Czytaj książkę: «LARP: Nur ein Spiel?»
Rafael Bienia / Karsten Dombrowski (Hrsg.)
LARP: Nur ein Spiel?
Aufsatzsammlung zum MittelPunkt 2013
Rafael Bienia / Karsten Dombrowski (Hrsg.)
„LARP: Nur ein Spiel? – Aufsatzsammlung zum MittelPunkt 2013“
Erste Auflage 2013
Copyright © 2013 Zauberfeder GmbH, Braunschweig
Herausgeber: Rafael Bienia, Karsten Dombrowski
Autoren: Dr. Heinrich Dickerhoff, Carl David Habbe, Bodo Jentzsch, Gerke Schlickmann, Daniel Steinbach, Dennis Wienert-Risse
Titelbild: Rafael Bienia
Satz und Layout: Christian Schmal
Herstellung: Tara Tobias Moritzen
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Einwilligung des Verlags in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN: 978-3-938922-40-8
Hinweis:
Das vorliegende Buch ist sorgfältig erarbeitet worden. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Autoren und Verlag bzw. dessen Beauftragte können für eventuelle Personen-, Sach- oder Vermögensschäden keine Haftung übernehmen.
LARP:
N U RE I N SP I E L ?
AUFSATZSAMMLUNG ZUM MITTELPUNKT 2013
INHALT
Vorwort: Belangloser Spaß oder Kulturgut? (Rafael Bienia/Karsten Dombrowski)
Glossar
• Live-Rollenspiel in der Erwachsenenbildung – Hintergründe – Konzeption – Chancen und Risiken (Dr. Heinrich Dickerhoff)
• Die Mauer muss weg – Live-Rollenspiele und Alternate Reality Games vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Teilung (Daniel Steinbach)
• Cross-Gender im LARP – Ein blinder Fleck? (Gerke Schlickmann)
• Aus dem Rahmen gefallen – Warum LARP von Klischees lebt (Dennis Wienert-Risse)
• Spieler sind auch nur Zuschauer – Was LARP von der Theaterwissenschaft lernen kann (Carl David Habbe)
• Theater vs. LARP (Bodo Jentzsch)
Literatur: Lesenswert
DANKSAGUNG
Ein besonderer Dank gilt, neben dem Deutschen Liverollenspiel-Verband, der Gilde der Drachenreiter e.V. und dem Team des MittelPunkts 2013, den Sponsoren Amizaras, McOnis Handelskontor, Mittelalterlive, Mystische Bauten, Naturtuche, RPC Germany sowie Utopion, die dieses Buch erst ermöglicht haben.
BELANGLOSER SPASS ODER KULTURGUT?
Spaß ist vielleicht die einzige Sache mit der man nicht spaßen darf. Und geht es beim LARP nicht eigentlich nur um Spaß? Jeder, der LARP ernst nimmt und Möglichkeiten sieht, die Rolle des Hobbys als Kulturgut zu hinterfragen oder hervorzustellen, dürfte den harschen Wind der Kritik und die Worte der Zweifler kennen: Was soll denn das Ganze mit dieser Rumforscherei und Experimentiererei? Lasst unser LARP wie es ist – ist doch alles prima. Vielleicht ist alles prima, vielleicht geht da aber auch mehr.
Während in Deutschland viele LARPer ihr Hobby als etwas kindische Spielerei sehen und es gegenüber Arbeitskollegen und Vorgesetzten verschämt verschweigen, steht der norwegische Minister für Internationale Entwicklung Heikki Holmås nicht nur sehr offen zu seinen LARP-Erfahrungen, sondern sieht in diesem Medium handfeste Möglichkeiten für den Einsatz in der Entwicklungsarbeit.
In Grönland gab es bereits 2011 ein Projekt des Kulturinstituts NAPA (Nordisches Institut in Grönland) und der Kopenhagener Rollespilsakademiet (Rollenspielakademie), bei dem mehr als 1.000 grönländische Kinder und Jugendliche sowie deren Lehrer in das Hobby LARP eingeführt wurden. In einer Region mit großen sozialen Problemen wie hoher Arbeitslosigkeit, stark verbreiteter Alkoholismus und einer der höchsten Selbstmordraten unter Jugendlichen weltweit, sollte LARP Abwechslung in den Alltag bringen und den Kindern und Jugendlichen einen Weg aufzeigen, wie sie sich auf neue Weise mit ihrer eigenen Kultur auseinandersetzen können.
