Czytaj książkę: «Hinter den Wolken ist es hell»

Czcionka:

Brigitte Krautgartner

HINTER
DEN
WOLKEN
IST ES
HELL

Von Krankheit und Abschied

und dem Glück des Neubeginns


Inhalt

Vorwort

1. Die Diagnose

2. Der Krankheitsverlauf

3. Hilfe suchen

4. Schwierige Gefühle

5. Krisen meistern

6. Leben jenseits der Krankheit

7. Und wo bleibt die Lebenslust?

8. Der Abschied

9. Zurück ins Leben

10. Spiritualität

Praktische Tipps

Vorwort

Wir sitzen in einem spanischen Lokal und studieren gemeinsam eine Speisekarte. Nicht, dass wir nicht zwei bekommen hätten, wir haben zwei. Aber wir sitzen nebeneinander. Seite an Seite. Lieben es, einander zu berühren. Und tun es auch. Da können wir auch gemeinsam eine einzige Speisekarte studieren.

Das spanische Lokal hat mein neuer Partner ausgesucht.

Wir haben etwas zu feiern. Zwei Dinge eigentlich: Auf den Tag genau vor sechs Monaten sind wir einander zum ersten Mal persönlich begegnet. Wie aufregend das war. Wie sehr wir innerlich gezittert haben … Wir wissen es noch sehr gut.

Die andere Sache: Mein Verlag hat Interesse gezeigt an einem Buchprojekt. An diesem Buchprojekt.

Da sitzen wir also und überlegen uns, welche Tapas wir essen wollen. Das muss ausführlich besprochen werden – schließlich wollen wir ja beide alles kosten. Und so sitzen wir da, tauschen uns aus in der Vorfreude darauf, wie gut es uns schmecken wird. Wir sind heiter und scherzen, das Leben fühlt sich leicht an.

Kurz formt sich in meinem Kopf ein Gedanke, den wir beide schon mehrfach ausgesprochen haben: Wenn wir vor eineinhalb Jahren gewusst hätten, wie fröhlich wir beide in absehbarer Zeit beisammensitzen würden, wie wohl wir uns mit jemandem fühlen würden – um wie viel leichter wäre es uns gefallen, all das Schwere, das Schmerzliche, die Ängste vor der Zukunft und dem unausweichlichen Loslassen zu ertragen. Wie viel zuversichtlicher hätten wir sein können, wie viel sicherer, dass die Zukunft nicht nur Trauer und Mühen bereithält (das natürlich auch), sondern ebenso neue Perspektiven, neue Möglichkeiten, sich zu öffnen, Nähe zu empfinden. Wenn wir das damals auch nur in Betracht gezogen hätten – wie viele dunkle Gedanken und Untergangsszenarien hätten wir uns erspart.

Das ist der Grund, warum ich meine Geschichte aufschreiben möchte. Weil ich zeigen möchte, dass auch schmerzhafte Lebensphasen zu einem guten Ende kommen können, dass es möglich ist, durch sie hindurchzugehen. Natürlich ist das nicht einfach. Ganz im Gegenteil. Es kostet Kraft, mehr als man zu haben meint. Es fühlt sich zwischendurch an, als würden Herz und Seele durch einen Fleischwolf gedreht. Endlose Stunden, in denen niemand da ist, der einem irgendwie helfen könnte. Da ist nur das Wissen, es geht dem Abgrund entgegen. Der Tag und die Stunde sind unbekannt. Niemand kann sagen, was bis dahin genau geschehen wird. Fragt man danach, erhält man lapidare Antworten: Jeder Verlauf ist anders. Das werden die weiteren Untersuchungen zeigen. Jetzt heißt es einmal abwarten. Und – besonders daneben aus meiner Sicht – belasten Sie sich damit nicht.

Als könnte man einen Tag, eine Stunde unbelastet verbringen im Angesicht des Abschieds, von dem man nicht weiß, wann und in welcher konkreten Form er kommen wird. Und was der Weg dahin bringen wird.

Dazu kommt: Viele derer, die Sätze wie diese sagen, sind für die Anliegen der Angehörigen im Grunde gar nicht zuständig. Im Zentrum ihres Denkens steht die kranke Person. Angehörige sind – nun ja – auf gewisse Weise Nebendarsteller. Ja, sie gehören dazu. Aber aus ihrer Perspektive zu denken, sich in ihre Lage zu versetzen und auf dieser Basis einen passenden Umgang mit ihnen zu pflegen – da heißt es nur allzu oft: Fehlanzeige.

