Czytaj książkę: «Stehaufmenschen»
BRIGITTE GOGL | MARIANNE HENGL
STEHAUF MENSCHEN
GESCHICHTEN, DIE MUT MACHEN
INHALT
Vorwort
Lisa Zöhrer
„Muss ich jetzt sterben?“
Sepp Margreiter
Von schönen Tönen zum Leben erweckt
Adi Spanninger
„Es tut mir gut, dort zu sein, wo er den letzten Atemzug getan hat“
Zuhal Soyhan
„Die Größte bist du ja nicht gerade, aber du bist ein Gesamtkunstwerk“
Martin Riederer
Nicht nur gute Gespräche mit dem lieben Gott
Lisi Lerchster
Vom Leben in die Knie gezwungen
Georg Fraberger
„Ich bin zwar schräg, stehe aber mit beiden Beinen im Leben“
Maria Erlacher
Die Segel so drehen, dass wir mit dem Wind fahren
Thomas Widerin
Der lange Weg zu sich selbst
Martha Salchner
In guten wie in schlechten Zeiten
Melanie und Christoph Neisen
„Das Kuscheln funktioniert auch im Rollstuhl“
Peter Meraner
„Ich konnte nicht mehr in den Spiegel schauen“
Martina Handle
„Wir haben uns fast unverwundbar gefühlt“
Maria Hofmann
Einen Arm weniger – und ein Leben mehr
Walter Wanner
„Aufgeben gibt’s nicht“
Mathias Rauch
„Wenn man wieder gesund ist, braucht man nicht mehr so viel im Leben“
VORWORT
Immer mehr Menschen konzentrieren sich in unserer heutigen Gesellschaft auf Äußerlichkeiten, Macht und Reichtum. Die Medien tragen mit ihrer oft nicht objektiven Berichterstattung sehr viel zu diesem Dilemma bei. Es werden uns falsche Bilder und Werte vorgegaukelt, die nicht den Tatsachen des Lebens entsprechen. Jene Menschen, die im Hintergrund Zivilcourage und Stärke zeigen, werden in der Gesellschaft kaum beachtet.
So ist in mir der große Wunsch entstanden, die echten Stars – von mir werden sie Helden und Vorbilder genannt – vor den Vorhang zu holen. Trotz schwerer Schicksalsschläge haben diese Menschen den wirklich großen Herausforderungen im Leben standgehalten und dem Dasein die Stirn geboten.
ORF Radio Tirol hat meine Idee aufgegriffen und die Radiosendung „Stehaufmenschen“ daraus gemacht. ORF-Moderator Rainer Perle und ich holen jeden ersten Sonntag im Monat Menschen und ihre besonderen Lebensgeschichten vor das Mikrofon.
Autorin Brigitte Gogl hat für dieses Buchprojekt 16 „Stehaufmenschen“ aus der Radiosendung zu Hause besucht. Einfühlsam und selbst überwältigt von deren Geschichten, zeigt sie auf, wie diese Helden mit ihren großen Lebensaufgaben kämpfen, wie sie mit Behinderung, Krankheit oder auch Verlust umgehen.
Das Wichtigste ist, sich im Leben nicht unterkriegen und sich in schweren Stunden auch mal von anderen helfen zu lassen. Immer wieder aufstehen. Krone richten. Weitergehen!
Im Buch „Stehaufmenschen“ stellen wir Charaktere vor, die es geschafft haben, in schweren Tagen den vorbestimmten Lebensweg mutig weiterzugehen. So wurden diese Menschen zu großen Vorbildern.
Es ist mir stets eine unbeschreibliche Ehre und Freude, Persönlichkeiten zu treffen, die mit ihren Lebensgeschichten anderen Mut machen, und ich bin überzeugt davon: Angesichts dieser starken „Stehaufmenschen“ werden die Alltagssorgen vieler Erdenbürger recht klein erscheinen. Von diesen bewegenden Biografien kann man viel für sein eigenes Leben lernen.