Und auch in der Kunst- und Medienwelt findet LARP Anklang. Wie weit das gehen kann zeigte eindrucksvoll The Spiral, eine fünfteilige Dramaserie rund um einen spektakulären Kunstraub, die zwischen dem 3. September und dem 1. Oktober 2012 auf Arte und sechs andere europäische Fernsehsender ausgestrahlt wurde. Ideengeber und treibende Kraft des Projekts waren LARPer aus Schweden, die ihre Erfahrungen aus dem Live-Rollenspielbereich in das transmediale Erzählen von Geschichten umgesetzt haben. Die Jagd auf die Kunstdiebe fand daher nicht nur im Fernsehen statt, sondern die Geschichte wurde auch zwischen den Folgen online und in der „realen Welt“ weitergeführt.
Diese Serie mag selbst im internationalen Vergleich eine Ausnahme darstellen, aber auch ganz unabhängig von der großen glitzernden Welt der Fernsehbudgets entstehen immer mehr ambitionierte Projekte von Künstlern unterschiedlichster Prägung, insbesondere aus dem skandinavischen Raum, die LARP-Elemente in ihre Kunstwerke und Performances einbauen.
Erste ähnliche Ansätze gibt es auch in Deutschland, trotzdem scheint es im angeblichen „Land der Dichter und Denker“ manchmal so viel schwerer LARP-Innovation voranzutreiben, als in Ländern wie Dänemark, Schweden, Finnland und Norwegen.
LARP: Nur ein Spiel? lädt daher ein, sich mit neuen Perspektiven, Konzepten und Vorstellungen von LARP als Hobby, aber auch als Medium, auseinanderzusetzen. Das Motto dieses Bandes Nur ein Spiel? sollte durch die Beiträge hindurch zu erkennen sein. Manchmal hilft ein wenig Schummeln und „interpretieren“, aber wir befinden uns ja im Kontext eines nicht ernstgenommenen Erwachsenenspiels …
In Live-Rollenspiel in der Erwachsenenbildung – Hintergründe – Konzeption – Chancen und Risiken beschreibt Dr. Heinrich Dickerhoff, warum er als Christ und Theologe Live-Rollenspiel schätzt und worin aus seiner Sicht die pädagogischen Chancen des Mediums bestehen.
Mit dem schwierigen Thema der deutsch-deutschen Teilung und der Frage, ob und wie man diese im LARP thematisieren kann, beschäftigt sich der Beitrag Die Mauer muss weg – Live-Rollenspiele und Alternate Reality Games vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Teilung von Daniel Steinbach.
In Cross-Gender im LARP – Ein blinder Fleck? geht Gerke Schlickmann der Frage nach, warum in einem Medium, in dem Verkleiden und das Spielen einer anderen Rolle so zentrale Elemente sind wie im LARP, die Mitspielenden trotzdem so selten Charaktere mit einem anderen Geschlecht spielen.
Eine Einführung in die soziologische Rahmentheorie und ihren Bezug zum Live-Rollenspiel gibt Dennis Wienert-Risse. Aus dem Rahmen gefallen – Warum LARP von Klischees lebt soll einen theoretischen Unterbau bieten, um besser zu verstehen warum große Zwerge auf Gegenwind stoßen und wie LARPer es überhaupt schaffen, miteinander zu spielen.
Viele Fragen über (gutes) LARP lehnen sich aus Sicht von Carl David Habbe an Diskurse in der Theaterwissenschaft an. Die Chancen und Grenzen dieses Ansatzes versucht er in seinem Beitrag Spieler sind auch nur Zuschauer – Was LARP von der Theaterwissenschaft lernen kann zu beleuchten.