So fühlt man sich verloren, voller Angst, weiß nicht, wohin mit sich selber, der eigenen Unsicherheit, dem eigenen Schmerz. Es scheint keine Adresse dafür zu geben, kein offenes Ohr. Stattdessen bekommt man „Aufträge“ vom eigenen Anspruch her und von außen: die kranke Person zu unterstützen, eigene Bedürfnisse zurückzustellen oder gar aufzugeben, alles Mögliche zu regeln und zu organisieren, ruhig und gelassen zu bleiben (trotz des Ausnahmezustandes, in dem man sich befindet). Und, und, und.

Ich würde es so formulieren: Als angehörige Person mit der grausamen Diagnose „bösartiger Tumor, weit fortgeschrittenes Stadium“ konfrontiert zu werden, das bedeutet, sich plötzlich in der Hölle wiederzufinden. Und das, während sich die Welt rundum weiterdreht. Angehörige, Freundinnen und Kollegen planen Urlaube, suchen Wohnungen und Häuser, freuen sich über Enkelkinder, machen Kurse. Während die eigene Welt kurz vor dem Untergang steht, beschäftigen sich andere mit Vergnügungen, Karriere und all den anderen Dingen, die für einen selber in so weite Ferne gerückt sind.

Tatsache ist: Es gibt (fast) keinen Menschen, der im Leben nicht in diese Krisensituationen gerät. Schmerzliche Abschiedssituationen tauchen unweigerlich auf, denn Großeltern, Eltern, Geschwister, Partner, sogar Kinder – sie alle sind sterblich.

Ich möchte davon berichten, wie so ein Abschied gestaltet werden kann. Welche Vorkehrungen man treffen kann, um vermeidbare Belastungen tatsächlich zu vermeiden. Wie es gelingen kann, gerade in schier unerträglichen Lebensphasen gut und verantwortungsbewusst mit sich selber umzugehen. Wie man die eigenen Kräfte, so gut es geht, schonen kann – um sie dann zur Verfügung zu haben, wenn sie gebraucht werden.

Meine Erfahrung ist: Das Leben geht seinen Gang, hinein in dunkle Täler, durch sie hindurch – und auch wieder hinaus ins Helle. Mit vielem sind wir konfrontiert, ohne dass wir eine Wahl hätten. Auch wenn wir es als ungerecht empfinden (und das tun wir vielfach), wir können es uns nicht aussuchen. Und doch können wir vieles bestimmen, auch in Krisensituationen Entscheidungen treffen, die mehr oder weniger konstruktiv sind.

Wie es in meinem Fall gewesen ist, davon schreibe ich hier. Um Sie zu ermutigen. Ich möchte Sie ein Stück weit mitnehmen in meine Geschichte.

Ich habe mein Buch bewusst nicht chronologisch angelegt, sondern thematisch gegliedert. Jedes Kapitel ist als Einheit gedacht, die für sich allein verständlich ist. So können Sie dort lesen, wo Sie selber gerade Ihre Fragezeichen haben. Geht es um den Umgang mit Krisen oder um das Leben jenseits der Krankheit? Sie können überall „einsteigen“. Durch diese Struktur kann es freilich dazu kommen, dass Sie die eine oder andere kleine Doppelung finden, dass im Kapitel über den Krankheitsverlauf etwas steht, was im Kapitel über die allerletzten Tage ebenfalls vorkommt. Dort, wo es für die Verständlichkeit des jeweiligen Abschnitts notwendig ist, habe ich diese Doppelungen in Kauf genommen.

Und jetzt – machen wir uns auf den Weg!

1.
Die Diagnose

Es war wie eine jener Filmszenen, die auf mich immer so unglaubwürdig und schlecht inszeniert gewirkt hatten: Wir saßen im fahrenden Zug und alles zog wie in Zeitlupe an mir vorbei. Die Konturen waren zwar klar erkennbar, nicht „vernebelt“, trotzdem war da eine deutlich spürbare Distanz zu allem, was mich umgab. Die Geräusche rund um mich waren gedämpft. Alles war irgendwie unwirklich. Alles, außer meinem Herzschlag. Und dem Gedanken: Das gibt es also wirklich.

