Czytaj książkę: «Eine Schule ohne Noten (E-Book)»

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Björn Nölte / Philippe Wampfler

Eine Schule ohne Noten

Neue Wege zum Umgang mit Lernen und Leistung

ISBN Print: 978-3-0355-1966-2

ISBN E-Book: 978-3-0355-1967-9

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.com

Inhaltsverzeichnis

  Einleitung: Lernen muss nicht bewertet werden

  Wo es Unterricht ohne Noten gibt

  Manifest: Rückmeldungen sind wichtiger als Noten

  Kritik der Notengebung

  Schritte auf dem Weg zum bewertungsfreien Unterricht: zeitgemäße Prüfungsformate

  Prüfungen in einer Kultur der Digitalität

  Auswirkungen auf das System

  Dialogisches Lernen als didaktisches Modell im notenfreien Unterricht

  Zehn Mythen zur Bedeutung von Noten – und wie man sie entkräftet

  Fazit: Wozu noch Schule, wenn es keine Noten mehr gibt?

  Literatur

  Autoren

John Maynard Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung,des Zinses und des Geldes (1936)

Einleitung: Lernen muss nicht bewertet werden

Erinnern Sie sich daran, wie Sie lesen gelernt haben? Oder jonglieren? Programmieren, kochen, joggen oder fischen? Wenn ja, dann sind damit sicher auch Erinnerungen an Fehlschläge, Erfolgserlebnisse und Freude über das eigene Können verbunden. Aber wohl kaum Bewertungen. Wirksame Lernprozesse haben viel mit Entwicklungen, Förderung, Fehlerkultur und Kompetenzerleben zu tun – und praktisch nichts mit Bewertungen. Fällt der fünfte Ball beim Jonglieren immer und immer wieder auf den Boden, dann wissen wir, dass wir unser Ziel noch nicht erreicht haben. So ist es mit allem nachhaltigen Lernen: Wer wirklich lernt, holt sich in den richtigen Momenten Rückmeldungen ein, denkt über das eigene Lernen nach – aber weiß letztlich selbst, ob und wann die gesetzten Ziele erreicht sind.

Wenn das jemand von außen feststellt, führt das zum Abbruch des Lernens. Eine Note markiere das Ende des Lernens, stellt der Bildungsforscher John Hattie in seiner großen Studie über wirksamen Unterricht fest.[1] Noten oder auch verbale Beurteilungen würden von Schülerinnen und Schülern schnell durchschaut: Sie helfen ihnen nicht, ihr Lernen voranzubringen. Die wichtigen Prozesse, die Lernende voranbringen, erfolgen alle, bevor eine Arbeit abgegeben, eine Prüfung geschrieben oder ein Lernprodukt bewertet wird.

Lernen ist nicht auf Bewertungen angewiesen. Wenn also Unterricht gute Umgebungen für Lernprozesse schaffen soll, dann muss er sich auf das beschränken, was vor Abgabe und Klausur liegt; auf all das, was Lernenden hilft, ohne dass sie bewertet werden. Auf den Punkt gebracht: Unterricht wird ohne Prüfungen und Noten besser.

Diese Vorstellung ist aber vielen Lehrerinnen und Lehrern fremd. Sie befürchten, dass Lernen an Verbindlichkeit verliert, wenn keine Prüfungen mehr nötig oder möglich sind. Ihr Argument: Auch wenn die entscheidenden Aktivitäten vor einer Leistungsüberprüfung stattfinden, so sind Kinder und Jugendliche nur deshalb motiviert, diesen Aktivitäten nachzugehen, weil es eine Leistungsüberprüfung gibt. Lehrkräfte, die so denken, stützen sich oft auf ihre Erfahrungen in Fächern, Kursen oder Phasen ohne Prüfungen. Sie beobachten, dass Schülerinnen und Schüler da Aufgaben aus dem Weg gehen und nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit an ihren Lernprozessen arbeiten.