„Nicht alle Stürme kommen, um dein Leben zu erschüttern.
Manche kommen, um dir den Weg frei zu machen.“
Marianne Hengl
Marianne Hengl (rechts) und Rainer Perle im Gespräch mit Martina Handle
LISA ZÖHRER
JAHRGANG 1998
Plötzlich war er da, der Knoten. Die schlimmsten Befürchtungen wurden wahr: Lisa hat Lymphdrüsenkrebs. Niemals hätte sich die damals 19-Jährige gedacht, dass sie so jung so schwer erkranken würde. Von einem Tag auf den anderen war für die junge Studentin in ihrem Leben alles anders. Anstatt Zukunftspläne zu schmieden, musste Lisa Zöhrer sich mit den zentralen Fragen von Leben und Tod auseinandersetzen. Zu ihrer eigenen großen Überraschung konnte sie die Krebserkrankung aber annehmen und sogar stärker daraus hervorgehen.
„Muss ich jetzt sterben?“
Lisa Zöhrer erinnert sich noch genau an den Moment, als sie den Knoten zum ersten Mal gespürt hat: „Zuerst war ich gar nicht so beunruhigt, weil ich ja nie krank war außer einmal eine Grippe oder so, und ich hatte keinerlei Beschwerden.“ Als ihre Eltern eine Woche später aus dem Urlaub nach Hause kommen, beschließt man, den Knoten doch im Krankenhaus anschauen zu lassen. Antibiotika machen das Gewächs nicht kleiner, und so erfolgt eine Biopsie, schließlich wird der Knoten komplett entfernt.
Den Tag der Befundbesprechung wird Lisa nie mehr vergessen: „Meine Freundin wurde rausgeschickt, dann sind die Ärzte gekommen und haben mir gesagt, es handelt sich um Lymphdrüsenkrebs. Es hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Es war ein Schock, dann sind auch Tränen geflossen.“ Wirklich realisiert hat Lisa die Diagnose allerdings erst, als ihre Schwester ins Zimmer gekommen ist und geweint hat. Da ist ihr wirklich klargeworden, wie ernst es um sie steht. „Muss ich jetzt sterben?“, fragt Lisa die Ärzte, aber das kann ihr zu diesem Zeitpunkt niemand sagen.
Zwischen Juli und Weihnachten 2018 wird Lisa Zöhrer vier Chemotherapien und 17 Bestrahlungszyklen erhalten. Davor muss Lisa weitreichende Entscheidungen treffen. In alle Behandlungsschritte, jede Operation und jede Therapie muss sie selbst per Unterschrift die Einwilligung geben, zumal sie gerade volljährig geworden ist. Sie hat ihr Leben vor sich, sie will unbedingt eine Familie und Kinder haben – und jetzt kann ihr niemand sagen, ob das nach der Krebstherapie überhaupt noch möglich sein wird. Lisa entscheidet sich dazu, Eizellen einfrieren zu lassen, für alle Fälle, denn die Chemiekeulen werden ihren jungen Körper mehr schädigen, als sie es sich vorstellen kann.
Während der Chemotherapien ist sie hart im Nehmen: Stark bleiben, nicht aufgeben, kämpfen, durchbeißen – das sind ihre Devisen, die sie schon als Mädchen im Leistungssport so sehr verinnerlicht hat. „Wenn du als Kind mit einem Riesenrucksack und zwei paar Skiern tagelang ohne Eltern am Gletscher beim Skitraining bist, dann bist du einfach diszipliniert und hältst auch im Leben einiges aus“, sagt Lisa.