Bodo Jentzsch argumentiert in Theater vs. LARP dagegen, dass LARP zwar manche Gemeinsamkeiten mit dem Theater aufweise, sich letztlich aber so sehr unterscheide, dass die Ansätze der Theaterwissenschaft bei der Untersuchung zentraler Aspekte des Mediums an ihre Grenzen stoßen.
Man muss im LARP nicht die DDR-BRD-Geschichte thematisieren oder sich mit Themen wie Gender-Rollen und Gruppendynamik in der Gesellschaft auseinandersetzen. Aber man kann – und das ist eine der Stärken von Rollenspiel allgemein. Schließlich bleibt vielleicht nicht die Frage, zu was LARP gut sein soll, sondern welche Möglichkeiten bisher nicht ausprobiert wurden. Diese Aufsatzsammlung ist daher nicht nur eine Präsentation von Ideen, sondern auch eine Einladung an andere, die Möglichkeiten und Grenzen dieses Spiels weiter ausgiebig zu testen, zu hinterfragen, zu ähnlichen oder ganz anderen Schlüssen zu kommen und darüber zu berichten!
Viel Spaß und viele neue Erkenntnisse wünschen die Herausgeber
Rafael Bienia und Karsten Dombrowski
GLOSSAR
Charakter: Die fiktive Figur, die ein Teilnehmer innerhalb der Spielwelt darstellt.
Con: Von engl. Convention. Eine unter Live-Rollenspielern gebräuchliche Bezeichnung für LARP-Veranstaltungen.
In-time: Wird im LARP für innerhalb des Spiels bzw. im Spiel befindlich verwendet. Siehe auch: Out-time.
LARP: Abkürzung für Live-Rollenspiel (von Live Action Role Play)
Nicht-Spieler-Charakter (abgekürzt NSC): Wird in zweierlei Bedeutung verwendet. Zum einen als Bezeichnung für eine bestimmte Kategorie von Teilnehmern, welche die SL bei der Durchführung des Cons unterstützen, zum anderen als Sammelbegriff für die Charaktere, die diese Teilnehmer darstellen.
Out-time: Wird im LARP für außerhalb des Spiels bzw. nicht im Spiel befindlich verwendet. Siehe auch: In-time.
Plot: Die Spielhandlung eines Cons.
Spieler-Charakter (abgekürzt SC): Wird wie NSC in zweierlei Bedeutung verwendet. Zum einen als Bezeichnung für eine bestimmte Kategorie von Con-Teilnehmern, welche unabhängig von Vorgaben der SL frei im Spiel agieren kann, zum anderen als Sammelbegriff für die meist selbstgewählten Charaktere, die diese Teilnehmer darstellen.
Spielleitung (abgekürzt SL): Spielleiter fungieren als Ansprechpartner und Schiedsrichter während des Spiels. Unter anderem koordinieren sie die NSCs und den Ablauf des Plots und beantworten Fragen zu Regeln und dem Charakter.
Dr. Heinrich Dickerhoff
LIVE-ROLLENSPIEL IN DER ERWACHSENENBILDUNG
HINTERGRÜNDE – KONZEPTION – CHANCEN UND RISIKEN
Ich war bereits über 50, als ich zum ersten Mal bei einem Live-Rollenspiel dabei war – und war gleich fasziniert. Das ist mir einige Male in meinem Leben so gegangen: als ich die erste richtige Märchenerzählerin gehört habe, als ich zum ersten Mal einen Langbogen in der Hand hielt, als ich zum ersten Mal ein Schwert führte. Lauter Erfahrungen, die man nicht braucht, so wenig wie Wein oder Musik. Und doch machen diese Erfahrungen ganz viel von meiner Lebensqualität aus.
All diese Erfahrungen haben auch meine Weltsicht beeinflusst, bestärkt und korrigiert. Und diese Sicht auf das Leben ist für mich geprägt vom Christentum in seiner katholischen, das heißt für mich vor allem sehr sinnlich erfahrbaren Tradition. Dabei bin ich als Theologe, Historiker und psychologisch sensibilisierter Begleiter nicht unkritisch gegenüber den alten und heutigen Grenzen der institutionalisierten Kirche, wie der einzelnen Christenmenschen, den – für mich vor allem befreienden und ermutigenden – Impuls Jesu glaubwürdig zu leben; auch ich bleibe immer dahinter zurück. Aber, und darum geht es in diesem kleinen Beitrag, das Live-Rollenspiel habe ich auch als Chance zur Bildung erlebt, zur Herausbildung der eigenen Lebens-Berufung, und um diese Herausforderung geht es nach meinem Verständnis ganz wesentlich auch im Christsein.