Diese Erfahrungen werden aber alle in einer Prüfungskultur gesammelt, welche Unterricht an Prüfungen und Noten ausrichtet. Haben Schülerinnen und Schüler verinnerlicht, dass Noten Lernprozesse beurteilen, dann werden sie beim Wegfall von Beurteilungen sofort den Eindruck erhalten, der Unterricht habe wenig Bedeutung, wenn keine Noten gemacht werden. Die Motivation von Lernenden, ohne Noten aktiv zu sein, kann nur beurteilt werden, wenn konsequent auf Noten verzichtet wird. Entscheidend ist, dass man nicht einfach Noten entfernt und das alte System beibehält. Diese Veränderung muss sich auch auf die Lernkultur erstrecken. An die Stelle des Noten-Bewertungssystems muss eine Form von Verbindlichkeit und Feedback treten, die von allen Beteiligten (Lernenden, Lehrenden, Eltern, weiterführende Bildungsinstitutionen und Betrieben) ernst genommen wird. Das erste Kapitel, «Wo es Unterricht ohne Noten gibt», zeigt anhand konkreter Beispiele, dass in diesem Fall die hier skizzierten Befürchtungen nicht begründet sind.

Gleichwohl muss Lernen in einen verbindlichen Dialog eingebunden werden. Auch wenn Prüfungen und Notengebung Lernprozesse abrupt beenden, so stellen sie doch eine Art Antwort auf das dar, was Schülerinnen und Schüler machen. Allerdings eine falsche Antwort – die richtige führt zu einem Lerngespräch. Sie beschreibt, fragt nach, denkt weiter, fordert heraus. All das tun Prüfungen nicht: Sie brechen ein Gespräch ab, statt es in Gang zu bringen. Eine sinnvolle Antwort ist Feedback, eine Rückmeldung. Sie zeigt Schülerinnen und Schülern, dass ihr Lernen wichtig ist, dass andere Menschen sich dafür interessieren, dass Probleme besser gelöst werden können, wenn mehrere Menschen gemeinsam darüber sprechen. Gespräche über Lernen sind motivierend und führen zu einer Verbesserung und Entwicklung des Lernens, weil sie auch zu einer Reflexion dessen führen, was überhaupt gemacht wird. Nehmen wir das Beispiel des Lesens vom Anfang: Kinder, die lesen lernen, lesen anderen Kindern und Erwachsenen vor, die darauf reagieren, ihnen zuhören, ihnen Tipps geben. Sie erleben sich als kompetent, erhalten Reaktionen, die mit ihren Fähigkeiten und ihren Aktivitäten zu tun haben.

Prüfungssituationen brechen mit etablierten Vorstellungen von Lernkultur. Unterstützen und begleiten die Lehrenden Lernende im Alltag, so treten sie bei Prüfungen in die Rolle einer kontrollierenden und bewertenden Instanz. Der dabei auftretende Rollenkonflikt ist erheblich.[2] Schülerinnen und Schüler erleben eine Person, die ihnen beim Lernen hilft, wohlwollend mit Schwächen umgeht und eine motivierende, verbindliche Bezugsperson ist, plötzlich von einer anderen Seite: Sie streicht Fehler an, bewertet Leistungen auch dann, wenn sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht so gut ausfallen, und vergleicht Lernende untereinander, die sich möglicherweise gar nicht miteinander messen sollten, weil sie einen ganz anderen Lernstand aufweisen.

Noten führen zu Frustration. Das hat mehrere Gründe: Zunächst orientieren sie sich an teilweise willkürlichen, immer einseitigen Kriterien, die nicht alle Aspekte eines Lernprozesses abbilden. Stellen wir uns eine Schülerin vor, die sich intensiv auf eine Mathearbeit vorbereitet und dabei beträchtliche Fortschritte macht. Sie freut sich, dass sie Aufgaben lösen kann, die sie vorher nicht verstanden hat. Bei der Prüfung kommt aber nur eine dieser Aufgaben, bei der Lösung macht sie einen Flüchtigkeitsfehler. Viele andere Aufgaben entstammen Bereichen, in denen sie sich nicht verbessert hat; ihre Note ist entsprechend schlecht. Die Frustration lässt sich einfach erklären: Die Note kann die reale Verbesserung der Schülerin nicht abbilden.