Zum anderen bleibt ihr auch gar nichts anderes übrig, als die Behandlungen mit allen Höhen und Tiefen zu ertragen: „Natürlich habe ich mir jeden Tag gewünscht, gesund zu sein. Trotzdem wusste ich immer, dass ich eben schwer krank bin und dass es aus dieser Situation keinen Ausweg gibt. Man muss die Behandlungen über sich ergehen lassen, um eine Chance auf Heilung zu haben“, erinnert sich Lisa. Wenn man in diese schwierige Lebenslage gerät, dann lerne man intuitiv, damit umzugehen: „Ich versuche, stets nach dem Leitsatz zu leben, dass alles aus einem bestimmten Grund passiert. Und auch wenn es in vielen Situationen kaum vorstellbar ist, dass sich hinter einer so misslichen Lage etwas Positives verbirgt, muss ich sagen, dass ich so viel gelernt habe, weil ich es lernen musste.“
Lisas erster Gedanke nach der Diagnose ist beispielsweise, die Krebserkrankung alleine durchzustehen, den Leuten nichts zu sagen, ihre Familie so wenig wie möglich damit zu belasten: „Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber ich habe mich fast dafür geschämt, krank zu sein“, erzählt die junge Studentin.
Doch schneller als befürchtet wird ihre Krebserkrankung offenbar. Eine Woche nach der ersten Chemotherapie fallen Lisas lange, blonde Haare aus. Sie geht aktiv mit der Situation um: „Ich wusste, dann will ich sie abrasieren.“ Gemeinsam mit ihrem Freund macht sie kurzen Prozess, und die beiden können sogar lachen in diesem tragischen Moment. „Zu zerbrechen war für mich keine Option, ich bin zu jung, ich werde kämpfen und den Krebs auch besiegen“, beschließt Lisa, jetzt mit Glatze.
Während der monatelangen Therapie gibt es für die junge Frau viele schlimme Tage, auch wenn sie rückblickend überrascht ist, wie viel normales Leben in dieser Zeit für sie möglich ist. Zwischen den Behandlungen kann sie einiges unternehmen, auch mit Freunden, in der Natur Kraft tanken, und sie kann sogar ihr Logopädie-Studium weiterführen. Diese wenigen Stunden der Normalität zählen für Lisa zu den schönsten Momenten ihrer Krankheit, die sie sehr oft in die Klinik zwingt, obwohl die Anti-Krebs-Behandlungen meist ambulant erfolgen können.
Ihr Freund ist an den Therapietagen, die so sehr an ihre Substanz gehen, immer bei ihr. Er kümmert sich um alles, studiert die Liste der Nebenwirkungen, die sie selber gar nicht wissen will, und ist insgesamt ein aufmerksamer und einfühlsamer Begleiter. Die beiden können auch während der Chemotherapie noch scherzen: „Einmal war mein Freund kurz draußen und erzählte dann, was er im Gang für einen üblen Beutel gesehen hat, mit einer blauen Folie und einem gelben Schlauch und einem UV-Schutz rundherum.“ Im nächsten Moment geht die Tür auf, und ausgerechnet bei Lisa wird der Beutel mit dem Totenkopf an den Infusionsständer angehängt. Worauf beide richtig lachen müssen.
Die Ängste allerdings, die kommen immer wieder schmerzlich hoch. „Man hat sich mit 19 oder 20 Jahren ja noch nicht wirklich mit dem Tod beschäftigt“, sagt Lisa Zöhrer und erzählt davon, wie man laufend gezwungen wird, dem eigenen Tod ins Auge zu schauen.
Bei einem längeren Klinik-Aufenthalt sitzt sie mit einer Freundin in der Krankenhaus-Cafeteria, um wieder etwas Kraft zu tanken, längst ohne Haare und sichtlich von den vielen Medikamenten in Mitleidenschaft gezogen, da kommt ein Mann an ihren Tisch und wünscht ihr freundlich eine gute Besserung. Und merkt in einem Nachsatz an: „Wenn das überhaupt noch möglich ist.“ Für Lisa ist diese Aussage wie ein Keulenschlag, wieder einmal wird sie mit der Möglichkeit des baldigen Todes konfrontiert, der Satz brennt sich förmlich in ihr ein, sodass sie ihn nie wieder vergessen wird.