Seit 1978 arbeite ich in der Erwachsenenbildung, in einem großen Bildungshaus in Trägerschaft der katholischen Kirche, mittlerweile als pädagogischer Leiter. Von Anfang an setzte ich in Seminaren auch spielerische Elemente ein: Planspiele, um das Gruppenverhalten zu verdeutlichen, Rollenspiele als Training für Patienten- oder Konfliktgespräche. In religiösen Kursen arbeitete ich auch mit der Form des Bibliodrama, bei dem man sich in einen biblischen Text hineinspielt, und entwickelte in Familienseminaren Vergegenwärtigungen biblischer Erfahrungen, die sich am mittelalterlichen Mysterienspiel orientierten. Zu Beginn der 90er Jahre lernte ich erst eine Märchenerzählerin kennen und dann auch selbst das Erzählen von traditionellen Märchen und Sagen, die in traumhafter Bildersprache Lebenserfahrungen verdichten. Seither geht es in den meisten meiner Kurse um die uns ein-gebildeten inneren Bilder, die die Märchen ins Licht des Bewusstseins holen: Kopfkino und Ermutigung, auf die Kraft der eigenen Phantasie zu achten! Und ich lernte das Langbogen-Schießen kennen und schätzen, als eine großartige Möglichkeit, der eigenen Haltung und Ausrichtung nachzuspüren und das Loslassen auch körperlich zu lernen. Im Jahr 2000 nahm mein damals 12jähriger Ältester ein Tischrollenspiel mit in den Urlaub, und ein paar Jahre lang war das für mich und meine vier Kinder eine wunderbare Möglichkeit, gemeinsam auf Abenteuersuche zu gehen. Später musste ich als Chauffeur meine jüngeren Söhne an den Niederrhein fahren, zu einem Live-Rollenspiel, und aus dem milde lächelnden Fahrer-Vater wurde innerhalb von Stunden ein begeisterter Mitspieler.
Wie beim Märchen und Bogenschießen konnte ich gar nicht anders, als eine mir lieb gewordene Lebenschance in meine Arbeit einzubinden. So gibt es nun – von Kollegen eher skeptisch beobachtet – seit drei Jahren jeweils im Juli ein Rollenspiel-Wochenende in der Katholischen Akademie Stapelfeld, und zudem Rollenspiel-Elemente in etlichen Seminaren mit Familien, mit Teams und Unternehmen.
Ich möchte nun kurz skizzieren, wie ich das Live-Rollenspiel sehe und warum ich ihm – neben dem für mich unverzichtbaren Spaß-Faktor – auch eine durchaus sinn-volle Bedeutung abgewinnen kann.
Live-Rollenspiel hat, so empfinde ich es, eine gewisse Nähe zum ursprünglichen Karneval, der ebenfalls auch ein äußerlich durch Kleidung sichtbar gemachter Ausbruch aus normalen Rollen und Mustern war. Doch während der Karneval in repressiven Zeiten Ausgelassenheit feierte, geht es im Live-Rollenspiel vor allem um das, was meiner Überzeugung nach vielen Menschen in den postmodernen Wohlstandsgesellschaften fehlt: Abenteuer und Geheimnis.
WARUM LIVE-ROLLENSPIEL IN DER BILDUNGSARBEIT ?
Wenn ich das Live-Rollenspiel auch als Lern-Chance sehe, so bleibt es für mich doch zuerst ein Spiel, und wie jedes Spiel verliert es durch Pädagogisierung seinen Reiz und Zauber. Wer das Live-Rollenspiel konsequent pädagogisieren wollte, würde es meiner Ansicht nach zerstören – so wie alle Kunst und Religion durch Moralisieren und Pädagogisieren beschädigt wird. Aber gerade wenn die pädagogische Absicht nicht im Vordergrund steht, ist das Live-Rollenspiel auch ein Lern-Raum. Es geht freilich um ein Lernen aus Erfahrungen, das nicht in geplanten Lernschritten angegangen wird, sondern – manchmal und nicht für alle Mitspielenden – bei einer nachträglichen Reflexion bewusst werden kann.