Ein zweiter Grund für die Frustration liegt beim Vergleichscharakter von Noten: Wenn jemand Surfen lernt, dann tut das diese Person nicht, um sich mit anderen zu messen. Es geht selten darum, überdurchschnittlich gut zu sein, wenn Können entwickelt wird, sondern es geht um dieses Können. Noten führen aber sofort zu einem Vergleich mit anderen. Psychologisch passiert dann etwas gleichermaßen Einfaches wie Verheerendes: Menschen sind bei Vergleichen nur dann zufrieden, wenn sie etwas besser sind als die direkten Nachbarinnen und Nachbarn. Ihr eigener Leistungsstand ist dabei nicht mal mehr entscheidend. Aufs Surfen bezogen: Werden hier Noten gesetzt, interessieren sich Lernende nicht mehr für Surfgefühle oder -technik, sondern nur für die Note. Sie sind dann zufrieden, wenn ihre Note ihnen sagt, sie könnten etwas besser surfen als die Vergleichsgruppe. Aus statistischen Gründen können aber nur wenige besser sein als alle anderen – was dazu führt, dass viele frustriert sind.

Eine dritte Frustrationsquelle ist die Auswirkung, die Bewertungsprozesse auf pädagogische Beziehungen haben. Lehrerinnen und Lehrer sollten Kinder beim Lernen unterstützen, ihnen durch Unterricht und Feedback helfen, Können zu entwickeln. Notengebung liegt quer zu dieser Aufgabe: Plötzlich müssen die Unterstützungspersonen verletzen, selektionieren, Fehler und Defizite markieren. So entsteht eine widersprüchliche Beziehung, welche die Schulerfahrung vieler Kinder belastet. Ihr Vertrauen in eine Lehrperson und ihre Freude am Lernen treffen auf eine oft verletzende Bewertung. Wie problematisch das ist, zeigt ein einfaches Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, ihre besten Freundinnen und Freunde würden sie immer wieder für ihre Freundschaftsleistungen bewerten.

Alle diese Gründe für die mit Noten verbundene Frustration haben damit zu tun, dass Noten Fehlanreize darstellen. Das bedeutet, dass schulische Bewertungen Verhaltensweisen belohnen, die der Funktion von Schule widersprechen. Statt ganzheitlich und selbstwirksam zu lernen, nehmen Kinder schnell die Kriterien in den Blick, die bewertet werden. Sie geben sich in Fächern ohne Noten weniger Mühe, investieren kaum Zeit in freiwillige Projekte und lösen Aufgaben so, dass sie dafür Punkte bekommen: Wird Französisch nur schriftlich geprüft, lernen Kinder nicht, wie Wörter ausgesprochen werden, sondern lediglich, wie sie buchstabiert werden. Fächer, die in Abschlussprüfungen besondere rechnerische Bedeutung haben – oftmals Deutsch, Mathematik, Englisch – werden von den Lernenden ernster genommen als die anderen.

Das Bewusstsein für die fehlerhafte Steuerung, die von Noten ausgeht, steigt: Besonders bei jungen Kindern und bei erfolgreichen Studierenden intensivieren sich Tendenzen im Bildungssystem, von Noten wegzukommen. Sie scheinen weder ein gutes Instrument zu sein, um Lust auf Lernprozesse zu machen, noch eigenen sie sich für die Qualifikation von beruflich erfolgreichen Menschen. Lediglich in der Mitte, dort wo Schülerinnen und Schüler an Schule gewöhnt sind, aber noch nicht in direkten Kontakt mit der Arbeitswelt getreten sind, dort halten sich Noten.

In diesem Sinne sind die folgenden Seiten ein Plädoyer für ein Umdenken. Schule und Noten sind gedanklich aneinander geknüpft, wir haben gelernt, Unterricht mit Prüfungen und Bewertungen zu verknüpfen. Damit wir uns von dieser Vorstellung lösen können, müssen wir umdenken und den Prozess des Ent-Notens in Angriff nehmen. Dazu braucht es viele kleine Schritte, aus denen ein großer Schritt entstehen kann.