Zurück in ihrem Zimmer hat sie eine neue Zimmernachbarin, die nach der Chemotherapie mit großer Übelkeit zu kämpfen hat. „Bei 35 Grad im Zimmer war das nicht auszuhalten, ich bin in den Aufenthaltsraum geflüchtet.“ Da wird sie vertrieben, weil gerade eine Mitpatientin gestorben ist und die Familie in diesem Raum von der Seelsorgerin betreut werden sollte. „Alles in allem war dieser Tag einfach nur furchtbar für mich. Ich habe mich an keinem anderen Tag schlechter und kranker gefühlt als an jenem Tag. So offensichtlich als krank und scheinbar hoffnungslos erkannt und angesprochen zu werden und am selben Tag dem Tod noch so nahe sein zu müssen, war eine furchtbare Erfahrung.“
Ihre Familie will Lisa nicht mit ihren Ängsten konfrontieren. Auch ihrem Freund gegenüber empfindet sie das als schwierig: „Wieso redest du über sowas, das ist jetzt nicht relevant, du überlebst das!“ Für Lisa sieht es danach aus, als gäbe es die Möglichkeit, dass sie so jung sterben könnte, für ihr Umfeld gar nicht.
Dass das Lebensalter für die Überwindung einer Erkrankung immer ausschlaggebend ist, glaubt Lisa nur bedingt. Einmal wurde sie von einem 83-jährigen Mann auf der Chemoambulanz angesprochen. Er meinte, wie unfair es sei, dass sie bessere Heilungschancen hätte als er. Dass es nicht fair sei, dass sie aufgrund ihres Alters eine bessere Chance hätte, die Erkrankung zu überleben, als er. Im ersten Moment war Lisa schockiert von dieser Aussage: „Wie kann ein 83-Jähriger es unfair empfinden, dass eine 20-Jährige bessere Chancen hat, eine Krebserkrankung zu überleben? Ich bin froh, wenn ich nur halb so alt werden darf wie er. Das war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf gegangen ist.“ Durch dieses Erlebnis wurde Lisa klar, dass man sich nie „alt genug“ zum Sterben fühlt. Ihr wurde bewusst, dass ein 83-jähriger Mann dieselbe Angst vor dem Tod haben kann wie ein junger Mensch. Und dass er genauso weiterleben möchte wie ein 20-jähriges Mädchen. „Daher glaube ich, dass die Lebenseinstellung einen großen Einfluss auf die Verarbeitung der Erkrankung hat“, sagt Lisa. Sie habe einige ältere Patientinnen und Patienten kennengelernt, die viel mehr mit ihrem Schicksal gehadert hätten als die jüngeren Patientinnen und Patienten.
Lisa spricht über ihre Sorgen immer wieder mit der Psychoonkologin an der Klinik, über die nagende Angst, den 21. Geburtstag nicht mehr erleben zu dürfen. Aber welche Gedanken können da überhaupt helfen, was hat für Lisa die Angst vor dem Tod beherrschbar gemacht? „Es war allein schon die Tatsache, das alles einmal laut aussprechen zu können, den Worstcase, dass der Tod eintreten könnte. Was sie mir geraten hat, weiß ich heute gar nicht mehr, es war einfach so befreiend, selber meine Gedanken offen zu formulieren“, erinnert sich Lisa Zöhrer, wie sich ihr Bezug zum Thema Sterben und Tod in dieser Zeit stark verändert hat. Von einer wirklichen Panik und dem Bemühen, den Gedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen, kommt sie hin zur beruhigenden Überzeugung, dass das Sterben jedem Menschen irgendwann einmal passiert, dem einen früher, dem anderen später.
Und so bewältigt sie noch während der Therapien die Angst vor dem Sterben – auch, indem sie erkennt, dass es für sie eigentlich die Sorge ist, so viel im Leben zu verpassen: Niemals eine Familie aufbauen, nie einen Partner heiraten, nie ihren angestrebten Beruf der Logopädin ausüben, einfach das geplante Leben nie umsetzen können.