20 Minuten zuvor hatte mir ein einfacher Satz die schmerzhafte Gewissheit gebracht: „Er meint, die Beschwerden kommen von den Knochenmetastasen.“ Rudi hatte die Worte fast beiläufig hingesagt. Damit war alles klar, die Hoffnungen, die wir uns noch gemacht hatten, zunichte – die Richtung vorgegeben.

Bösartig. Krebs. Gestreut. Keine Chance auf Heilung. Der Supergau, den wir befürchtet hatten, war nun offiziell bestätigt.

Wir waren beide nicht darauf vorbereitet gewesen, an diesem Tag überhaupt eine Diagnose zu bekommen. Die Befundbesprechung nach der Gewebeprobe war für einen späteren Termin vereinbart. Aber dann hatte er diese Schmerzen im Bein bekommen, er wusste nicht, ob er trotzdem am Wochenende mit mir Tennis spielen sollte oder sich schonen. Also Anruf beim Arzt, „Kommen Sie vorbei“, und währenddessen, während der Unterredung der beiden, kam online der Befund der Biopsie.

Diverse bildgebende Verfahren bestätigten in der Folge die Verbreitung der Metastasen: Beckenknochen, Oberschenkel, Wirbelsäule.

Jetzt also, an diesem letzten Freitag im August, das Todesurteil. Für ihn – aber auch für mein Leben, wie es bisher gewesen war. Für eine Beziehung, die vor mehr als 20 Jahren begonnen hatte. Jetzt war es gesichert. Mein schrecklicher Verdacht bestätigt. Immerhin bedeutete das auch endlich Klarheit. Immerhin waren die Qualen der Unsicherheit vorbei – so empfand es ein Teil von mir.

Seit Wochen waren wir im Unklaren gewesen. Zwar schienen die Anzeichen immer mehr in die eine Richtung zu deuten; immer jedoch hatte da die Möglichkeit bestanden, dass alles auch ganz anders sein könnte.

Wie groß konnte diese Möglichkeit – unsere Chance – realistischerweise sein? Oft stellten wir den Ärzten diese Frage. Er, bei Terminen, die er allein wahrnahm. Ich bei Terminen, zu denen ich ihn begleitete. Die Antworten waren immer vage, man könne nichts sagen, das würden die weiteren Untersuchungen zeigen, jetzt nichts überstürzen, nicht die Zuversicht verlieren. Der Ton wurde immer rücksichtsvoller. Kein gutes Zeichen, wie ich fand. Die Ungewissheit wurde immer zermürbender. Sie prägte und zerstörte einen Kurzurlaub im Salzkammergut, sie führte Regie in unseren Plänen und in unserem Umgang miteinander, sie begleitete uns abends in den Schlaf und hieß uns am Morgen im neuen Tag willkommen. Sie fraß sich tief in unsere Gedanken und Gefühle, in das Innerste unserer Beziehung. Sie war der Tinnitus, den wir manchmal ausblenden, aber nie loswerden konnten. Bis eben dann die Diagnose kam.

„Jetzt weiß ich es wenigstens“, sagte er auf dieser Zugfahrt zu mir; Worte, die aus weiter Ferne zu kommen schienen.

Und ich? Ich dachte: Ich weiß es schon lange.

Es war mir aufgefallen, dass er deutlich weniger Energie hatte als früher. Dass er beim Zugfahren (und als Pendler waren wir durchaus nicht selten gemeinsam unterwegs) immer öfter einschlief. Aber auch bei einem Klavierkonzert, das ihn eigentlich begeisterte, eine junge rumänische Pianistin. „Sie spielt wie Keith Jarrett“, fand er.

Und: Auffällig oft musste er auf die Toilette. So auffällig, dass ich es ansprach – wissend, dass es für ihn ganz schwierig war, über Gesundheitliches zu sprechen. Und dann noch dazu etwas, das den Urogenitalbereich betraf. Ja, herzlich willkommen im Bereich der einschlägigen Fachausdrücke, es ist ein Nebenaspekt, aber auch sprachlich wurde plötzlich alles anders, medizinisch – auch das ganz Private.

Er wischte meine Bedenken weg, wenn ich sagte, dass ich seinen ständigen Harndrang beunruhigend fand. Ja, er wurde, wenn es gar nicht mehr anders ging, unwirsch. Schob es auf die Kälte, den Tee, das Bier, die Beckenbodenmuskulatur, darauf, dass das bei Männern Anfang 60 normal sein sollte.