Auch das vorliegende Buch ist nur ein kleiner Schritt – viele andere wurden vorher unternommen, viele weitere werden folgen. Die hier nachgezeichneten Überlegungen verdanken sich der Inspiration vieler Mit- und Vordenkenden, den mutigen Experimenten von Pionierinnen und Pionieren, differenzierten Forschungsergebnissen aus der Wissenschaft und dem beharrlichen Einsatz zahlloser Lehrenden in der Praxis.

Besonderen Dank möchten wir folgenden Menschen aussprechen:

Unseren Kolleginnen und Kollegen, die im Rahmen unserer Arbeit und im digitalen Austausch viele Hinweise und Ideen vorgebracht haben, die in dieses Buch eingeflossen sind. Enorm wertvoll ist für uns insbesondere der Austausch im Institut für zeitgemäße Prüfungskultur, auf den auch unsere Zusammenarbeit zurückzuführen ist.

Zwei Vorarbeiten waren uns bei der Niederschrift dieses Textes besonders wichtig. Wir empfehlen sie allen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen: Wer sich stärker wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigen möchte, sei auf die Bücher von Felix Winter hingewiesen, wer die US-amerikanische Praxis des «Ungrading» kennenlernen möchte, sollte das Buch von Susan Blum mit demselben Titel lesen. Die Diskussion über Noten läuft weiter. Wer sie auf digitalen Plattformen verfolgen und sich beteiligen möchte, kann den Hastag #notenade verwenden.

Remo Largo[3]

Wo es Unterricht ohne Noten gibt

«Die Einführung von Zeugnissen ohne Noten in der Grundschule eröffnet der pädagogischen Forschung die Chance, nach Jahrzehnten kritischer Anfragen an die Gerechtigkeit von Ziffernzensuren die Erfahrungen aufzuarbeiten, die heute Lehrer, Kinder und Eltern mit Zeugnissen ohne Noten machen.»[4]

Wenn Schulen auf Noten verzichten, dann eröffnet das ein Feld für die Forschung, die ermitteln kann, ob und wie dieser Entwicklungsschritt auf alle Schulen übertragen werden kann. Dieser Gedanke ist nicht neu: Das einleitende Zitat stammt aus einem 1985 erschienenen Aufsatz. Das zeigt: Nicht nur die Forderung, Noten abzuschaffen, oder die Argumente, weshalb das ein sinnvoller Schritt ist, haben eine lange Geschichte – auch die praktische Umsetzung ist Teil einer bereits längeren Tradition.

Diese Tradition zeigt uns: Schulen sind nicht an Noten gebunden, Lernen hängt nicht von Noten ab. Es geht auch anders.

Im folgenden Kapitel soll aber diese Tradition an den Rand rücken: Im Fokus stehen aktuelle Lehr- und Lernformen, die ohne Noten auskommen. Die einleitenden Überlegungen zeigen, dass Noten zu Beginn und am Ende der formalen Ausbildung eine immer geringere Rolle spielen, nur in der Mitte der Schullaufbahn erscheinen sie aktuell alternativlos. Zwei ausführliche Fallbeispiele im zweiten Teil des Kapitels geben einen Einblick, wie aktuell ohne Ziffernnoten unterrichtet wird.

Notenfreier Unterricht an Grundschulen …

Wir müssen weder weit reisen noch vergangene Zeiten heraufbeschwören: Unterricht ohne Noten ist zu Beginn der Schulerfahrung für Schülerinnen und Schüler im deutschsprachigen Raum heute Realität. In Basel etwa werden Leistungen bis zur vierten Klasse nicht mit Noten beurteilt. An ihre Stellen rücken Aussagen, die beschreiben, ob Anforderungen oder Lernziele erreicht wurden. Diese Aussagen werden teilweise auch symbolisch dargestellt, etwa mit Gesichtern oder Farbcodes. Zusammengefasst kann man den notenfreien Unterricht an Schweizer Primarschulen wie folgt umschreiben: Lehrpersonen geben Schülerinnen und Schülern Rückmeldungen darüber, ob sie das können, was sie gemäß den Vorgaben können sollten. Sie nehmen so auch Förderbedarf wahr und bieten den Kindern Unterstützungs- oder Begabungsförderungsunterricht an. Die Eltern werden im Rahmen von Entwicklungsgesprächen einbezogen, in denen besprochen wird, wie das Kind mit den Anforderungen umgeht und wie es sich entwickelt. Was wegfällt: Diskussion, Rechtfertigung und Begründung von Noten. Dadurch rücken Lernen und Kompetenzen von Kindern in den Mittelpunkt.