Sie verliert die Angst, aber auch die Leichtigkeit. Das unbeschwerte Leben einer 20-Jährigen ist schlagartig vorbei, die Prioritäten im Leben verschieben sich: „Wenn man sich früher überlegt hat, soll ich die Haare heute Abend lockig haben oder soll ich sie glätten, oder welchen Puder kaufe ich mir, das wird halt alles unwichtig, wenn man keine Haare mehr hat“, sagt Lisa.
Doch die Behandlungen schlagen gut an, der Knoten wird im Laufe der Monate spürbar kleiner und Lisa erhält nach langem Bangen und Hoffen endlich die erlösende Nachricht: Sie hat den Krebs besiegt! Alle feiern mit ihr diese frohe Botschaft, sind glücklich und erleichtert – nur für Lisa selbst ist der große Tag nicht so, wie sie ihn sich ausgemalt hat: „Ich habe mir gedacht, mit fällt dann ein Riesenstein vom Herzen und alles ist super, aber so war es nicht.“ Lisa findet sich nach der ersten großen Freude völlig überraschend in einem großen, schwarzen Loch wieder.
Es beginnt die Phase, die Lisa heute als „schwieriger als die Erkrankung an sich“ bezeichnet. Für alle anderen, für Familie und Freunde passt jetzt alles wieder, man ist gesund. „Aber man kann nicht ganz normal weiterleben, jetzt kommt die große Unsicherheit, was ist, wenn der Krebs zurückkehrt und niemand tut etwas dagegen, ich kriege ja keine Medikamente mehr, ich bin allein mit dem Feind in meinem Körper“, erinnert sich Lisa an diese schwierige Zeit.
Am schlimmsten ist, wenn diese Ängste vor dem Wiederkehren der Erkrankung heruntergespielt werden. „Ganz besonders in dieser Situation will man sich verstanden fühlen und nicht das Gefühl vermittelt bekommen, dass das jetzt total irrationale Ängste oder unwichtige Gedanken sind“, hat Lisa inzwischen auch von anderen Betroffenen erfahren. „Besser wäre die Botschaft: Ja, es stimmt, es kann wieder etwas zurückkommen, und wir können tun, was in unserer Macht steht, wir können auf die Ernährung achten oder Sport machen, alles tun, was dir guttut“, erklärt Lisa. Sie kämpft über Monate mit diesen unerträglichen Gedanken, die besonders vor den Nachuntersuchungen für sie kaum zu ertragen sind.
Lisa hat den Krebs besiegt, das zeigen die Kontrolltermine beständig. Die Angst vor einer schlechten Nachricht wird mit jeder Nachuntersuchung kleiner. Und die Kräfte wachsen in Lisa langsam wieder, was sie daran spürt, dass sie sich wieder um die Verwirklichung ihrer Lebensziele kümmern will.
Bald wird Lisa Zöhrer als Logopädin ins Berufsleben einsteigen. Und den großen Traum von einer eigenen Familie und Kindern, den Lisa schon vor ihrer Erkrankung hatte, will sie weiterhin verwirklichen. Wenn auch nicht mehr mit dem Partner, der sie durch die Krankheit begleitet hat. Danach haben sich die beiden Leben in verschiedene Richtungen entwickelt, sagt Lisa, so wie eben die Fragen an das Leben nicht mehr dieselben sind wie vor der Erkrankung.
Was ist die größte Erkenntnis für die junge Kämpferin, die eine lebensbedrohliche Krankheit so bewundernswert bewältigt hat? „Man muss nicht in jedem Moment im Leben stark sein. Schwäche soll man immer im Leben zulassen, weil es eine Stärke ist, wenn man Schwäche zeigen kann“, sagt Lisa Zöhrer.
Da war die Welt noch in Ordnung: Lisa Zöhrer mit Schwester und Mutter (1) und bei einer Familienfeier (2). Der Leistungssport hat sie stark gemacht (3), sodass sie ihrer Krebserkrankung mutig und in Würde begegnen konnte (4/ 5).