Und genau das wurde es dann auch – unsere neue Normalität, geprägt von seinen Symptomen. Eine Normalität, die mich beunruhigte, quälte. Dann wieder schien es besser zu werden – ich gab mir selber eine innerliche Entwarnung. Die wirkte so lang, bis es wieder ein Alarmzeichen gab. Ich kam aus dem Beobachten nicht mehr heraus. Und ausgehend von den Beobachtungsergebnissen gestaltete sich meine emotionale Befindlichkeit. Die ich freilich mit ihm nicht teilen konnte. Denn er teilte mir ganz klar seine Sichtweise mit: Wenn ich immer nur Probleme suchte, dann sei das meine Angelegenheit, dann sollte ich das mit mir selber ausmachen.

So vergingen die Monate Jänner bis Juli.

Im August dann ein erster Arzttermin. Ergebnis der Untersuchung: Der PSA-Wert war dramatisch erhöht. „PSA – was ist das?“ Die Frage war ehrlich gemeint. Für medizinische Kürzel hatte er sich nie besonders interessiert. Er freute sich immer über seinen niedrigen Cholesterinspiegel. Den hatte er übrigens bis zuletzt.

Das Ergebnis der Blutuntersuchung mit dem zu hohen PSA-Wert zog eine Kaskade von weiteren Tests nach sich, immer enger wurde mein Hoffnungskorridor (und seiner auch, aber darüber sprach er nicht).

„Jetzt weiß ich es wenigstens“ – wir waren also im Bereich der Gewissheit gelandet. Es war Spätsommer, und ich trug ein leichtes Kleid. Wir hatten die Einkäufe für das Wochenende dabei. Die Sonne schien. Es war heiß. Unser Urlaub am Meer stand kurz bevor. Alles geplant. Alles wie immer. Der letzte Freitag im August.

Wie es an diesem Tag weiterging? Unspektakulär.

Irgendwann synchronisierte sich die gefühlte Zeit mit der tatsächlichen. Meine Wahrnehmung wurde wieder wie gewohnt. Wir räumten die Lebensmittel aus dem Rucksack, alles an seinen angestammten Platz. Toastbrot und Eier für das Frühstück. Weil wir das am Wochenende gern hatten.

Und dann?

Nicht zu Hause bleiben. Wir gehen weg. Der Abend ist so schön. Wer weiß, wie das Wetter im September werden wird?

Wer weiß, wie alles werden wird … Aber das wagten wir beide nicht auszusprechen.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte in unserer Ortschaft ein Café mit einem schönen Gastgarten eröffnet. Dorthin gingen wir. Und es war … alles wie immer. Die Tische im Freien gut besucht, heitere Stimmung. Die Rosen blühten, dass es eine Freude war. Gelächter. Kinder mit Eistüten. Bekannte Gesichter.

An einem Tisch saßen zwei Sängerinnen aus unserem Chor. Eine verwitwet, eine mit ihrem Mann. Es verstand sich von selber, dass wir bei ihnen Platz nahmen. Und die üblichen Gespräche führten: über das schöne Wetter, über gerade absolvierte oder bevorstehende Urlaubsreisen.

Und wieder fühlte sich alles sehr seltsam an, wieder bekam ich Schwierigkeiten mit meiner Wahrnehmung. So dachte ich zunächst. Bis mit der Zeit klar wurde, es war nicht die Wahrnehmung, an der es lag – es war die Wirklichkeit. Oder, präziser formuliert, es waren die Wirklichkeiten. Denn da kam es zu seltsamen und schwer einzuordnenden Überlagerungserscheinungen.

Hier die Ausnahmesituation, die Diagnose, das Todesurteil. Dort die Normalität, der Sommerabend, die Freundinnen. Ein Glas Gin Tonic vor mir auf dem Tisch, der Geschmack wie immer.

Unausgesprochen stimmten wir darin überein: „business as usual“. Wir wollten die Illusion, alles sei in Ordnung, aufrecht erhalten. Wir sprachen nicht darüber, was an diesem Nachmittag geschehen war. Wir sprachen überhaupt nicht viel. Unsere Welt würde nie wieder dieselbe sein. Aber das musste nicht sofort das alles bestimmende Thema im Gespräch werden. Und wenigstens hatten wir jetzt Klarheit.

Dann bestellte der Mann unserer Chorfreundin noch eine Runde. Und immer noch schien die Sonne …

2.
Der Krankheitsverlauf

Jeder Krankheitsverlauf ist anders.

Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz, diese Phrase im Laufe der Zeit von Rudis Krankheit gehört habe. Und ja, natürlich, es stimmt. Trotzdem war es jedes Mal ein Schlag ins Gesicht, das wieder zu hören.

Nach der Diagnose und der kurzen Frist, die es gebraucht hat, die Nachricht einmal sickern zu lassen, wollte ich wissen, womit ich – ungefähr – zu rechnen hatte. Wie die bevorstehenden Krankheitsstadien aussehen würden. Welche Verläufe möglich sein würden. Auf welche Zeithorizonte ich mich einstellen konnte.

In dieser Situation, in der sich mein Leben überschlug, hatte ich das Bedürfnis, so schnell wie möglich wieder eine Art Orientierung zu finden. Wo ist oben, wo ist unten? Wie soll ich mich verhalten? Wie kann ich wieder so etwas wie Halt finden? Wie wird sich das Ganze auf meinen Beruf auswirken, der eben nicht unbedingt von 9 bis 17 Uhr in einer Kanzlei stattfindet und mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks vorhersehbar ist.

Fehlanzeige!

Soweit ich als Angehörige überhaupt ernst genommen wurde, sofern meine Fragen überhaupt das Ohr der Adressaten erreichten (nicht selten waren das psychologisch erschreckend inkompetente Ärzte), bekam ich jedes Mal diesen Satz zu hören: Jeder Krankheitsverlauf ist anders.

Jetzt, rückblickend, lässt sich natürlich sagen, was geschehen ist, wie sich die Krankheit entwickelt hat, welche Phasen es gegeben hat. Um einen Überblick zu geben, wie so ein Verlauf aussehen kann, möchte ich hier diesen Prozess zusammenfassen.

Die definitive Diagnose kam am 31. August 2017. Darauf folgten verschiedene Arzttermine, an denen ich teilnahm. Zum Teil war das für mich durchaus aufschlussreich. Der niedergelassene Urologe und die in seiner Praxis mitarbeitende Frau waren empathisch, nahmen sich Zeit, reagierten auch positiv auf meine Bitte, keine lateinischen Fachausdrücke zu verwenden.

Wir beide konnten unsere Fragen stellen. Es war eine Atmosphäre des Mitgefühls und der ehrlichen Betroffenheit angesichts der für uns beide so ausweglosen Situation. Medizinisch wurden zunächst keine besonders komplexen Maßnahmen getroffen.

Rudi bekam Schmerzmittel und Hormonpräparate, die das Wachstum des Tumors eindämmen sollten – beides in Tablettenform. Dann traten wir, wie geplant, im September unseren Urlaub in Kroatien an. Die Stimmung war durchwachsen. Manchmal gelang es uns, den Moment zu genießen. Das Meer, die Sonne, das gute Essen – in der Hoffnung, es würde sich eine Stabilisierung des Tumorgeschehens erreichen lassen, einige Jahre in guter Lebensqualität. Wobei dieser Ausdruck schon auch etwas Zynisches hatte. Denn – das hatten mir nicht die Ärzte gesagt, das hatte ich selber recherchiert – Sexualität im herkömmlichen Sinne würde es nicht mehr geben. Für ihn (der andere Sorgen hatte) nicht, und für mich an seiner Seite auch nicht. Ich prägte damals für mich eine Formulierung, die ich immer noch als stimmig empfinde: Ich bin ein menschlicher Kollateralschaden.

Also … gute Lebensqualität (mit entscheidenden Abstrichen) erschien im Bereich des Möglichen. Und darauf hofften wir in diesem Urlaub noch. In den guten Momenten. Andererseits war da die große Angst vor dem, was jetzt auf ihn, auf uns, auf mich zukommen würde. Und das unausweichlich, auch wenn es vielleicht eine Art Galgenfrist gab. So waren diese beiden Wochen am Meer von einem Auf und Ab geprägt. Und genau in diesem Stil, zwischen Angst und Hoffnung schwankend, sollte mein Leben noch lange weitergehen.

Nach der Heimkehr vom Urlaub stand ein kleinerer chirurgischer Eingriff an. Der Tumor als solcher war inoperabel, es war eine kleine OP, gewissermaßen ein Nebenschauplatz: Man wollte ermöglichen, dass Rudi sich wieder freier bewegen konnte, nicht dauernd darauf achten musste, ob ja in unmittelbarer Umgebung eine Toilette war.

