Mittagessen begab sich Jörgen Bruhn mit Isabella Fuentes in die Vorratsräume, um in Arnes Auftrag eine genaue Bestandsaufnahme der Lebensmittel anzufertigen.
Jussuf schlüpfte in zerlumpte Sachen, die er für seine gelegentlichen Verkleidungszwecke hatte und trat auf den Hinterhof hinaus. Arne gab ihm aus einem der oberen Fenster ein Zeichen, als die angrenzende Gasse eindeutig menschenleer war.
Unbemerkt verließ der Türke die Faktorei, um seinen Erkundungsgang anzutreten. Für jemanden in bürgerlicher Kleidung war es mittlerweile auch tagsüber unmöglich geworden, die Straßen zu betreten. Die entfesselten Horden wären sofort über ihn hergefallen. Im Stadt- und Hafengebiet hatte der Pöbel fast alle Gewalt an sich gerissen.
Das galt insbesondere, seit Capitán Marcelo nicht mehr einsatzbereit war und das Gros der Bürger sich in die Residenz geflüchtet hatte. Die Offiziere riskierten es nun weder nachts noch tagsüber, Patrouillen in die Straßen und Gassen zu entsenden. Die Verlustquote wäre unvertretbar hoch gewesen.
Jussuf sah aus wie einer der Marodeure. Vor einem Bürgerhaus, dessen Fenster und Türen aufgebrochen worden waren, ergriff er einen herumliegenden goldenen Kerzenleuchter, den er auffällig unauffällig unter seinem Umhang hielt.
Er merkte sich Straße und Hausnummer. Später würde er den Leuchter mit einem entsprechenden Zettel versehen und in der Faktorei aufbewahren. Vielleicht konnte er ihn einmal seinem rechtmäßigen Eigentümer zurückgeben.
Arne überprüfte unterdessen die Sicherheitsmaßnahmen, die er mit seinen Helfern in der Faktorei getroffen hatte. Dank früherer unangenehmer Erlebnisse hatten sie einige Erfahrung im Abwehren von Angriffen auf das Gebäude. Verwundbare Punkte waren insbesondere die vordere Eingangstür und die Fenster im Erdgeschoß. Die Tür hatten sie von innen mit Bohlen und Stützbalken gesichert, desgleichen die Fenster, deren Läden überdies sorgfältig geschlossen worden waren.