SEPP MARGREITER
JAHRGANG 1952
Er war ein „gestandener“ Tiroler, wie man so sagt, mit beiden Beinen fest im Leben stehend. Sein Traum war es, einmal wie Karl Schranz Skirennläufer zu sein. Er trainierte hart, aber nach ein paar Beinbrüchen war es aus mit der geplanten Karriere und er wurde stattdessen Chef einer Skischule und ein hervorragender Musikant – so feierte Sepp Margreiter schließlich viele Erfolge im In- und Ausland. Bis ihn ein dramatischer Arbeitsunfall jäh aus seinem Leben riss: Der 46-Jährige wurde beim Holzarbeiten von einem Baum beinahe erschlagen und war fortan querschnittgelähmt.
Von schönen Tönen zum Leben erweckt
Ich habe geglaubt, jetzt ist alles vorbei. Wenn ich damals schon gewusst hätte, was im Rollstuhl noch alles möglich ist, dann hätte ich nicht so viel weinen müssen“, sagt der an sich hartgesottene Sepp Margreiter heute über sein Leben, das sich seit dem lebensbedrohlichen Unfall so massiv verändert hat.
Sepp, verheiratet und Vater von drei Söhnen, ist im Mai 1999 mit seinen Kollegen beim Holzarbeiten im Wald. Es ist alles wie immer, die Motorsägen heulen, oberhalb von ihm wird ein Baum gefällt, Sepp Margreiter trägt Helm und Gehörschutz. Doch dann das Unerwartete: Ein Baum ist morsch und fällt in die falsche Richtung. Die Kollegen warnen Sepp noch durch Schreie, doch die kann er nicht hören. Der Baum fällt falsch, und er fällt dem Sepp genau ins Kreuz.
Eine beispiellose Rettungsaktion beginnt: Per Hubschrauber kommt sofort der Notarzt, und er erkennt die akute Lebensgefahr, weil sein Patient dabei ist, innerlich zu verbluten. Der Arzt operiert mitten im Wald, öffnet den Brustkorb und legt Drainagen, damit das Blut abfließen kann. Ein paar Minuten später, und Sepp Margreiter wäre nicht mehr am Leben.
Doch das Bangen bleibt: Sechs Wochen lang liegt Margreiter im Koma, mit sechs gebrochenen Wirbeln, einem praktisch durchtrennten Rückenmark und einem lebensgefährlichen Lungenriss. Monatelang wird er auf der Intensivstation künstlich beatmet, bis endlich Entwarnung gegeben werden kann. Ganz benebelt ist Sepp Margreiter noch von den vielen Schmerzmitteln, als er in der Aufwachphase plötzlich eine ganz zarte Melodie hört, die er aber nicht zuordnen kann. „Das glaubt man nicht, aber ich dachte wirklich, jetzt bin ich tot und im Himmel angekommen“, lacht Sepp Margreiter heute. Doch die Musik ist real, ein Arzt hatte die Idee, den 11-jährigen Sohn von Sepp auf der Intensivstation mit der Ziehharmonika spielen zu lassen. „Er hatte recht, das hat meine Lebensgeister ganz schnell wieder geweckt, das Erlebnis werde ich nie mehr vergessen.“
So wie sich jener Tag einprägt, als der Pfarrer auf der Intensivstation auftaucht und dem Sepp ein Stück Hostie in den Mund schiebt. „Ich habe mich innerlich furchtbar aufgeregt, weil ich geglaubt habe, jetzt geht es mit mir zu Ende und der Pfarrer ist gekommen, um mir die Letzte Ölung zu geben.“ Dabei ist es nur ein normaler Sonntagsbesuch des Pfarrers und Sepp ist mittlerweile klar in Richtung Genesung unterwegs. Die Querschnittlähmung freilich wird ihn sein Leben lang begleiten.