Der Urologe, der den Eingriff vornehmen sollte und zu dem ich Rudi zum Vorgespräch begleitete, erwies sich nicht eben als sensibel. Das begann damit, dass er mir keine Sitzgelegenheit anbot, meistens während des Sprechens in seinen Computer schaute und nicht in das Gesicht seines Patienten. Ich denke heute noch mit sehr unangenehmen Gefühlen an diese Situation zurück.

Den Eingriff konnte er nicht zu Ende bringen, er musste ihn abbrechen, sehr zu Rudis Enttäuschung, der sich eine Besserung davon erhofft hatte.

Diese trat dann trotzdem ein. Die Hormontherapie (nach dem Urlaub kamen Injektionen dazu) schlug gut an, die Situation entspannte sich.

Wir lebten also weiter, wie bisher – zumindest nach außen. Er ging weiter arbeiten. Ich versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was mir als halbwegs sicher erschien: meine Arbeit, meine sozialen Beziehungen.

In unserem gemeinsamen Umfeld, zum Beispiel im Chor, sagten wir weiterhin nicht Bescheid. Wir wollten als ganz normale Menschen behandelt werden, ohne Mitleid, ohne beobachtende Blicke, ob einer von uns schlecht aussah.

Freunde und Bekannte, die mit ihm nichts zu tun hatten, weihte ich ein. So konnte ich ab und zu mein Herz ausschütten. Allerdings: Wenn ich jemanden traf, sprachen wir auch viel über andere Themen – die Dinge halt, die vor der Diagnose wichtig gewesen waren. Die jeweilige Arbeit, gemeinsame Interessen und Pläne, auch Scherze. Diese Gespräche taten mir gut, sie brachten Normalität in mein Leben.

An dieser Stelle die ausdrückliche Empfehlung: nicht aus den Augen verlieren, wie vielfältig das Leben auch in einer derartigen Situation ist. Es gibt die Krankheit. Ja. Sie nimmt manchmal mehr Raum ein, manchmal weniger. Aber es ist absolut kontraproduktiv, sie zum einzigen Thema zu machen. Nicht in Gesprächen mit Freunden und Bekannten und auch nicht im eigenen Erleben. Je mehr man sich auf die schwarze Wolke am Lebenshimmel konzentriert, desto größer wird sie und desto weitere Bereiche verdunkelt sie. Je mehr Raum ihr gegeben wird, desto mehr gewinnt sie an Macht.

Ende Oktober brach ich mir dann den Knöchel. Es klingt vielleicht komisch, aber wer sich je mit einem Spaltgips und zwei Krücken durch das Leben bewegt hat, weiß wohl, dass es kaum etwas gibt, das einen mehr ins Hier und Jetzt bringt. Wie komme ich über diese Stufe, über die Straße? Wie schaffe ich es, ohne freie Hände eine Tasse Tee von der Küche ins Wohnzimmer zu transportieren?

In gewisser Weise tat es gut, mit Herausforderungen wie diesen konfrontiert zu sein. Es waren kleine Probleme, die plötzlich im Vordergrund standen – und die ich bewältigen konnte. Jedes Mal dann ein kleines Erfolgserlebnis: der erste Teller Suppe, den ich zubereitet hatte und so weiter.

Dann neue Termine mit Rudi im Krankenhaus. Stundenlange Wartezeiten in der onkologischen Ambulanz im Souterrain. Alte Menschen, junge. Manche ausgemergelt, kahl von der Chemo, andere sahen fit und gesund aus. Als wir endlich an der Reihe waren, eröffnete uns eine Turnusärztin (die sich auch als solche vorstellte), dass Rudi zusätzlich zu seinem Prostatakarzinom eine (gut behandelbare) Form von Leukämie habe. Die junge Frau machte einen überforderten Eindruck und klärte uns ausführlich über die Leukämie-Therapie auf. Die, wie sich in der Folge herausstellen sollte, nicht notwendig war. Das verdächtige Blutbild hatte andere Gründe. Wir bekamen schlechte Nachrichten, dann gab es manchmal Entwarnung, manchmal nicht. Wir waren verunsichert, eingeschüchtert, auch von dem, was das Leben uns da zumutete. Darüber offen zu sprechen, gelang uns nur selten. Wir waren ein Paar und doch beide sehr allein.