Wer Unterricht mit Noten erlebt hat, wird stets versuchen, Informationen aus Gesprächen oder Codierungen in Noten zu übersetzen. So erscheinen differenzierte Rückmeldeverfahren schnell als unnötig, als intransparent oder aufwendig. Doch für die tatsächliche Arbeit mit jungen Schülerinnen und Schülern in der Primarstufe und für ihre Wahrnehmung von Schule ändert sich die Perspektive radikal: Die Notwendigkeit, Prüfungen durchzuführen, mit denen sich Ziffernnoten belegen lassen, entfällt. Vielmehr können Lernende ermutigt werden, Lernziele zu erreichen, den Anforderungen zu genügen oder sie zu übertreffen. Lehrpersonen geben Rückmeldungen, die aber nicht aus Urteilen bestehen, sondern dazu einladen, sich selber einzuschätzen und die Anforderungen wahrzunehmen.

Gleichwohl sind diese Bestrebungen umstritten. Eltern und Teile der Bildungspolitik erwarten von Schulen Noten, die sie mit Leistungsfähigkeit und Wettbewerb assoziieren. Immer wieder äußern sie die Vermutung, eine Schule ohne Noten würde Kinder schlecht auf gesellschaftliche und berufliche Aufgaben vorbereiten, sie sei zu weich.

Kommende Generationen werden aber auf Schulerfahrungen zurückblicken, in denen Leistungen nicht bewertet wurden, sondern in denen verbindliches Feedback gegeben wurde und Gespräche über Lernzielerreichung stattfanden. Sie dürften eine andere Wahrnehmung von Schule und dem eigenen Lernprozess entwickeln.

Was an diesen Grundschulen geschieht, entspricht Lernerfahrungen, die Kinder vor der Schule machen. Im Kindergarten und zu Hause lernen sie selbstverständlich, entwickeln sich in einigen Bereichen schneller, in anderen langsamer als Gleichaltrige. Sie erhalten vielfältige Rückmeldungen auf ihr Lernen und beziehen diese mit ein. Diese Rückmeldungen bestehen aber nie aus Noten, nur ganz selten aus Beurteilungen. Schulen nehmen diese Grunderfahrungen auf und lösen sich von Notensystemen, die auf Kinder willkürlich und unverständlich wirken.

Das erste Beispiel zeigt: Kinder lernen ohne Bewertungen. Sie arbeiten und leisten auch in der Schule viel, ohne dass sie dafür benotet werden.

… und an Elite-Unis in den USA

Medizinische und juristische Fakultäten an Elite-Universitäten in den USA haben aufgehört, Leistungen von Studierenden zu benoten.[5] Sie verwenden stattdessen ein einfaches System, das auf der Unterscheidung bestanden/nicht-bestanden beruht (wobei Studierende sehr selten Kurse nicht bestehen), teilweise gibt es zusätzlich noch Auszeichnungen für herausragende Leistungen.

Die Universitäten reagieren damit auf zwei Einsichten: Erstens haben Noten und die damit verbundene Vergleichbarkeit von Studierenden auf dem Berufsmarkt zu einem hohen Druck geführt, der zahlreiche Krisen und hohe Suizidraten ausgelöst hat. Entsprechend hat die Ausbildung der Studierenden darunter massiv gelitten. Zweitens haben die Verantwortlichen eingesehen, dass es für die Tätigkeit von Ärztinnen und Anwälten keine Bedeutung hat, wie die Noten in einem Einführungskurs zu Biochemie oder römischem Recht ausfallen. Entscheidend ist, ob die Studierenden die entscheidenden Lernschritte bewältigt haben, ob sie qualifiziert sind.

Das zweite Beispiel zeigt: Qualifikationen sind nicht nur von Bewertungen unabhängig – Noten belasten Lernprozesse.