Aber davon ahnt Sepp Margreiter zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Dass er querschnittgelähmt ist, erfährt er nämlich nicht hochoffiziell, sondern eher zufällig: Als er erkennt, dass er seine Beine nicht mehr bewegen kann, sagt eine Krankenschwester zu ihm, sie kenne einige Querschnittgelähmte, die weiterhin selbständig eine Firma führen. „Da war mir plötzlich klar, dass ich im Rollstuhl sitzen werde. Dieser Satz hat sich in meinem Hirn eingebrannt, ich war total verzweifelt und habe hemmungslos geweint.“
Sepp Margreiter kommt nach dem Krankenhaus in das Rehabilitationszentrum Bad Häring, das auf querschnittgelähmte Patientinnen und Patienten spezialisiert ist. Er wird liegend transportiert und ist so schwach, dass er kaum die Arme heben kann. Aber sein Kampfgeist ist nach vielen Tränen und nach dem ersten Schock schon wiedererwacht. „Bis Dezember muss ich wieder fit sein, denn die Skischule wartet auf mich“, sagt er den Therapeuten, und sein starker Wille, sein Einsatz und sein Durchhaltevermögen machen dieses so hochgesteckte Ziel immer realistischer.
„Mein schönstes Erlebnis in der Therapie war, dass ich mir den Schuh wieder selbständig anziehen konnte“, erinnert sich Sepp Margreiter, „das kann sich kein gesunder Mensch vorstellen, was das für ein unglaublich großer Gipfelsieg ist.“
Erfolge wie dieser stärken Margreiter immer weiter. Längst hat er schon den Entschluss gefasst, im Rollstuhl nicht nur wieder in seiner Skischule zu arbeiten, sondern auch wieder die Posaune zu spielen. Den Ärzten scheint das wegen der schweren Lungenschäden und der jetzt fehlenden Bauchmuskulatur unmöglich, „aber Gott sei dank haben die Ärzte nicht immer recht“, lächelt Sepp Margreiter. Oder sie haben einfach nicht mit seinem unbändigen Kampfgeist gerechnet. Er trainiert seine Lungenflügel heimlich mit dem Mundstück der Posaune und seine Musikantenfreunde halten ihm den Platz in der Gruppe frei. „Das Gefühl, dass sie mich nicht vergessen haben, war so wichtig für mich; das Wichtigste ist natürlich die Familie, die Frau, die mich immer besucht hat, die Söhne, aber die Musik, die hält mich tatsächlich auch am Leben“, sagt Margreiter.
So schafft er unter größten Anstrengungen das Unglaubliche: Pünktlich am 17. Dezember ist er zur Eröffnung der Skischule in Alpbach wieder im Einsatz, mit vielen Abstrichen zwar, aber er ist zurück im Leben, bei seiner Arbeit, seiner Familie – und bei seiner Posaune.
Wenige Tage später, am 24. Dezember, tritt er mit den Alpbacher Bläsern zum ersten Mal wieder vor einer großen Öffentlichkeit auf – bei der „Liabsten Weis“ im Fernsehen. „Als ich damals in den ORF gekommen bin, waren alle Freunde da, und alle hatten feuchte Augen“, erinnert sich Sepp Margreiter.
Er spielt wieder, und er spielt wieder mit den Alpbacher Bläsern genauso wie mit der Alpbacher Kirchtagmusig und der Bundesmusikkapelle Alpbach. Dafür trainiert und übt er täglich hart, damit seine Lunge mitspielt und auch sonst alles passt: „Ich könnte es nicht ertragen, dass sie mich nur aus Mitleid mitnehmen, das wäre etwas vom Schlimmsten für mich.“
Sepp hat sich seinen Platz in der Musikwelt wieder zurückerobert. Und er spielt sogar am Berg, dort, wo andere nur in kräfteraubenden, stundenlangen Fußmärschen hinkommen: „Zweimal haben mich meine Kollegen auf einen Gipfel zur Bergmesse gebracht, einmal mit dem Hubschrauber, einmal mit einem Spezialgefährt zur Holzbringung.“ Fast vier Stunden brauchen sie, um den Sepp mit vereinten Kräften auf den Berg zu befördern, und als oben die ersten Töne erklingen, da rinnen dem Sepp die Tränen über die Wangen. Sein großer Traum ist in Erfüllung gegangen, noch einmal hier oben zu musizieren.