Äußerst positiv war der Besuch bei einem weiteren Onkologen, der allerdings nicht im Krankenhaus tätig war, sondern ehrenamtlich bei der Krebshilfe. Er saß uns in einem freundlichen Zimmer gegenüber, sprach gut verständlich, humorvoll und war geduldig, auch wenn wir zweimal dieselbe Frage stellten.

Und endlich einmal jemand, der sich nicht um die Frage nach den Zukunftsperspektiven drückt. Er sagte uns klipp und klar: Entscheidend sei, ob und wo es (abgesehen von den Knochen) Metastasen gebe. Die Untersuchungen waren noch nicht zur Gänze durchgeführt, CT, MRT … all das brauchte Zeit – und wurde offenbar nicht als so dringend eingeschätzt: Einerseits, weil eine Heilung ja ausgeschlossen war, und andererseits war die Behandlung des Primärtumors bereits in Angriff genommen worden. Die Behandlung, in dem Stadium arm an Nebenwirkungen, zeigte durchaus ihre Erfolge. Der PSA-Wert sank deutlich und nachhaltig.

Den Ausführungen des Onkologen zufolge gab es die realistische Chance, eine nicht unerhebliche Zeit lang ein halbwegs normales Leben zu führen. Erstmals seit der Diagnose hatte ich das Gefühl, mich zumindest halbwegs entspannen zu können. Im Gespräch mit Menschen aus meinem Umfeld habe ich es dann so formuliert: Ich habe das Gefühl, ich habe mein Leben zurückbekommen.

In den darauf folgenden Wochen trat die Krankheit tatsächlich in den Hintergrund. In der Arbeit und privat konnte ich mich den Vorbereitungen auf Weihnachten widmen, es war eine Phase der Erholung.

Nach Weihnachten dann die Hiobsbotschaft: Der Tumor hatte sehr ausgiebig gestreut.

Die Metastasen in der Wirbelsäule waren auch der Grund für den Leukämie-Verdacht gewesen: Das Rückenmark war angegriffen. Und angegriffenes Rückenmark kann kein „normales“ Blut produzieren.

Damit war klar: Das von dem freundlichen Onkologen gezeichnete Positivszenario würde es so wohl nicht geben.

In dieser Situation war ich sehr froh, dass ich gleich nach der Diagnose psychologische Begleitung in der Krebshilfe in Anspruch genommen hatte. Das erwies sich als wichtige Stütze; in Krisensituationen war es möglich, öfter hinzukommen, auch zwischen den regulär 14-tägig stattfindenden Gesprächen.

Vieles musste ich aber auch mit mir selber ausmachen. Das ging ein Stück weit. Meine Erfahrung ist, dass sich da durchaus einiges machen lässt (es ist ja nicht immer Hilfe da), aber dass man sich damit auf keinen Fall überfordern soll. Es gilt, die richtige Balance zu finden. Und das ist durchaus möglich. Wie so vieles andere ist auch das ein Lernprozess.

Als Paar haben wir weiterhin nicht allzu viel über die Krankheit gesprochen. Und eigentlich haben wir weitergemacht wie bis dato. Im Guten wie im Schlechten. Schwierige Gefühle wie Wut, Angst, Trauer, wechselseitige Vorwürfe etc. konnten wir nicht ansprechen. Vieles blieb ungesagt. Aber es gab auch Schönes, das wir miteinander genießen konnten: eine Reise nach Barcelona etwa (nachdem sich die Lage im Februar etwas stabilisiert hatte), gutes Essen, Besuche auf dem Markt oder die gemeinsame Freude am Singen.

Er ging immer noch arbeiten. Als wir uns endlich entschlossen, Gespräche mit dem Caritas-Hospizteam zu führen, begründete er das Festhalten an seiner Berufstätigkeit mit ganz einfachen Worten so: „Es ist ein Stück Normalität, das ich nicht missen möchte.“

Klar war, dass ihm seine Arbeit weiterhin viel Freude gemacht hat, die Wertschätzung der Kollegen, die kleinen Scherze, gemeinsame Erfolgserlebnisse und so weiter.

Ein paar Monate in einem – wenn auch sehr prekären – Gleichgewicht waren uns noch vergönnt. Zu den Kartagen 2018 kam allerdings eine große Krise: schier unbewältigbare Schmerzen. Es war fast unmöglich, ihn zu überzeugen, dass es jetzt Zeit für Hilfe war. Dann: Rettung anrufen, Diskussionen führen, bis das Rettungspersonal endlich sein Kommen zusagte. Ich fühlte mich so hilflos, weil ich ihm nicht helfen konnte, und ausgeliefert, weil plötzlich die Abhängigkeit vom guten Willen anderer so deutlich wurde.