Live-Rollenspiel ist und bleibt für mich zuerst ein Vergnügen für alle Beteiligten, ein zweckfreies und zwangloses Spiel mit der Lust, sich in andere Rollen zu begeben, noch einmal Kindheitsträume auszuleben, sich an Lagerfeuerromantik zu erinnern und sich in ausgefallene Gewandungen zu verkleiden. Aber von Kindheit an lernen wir ja nicht nur bewusst, sondern auch spielend.
Was sind nun für mich die wichtigsten Lern- und Erfahrungs-Chancen in einem gut konzeptionierten Rollenspiel?
Zu den Grundfähigkeiten, Kernkompetenzen und Schlüsselqualifikationen, die jede und jeder lernen muss, freilich meist unbewusst und ungeplant, gehört, mit wechselnden und sehr unterschiedlichen Rollen zu leben, mit privaten wie mit professionellen.
Eine solche Rolle zu spielen oder wahrzunehmen, bedeutet keineswegs, sich zu verstellen, gar zu verbiegen, nicht echt und authentisch zu leben. Eine Rolle ist in diesem Sinn ein durch verschiedene Beziehungen, Verantwortlichkeiten und Situationen vorgegebenes Aufgabenprofil, und den mir in dieser Rolle gestellten Aufgaben möchte ich möglichst gerecht werden. Ich war Sohn und bin Vater, Ehepartner und Freund, Kollege und Vorgesetzter, Wissenschaftler und Märchenerzähler etc. Ich will diese mir vom Leben für eine bestimmte Zeit aufgegebenen Rollen ernst nehmen, aber ich darf nicht in ihnen aufgehen – ich bin mehr und anderes als meine Rollen. Der Polizist oder Lehrer, der immer und überall Polizist oder Lehrer ist, selbst am Mittagstisch, der Vorgesetzte, der immer nur in seiner Machtposition auftritt, sie alle sind für ihre Mitmenschen äußerst anstrengend. So wichtig und befriedigend die Rolle als Vater oder Mutter ist, es ist wichtig, sie lassen zu können, wenn die Kinder erwachsen werden und aus dem Haus gehen. Gerade wenn mein Beruf für mich mehr ist, als Job und Verdienstmöglichkeit, wenn ein Ehrenamt mich ausfüllt und glücklich macht, ist es notwendig, nicht mein Selbst, meine Seele ganz daran zu binden, ein Stück Distanz zu wahren – selbst und gerade zu den Rollen, die für mich besonders wichtig, befriedigend und dankbar sind.
Nun entsteht Rollendistanz nicht einfach durch die Einsicht in deren Notwendigkeit, sie muss geübt werden. Sicher nicht die einzige, eher sogar eine ausgefallene, aber dennoch gute Übung in Rollendistanz ist nach meiner Einschätzung und Erfahrung das Live-Rollenspiel.
Zunächst einmal muss ich in eine neue und ganz andere Rolle schlüpfen; schon dabei spüre ich, wie leicht oder schwer mir ein Rollenwechsel fällt – sowohl ins Spiel hinein wie aus dem Spiel zurück in meine Alltagswelt. Diesen Rollenwechsel haben wir auch nach vielen Urlauben oder nach intensiven Seminaren aber er ist dann nicht so klar und ausdrücklich benannt wie im Live-Rollenspiel.