„Ich bin weicher geworden durch den Unfall, der hat mich regelrecht aufgeweicht, und das ist gut so, denn wir sind alle so hart aufgewachsen, viel zu hart eigentlich. Heute betrachte ich es als Stärke, solche Gefühle zu zeigen, früher hätte ich es als Schwäche gesehen und oft wird man heute noch als Schwächling gesehen deshalb“, sagt Margreiter. „Die Gefühle rauszulassen ist heilend, das könnte ich durchaus auch empfehlen. Ich würde sagen, dass es manchen Menschen psychisch besser gehen würde, wenn sie ihre Gefühle mehr zeigen würden, das ist meine Erfahrung durch den Unfall.“
Körperliche Fitness ist für Rollstuhlfahrer mindestens ebenso wichtig wie für Menschen, die auf zwei Beinen durchs Leben gehen. Sepp Margreiter bleibt deshalb nicht nur im Skischulbüro, sondern lernt im zweiten Jahr schon Monoskifahren. Er unterrichtet dann selbst behinderte Menschen – und wird auch darin schnell über die Grenzen hinaus bekannt. Zwei, drei Stunden trainiert Margreiter täglich im eigenen Fitnessraum. Und sobald es das Wetter zulässt, schwingt er sich in sein Handbike und ist auf und davon. Für seinen Ehrgeiz und seine Zähigkeit ist Sepp Margreiter seit jeher bekannt – und der Unfall hat diese Eigenschaften eher noch verstärkt. Bis heute ist er mehr als 80.000 Kilometer mit seinen Händen geradelt und hat dabei über 600.000 Höhenmeter bewältigt. Sein größter Erfolg: Er befuhr mit 61 Jahren mit dem Handbike und ohne Motor die Großglockner-Hochalpenstraße – beobachtet von staunenden Radfahrern, die wesentlich jünger sind als der Sepp, die mit zwei gesunden Beinen radeln und oftmals trotzdem scheitern. „Ja, zumindest in meinem Alter wird es eher keinen geben, der das geschafft hat“, sagt Sepp Margreiter ganz bescheiden zu der Leistung, die andere als wahre Sensation werten.
Sepp Margreiter war schon vor seinem Unfall mit vollem Einsatz bei der Sache. Als staatlich geprüfter Skilehrer trainierte er damals sogar den englischen Skinachwuchs und das britische Armeeteam. Freundschaften aus dieser Zeit führten ihn nach seinem Unfall sogar zum Tee mit Prinz Charles auf dessen Landsitz in Highgrove. „Meine Frau und ich sind behandelt worden wie die Könige, das war ein wirklich unvergessliches Erlebnis“, schmunzelt Sepp Margreiter, der als einer von ganz wenigen Österreichern persönliche Beziehungen zum Prinzen haben dürfte. „Ich habe ihm dann auch zur Hochzeit mit Camilla gratuliert, und er hat mir persönlich geantwortet.“
Das Leben von Sepp Margreiter ist voller schöner Erinnerungen – und es ist ein lebenswertes Leben geblieben. Das erzählt er auch immer wieder Schulklassen und auch frisch verunfallten Menschen an der Innsbrucker Klinik. „Wenn ich denen sage, es gibt ein Leben danach, es ist noch so viel möglich, ich bin heute selber mit dem Auto hier, ich fahre Rad, ich fahre Ski, dann beginnen die ausdruckslosen Augen plötzlich zu leuchten“, erzählt Sepp Margreiter. Er schaut selbst auf ein Leben in Bewegung, das nur kurz einmal stillgestanden ist: „Ich kann heute alles wieder machen, außer gehen.“