Damals war es noch möglich, die Symptome mit einer Infusion und einer Erhöhung der Tablettendosis in den Griff zu bekommen. Am Ostermontag gingen wir gemeinsam ins Kino, dann miteinander essen. Trotzdem: Es war so etwas wie ein Auftakt. Die Schmerzen sollten in der Folge immer wieder zum vordringlichsten Problem werden. Auch, weil es unter den Ärzten keine Einigkeit gab, wie weit man in diesem Krankheitsstadium mit Schmerzmitteln gehen konnte. Als die behandelnde Onkologin wechselte, entspannte sich die Situation.

Schließlich war es ihm nicht mehr möglich, in die Arbeit zu gehen. Ab Juni war er im Krankenstand. Musste immer häufiger ins Spital, um Infusionen zu bekommen. Auch Untersuchungen standen immer wieder an. Meine Gefühlslage wechselte zwischen verzweifelt – ängstlich – wütend und dann wieder recht gleichmütig. Meiner Erfahrung nach gibt es auch in schweren Zeiten so etwas wie eine Normalität. Sie zeigt sich zum Beispiel in Diskussionen, was man am Wochenende kocht, was man XY zum Geburtstag schenkt, welchen Film man am Abend sehen will. Oder doch lieber eine Dokumentation?

Immer noch spielten wir übrigens Tennis miteinander. Wenn er auch nicht mehr so viel laufen konnte, eine Stunde, vergleichsweise gemütlich – das ging. Das war wichtig. Uns beiden. Das letzte Mal, dass wir miteinander spielten, war am 16. Juli 2018.

Bald danach ein neuerlicher Tiefschlag: Eine Schwellung im Bauchbereich musste untersucht werden – und erwies sich nach einer Biopsie als Leberzellenkarzinom. Mir sagten die Ärzte wenig dazu. Es wirkte auf mich, als sei es ein neuer Tumor, unabhängig von der Primärgeschwulst, keine Metastase. Es war ein ausgesprochen unheimliches Gefühl, irgendwann ging es mir durch den Kopf: Dieser Organismus befindet sich im Selbstzerstörungsmodus.

Behandelt wurde dieser neu entdeckte Tumor mit Tabletten. Offenbar wurde er als zweitrangiges Problem betrachtet. Was er wohl auch war.

Unmittelbar vor seiner Entdeckung hatte ich einen Urlaub für September gebucht. Lange, lange hatten wir gehofft, zu zweit verreisen zu können. Immer wieder hatte es ja gute Tage gegeben. Und ein Hotel am Strand, viel liegen und entspannen – wir hätten es uns beide sehr gewünscht. Aber je mehr Zeit verging, desto zögerlicher wurde er. Schließlich war es soweit: Er konnte sich eine Reise nicht vorstellen. Gleichzeitig sagte er mir aber immer wieder, ich solle doch fahren, ich solle Urlaub machen, ich solle mich erholen.

Und genau das habe ich auch gemacht. Nach ausgiebiger Rücksprache mit allen: mit seiner Ärztin und unserer Begleiterin des Hospizteams, mit der Krebshilfe, mit ihm, mit meiner Tochter, mit der Ärztin, bei der ich wegen meiner Schlafstörungen in Behandlung war. Alle ermutigten mich. Und so flog ich tatsächlich für eine Woche nach Valencia. Ans Meer. In dem Wissen, dass ich jederzeit zurückfliegen könnte und das auch selbstverständlich machen würde, sollte es sich so ergeben. Es war ein Urlaub auf Abruf, den ich angetreten habe. Und als ich mein Hotelzimmer am Meer bezog, spürte ich: Ich hatte ihn bitter, bitter nötig.

Am Abend des ersten Tages dann der Anruf: „Du, ich habe ein Bett.“ Ich versuchte noch trotz meines seltsamen Gefühls zu scherzen und sagte: „Ja, ich weiß – im Schlafzimmer.“ Seine Antwort: „Nein, ich bin im Spital.“ Er hatte Schmerzen bekommen. Unter den gegebenen Umständen war ich zunächst erleichtert. Ich wusste ihn in guten Händen, nicht allein. Er ermutigte mich, den Urlaub zu genießen. Worum ich mich auch redlich bemühte.