Beim Live-Rollenspiel erlebe ich aber nicht nur zu Beginn oder am Ende des Spiels die wechselnden Rollen, auch im Verlauf des Spiels ist – zumindest für den guten Spieler – immer eine gewisse Distanz zu der gewählten Rolle erforderlich. Natürlich soll ich die gewählte Rolle stimmig und konsequent spielen, ich verderbe mir und anderen die Spielfreude, wenn ich nicht ernsthaft spiele, meine Rolle durchhalte, immer wieder aussteige in die berüchtigten Out-time-Blasen. Und doch muss ich immer soviel innere Distanz bewahren, dass ich in dem, der in-time, also im Spiel, mein erbitterter Gegner ist, doch out-time, also in der Alltagswirklichkeit, einen Mitspieler sehe, einen, der mit mir das gleiche Hobby teilt. Im Spiel darf mein Spielcharakter tödlich beleidigt sein, aber äußerst unangenehm wird es, wenn jemand das Spielgeschehen persönlich nimmt, wenn er wirklich wütend oder gekränkt reagiert – was leider viel zu oft vorkommt.
Konflikte auf Rollen und Konfliktfelder zu begrenzen, Sach- und Beziehungsebenen auseinander zu halten, kann ich zwar bei jedem Spiel üben, bei Mensch ärgere dich nicht, Monopoly oder Fußball, aber schon durch die Spiellänge bietet das Live-Rollenspiel besondere Erfahrungsmöglichkeiten und Lernchancen.
Schließlich möchte ich noch einen Gedanken zur Rollendistanz anfügen, der vielleicht nur für Menschen mit einer religiösen Ausrichtung und Sensibilität nachvollziehbar ist. In den meisten sogenannten Hochreligionen wie Judentum, Christentum und Islam, Hinduismus und Buddhismus gehört zu den spirituellen Grundfähigkeiten die Unterscheidung von Leib und Seele. Nun sind das missverständliche Begriffe, oft belastet durch eine sehr negative Einschätzung unserer jetzigen Lebenswelt und – zumindest in der christlichen Tradition – einer übergroßen Skepsis gegenüber der menschlichen Sexualität. Leib und Seele sind aber nicht gegensätzliche, ja feindliche Wirklichkeiten in unserem Dasein, sondern sie sind miteinander verbunden, aufeinander bezogen, aber doch unterscheidbar. Leib ist nicht einfach Körper, sondern die konkrete Lebensgestalt, die Biografie, wir könnten auch sagen: die Summe der uns vom Leben aufgegebenen Rollen. Seele hingegen meint einen Kern, der nicht aufgeht in unseren Rollen, in der christlichen Tradition auch die einmalige Individualität, die uns in allen Rollen bleibt, die Würde, die nicht abhängt von den Rollen und Funktionen, die wir ausüben, märchenhaft gesagt: die Königskindschaft jedes Menschen. Und etwas davon kann in einem guten Rollenspiel zumindest erahnbar werden: christlich betrachtet ist mein Leben die Wahrnehmung wichtiger Rollen, die mir Gott in Seinem schöpferischen Spiel mit der Welt zugewiesen oder ermöglicht hat. Dieses Spiel hat seinen Wert in sich, es ist nicht einfach Bewährungsprobe, Aufstiegchance oder gar Irrweg. Aber dieses Rollenspiel des Lebens ist doch nicht die letzte Wirklichkeit, die „ewige Heimat“ – keine Rolle, die wir übernehmen, spielen wir auf ewig.
Wenn auch für mich das Einüben von Rollendistanz die interessanteste Chance des Live-Rollenspiels ist, so eröffnet es doch auch noch ganz andere Chancen, aus spielerisch gemachter Erfahrung zu lernen. Und zumindest ein Rollenspiel mit etwas anspruchsvollerem Drehbuch oder Plot ist auch eine sehr unaufdringliche Übung zur Kooperationsfähigkeit, gerade auch mit denen, die ganz anders ausgerichtet sind als ich.
Es gibt ja auch Live-Rollenspiele, in denen es allein oder ganz vorrangig um gespielte kämpferische Auseinandersetzung geht. So reizvoll dieses Element sein kann, Rollenspiele, bei denen nur „gekämpft“, also mit harmlosen Latex-Schwertern aufeinander eingeschlagen wird, finde ich eher langweilig. Soll ein Rollenspiel mich wirklich reizen, so geht es (wie bei Tolkiens Herr der Ringe) mehr um das Zusammenspiel unterschiedlicher Charaktere und Begabungen als um die Allmachtsphantasien von „Einzelkämpfern“ oder „Gangs“. Schon in einem Gefecht ist das Miteinander von Schwergepanzerten, Plänklern und Bogenschützen entscheidend für den Erfolg. In stärker Plot-orientierten Spielen ist es aber unabdingbar für eine erfolgreiche Lösung, dass „kriegerische“ Fähigkeiten ergänzt werden durch ganz andere Möglichkeiten und Begabungen.
Und darum ist es, auch mit Teams, die beruflich zusammenarbeiten, eine ungewöhnliche, dadurch oft auch neue Möglichkeiten freisetzende Erfahrung, sich in einem kleinen Live-Rollenspiel in ganz anderen als den üblichen Rollenzuweisungen zu ergänzen und zu unterstützen.
Auch die Kontakt-Fähigkeit wird im Live-Rollenspiel auf originelle Weise gefordert und geübt. Im Spiel betrete ich eine fremde Welt, mit der ich mich und in der ich mich bekannt machen muss. Wenn ich nicht auf die Mitspielenden zugehe, bleibe ich am Rande. Wenn ich mich und meine Interessen nicht einbringe, werden andere über mich bestimmen. Ich muss Gleichgesinnte finden, aber auch zu Fremdartigen Kontakte knüpfen: wie redet man etwa mit einem Ork (übrigens eine gute Übung für Eltern mit pubertierenden Söhnen)? Und für mich allein oder auch mit anderen kann ich nach dem Spiel reflektieren, ob und wie ich mein Spiel machen konnte oder außen vor geblieben bin – und ob das im Leben ähnlich ist.
Live-Rollenspiel ist Spiel. Niemand glaubt an die Götter oder die Magie, die beschworen wird, niemand fürchtet wirklich den Tod durch ein Latex-Schwert. Wir spielen mit Träumen und Ängsten, nicht leichtfertig, nicht so, dass wir zu Spielverderbern werden, sondern so, wie Kinder die Erwachsenenwelt spielen – zugleich ernsthaft und doch genau wissend, dass es so wichtig nicht ist.
Darum kann Live-Rollenspiel auch eine gute Übung in Humor sein, im Lachen über sich selbst: Da stehe ich nachts um 3.00 Uhr mit sechzig erwachsenen Männern, alle trotz der sommerlichen Wärme in schweren Rüstungen aus Leder und Metall, im Regen auf einem rutschigen Feld, um ein paar „Dracheneier“ aus Styropor sicher durch die Nacht zu bringen. Als mir das bewusst wurde, musste ich einfach lachen, und mein Lachen steckte all die anderen nächtlichen Helden an, wir lachten über unsere Verrücktheit und hatten doch Spaß daran.
Ich erlebe oft mindestens so verrückte, aber völlig bierernste Veranstaltungen, politische, kulturelle und auch kirchliche, Vernissagen, Jubiläen, Feierstunden; niemand benimmt sich normal und „echt“, alle spielen Rollen, manchmal mit aufgesetzter Wichtigkeit, manchmal auch sichtlich unwohl, aber niemand lacht. Ein Großteil unseres Lebens ist unreflektiertes Rollenspiel, und Humor ist eine wichtige Möglichkeit, den Rollen nicht zu viel Macht über unsere Seele zu lassen.
Eine letzte mir wichtige Lernchance hat sicher mit meinem spirituellen Interesse zu tun. Ich frage mich, warum Fantasy in allen Formen, als Literatur und Film, als Pen&Paper und Live-Rollenspiel, so viele Menschen fasziniert. Warum spielen wir uns in eine andere ganz irreale Welt? Weil wir, so glaube ich, in der realen, der alltäglich-selbstverständlichen Welt einen Mangel spüren! Einen Mangel an Abenteuer und Geheimnis. Natürlich kann das Live-Rollenspiel diesen Mangel nicht ausgleichen, aber es kann ihn (sicher nicht immer) bewusst machen, in einer immer mehr von Sinn entleerten Konsumwelt, in der alles beliebig und austauschbar scheint.
Abenteuer und Geheimnis sind für mich auch Worte meines Glaubens, in dem es um das Abenteuer Leben geht, in das wir geschickt sind, und um das unendliche Geheimnis Gottes.