Verbindet man diese Beispiele miteinander, so zeigen sich deutliche Tendenzen: Bei Kindern und professionellen Erwachsenen wird ersichtlich, dass Bewertungen Lernprozesse von dem ablenken, was im Zentrum der Bemühungen von Bildungsinstitutionen stehen sollte. Alternativlos erscheinen Noten nur noch in Zwischenphasen. Warum eigentlich? Weshalb ist so undenkbar, dass ältere Kinder und Jugendliche ohne Notendruck lernen, wenn das doch in jeder anderen Lebensphase nicht nur möglich, sondern geradezu selbstverständlich ist?

Die folgenden Fallbeispiele zeigen, dass es auch für das notenfreie Lernen älterer Schülerinnen und Schüler aktuell bereits funktionierende Formen gibt.

Fallbeispiel 1: Evangelische Schule Berlin Zentrum (ESBZ)

In Berlin ist es per Beschluss der Schulkonferenz möglich, Schülerinnen und Schüler bis zum 2. Halbjahr der 9. Klasse notenfrei lernen zu lassen:

«In der Integrierten Sekundarschule und der Gemeinschaftsschule kann die Schulkonferenz mit der Mehrheit von zwei Dritteln ihrer stimmberechtigten Mitglieder beschließen, dass ab der Jahrgangsstufe 3 bis längstens einschließlich des ersten Schulhalbjahres der Jahrgangsstufe 9 der Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler durch schriftliche Informationen zur Lern-, Leistungs- und Kompetenzentwicklung beurteilt wird.»[6]

An der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ) wird davon seit der Gründung 2007 Gebrauch gemacht. Ziffernnoten werden ersetzt durch qualitative Leistungsrückmeldungen. Dazu kommt ein Tutor-System, über das Lerndialoge in unterschiedlichen Formen fest institutionalisiert sind. Tutorgespräche sind im Stundenplan verankert, sie sind kein unbezahltes Add-on. Die Maxime in diesen Gesprächen ist eine enge Begleitung sowohl bei tagesaktuellen Fragen als auch bei längerfristigen Studienaufgaben. Dabei geht es um die Persönlichkeitsentwicklung, um die Entfaltung von Freiheit und Selbständigkeit. Aber auch um selbstgesteuerte Hilfe. «Wo wünschst du dir Unterstützung?», fragt Schulleiterin Caroline Treier ihre Schülerinnen und Schüler bei diesen Gesprächen, und: «Was ist dir heute wichtig?»

Zweimal pro Jahr erfolgen Bilanz- und Zielgespräche, die neben dem Rückblick auch Ziele fokussieren. Das Besondere: Die Schülerin steht im Mittelpunkt, sie zieht Bilanz, der Fokus der Lernenden steht im Vordergrund. Die Lehrperson und die Eltern sind unterstützende Teilnehmer am Gespräch. Ziel ist es, dass die Schülerin für sich bedeutsame Halbjahresziele formuliert. Grundlage der Gespräche sind die individuellen Logbücher, die den Lernenden zur Dokumentation von Zielen, Vereinbarungen, Planungen, zur Rechenschaftslegung und zur Darstellung von Erfolgen dient.

Ein weiteres Element sind Zertifikate für bestimmte Lernleistungen. Dazu gibt es standardisierte Bausteine, die auf beliebige Lerngegenstände angewendet werden können. Was wurde erreicht? Was ist hervorzuheben? Welche Tipps und Vereinbarungen sollen festgehalten werden? Das sind Fragen, die in dem Zertifikat beantwortet werden. Benutzt werden auch Kompetenzraster. Neben der standardisierten Ausweisung von Leistung dienen die Zertifikate also auch der individuellen Rückmeldung. Vor der Ausstellung des Zertifikats steht die reflektierte Selbsteinschätzung des Lernenden; sie erfolgt ko-konstruktiv im Dialog mit der Lehrkraft. «Ich nehme die Textbausteine der Schüler auf und nehme sie ins Zertifikat», sagt Caroline Treier. Drei Parteien setzen ihre Unterschrift darunter: Lehrkraft, Schülerin oder Schüler und ein Elternteil. Um die Zertifikate innerhalb der Schule bzw. der Fachbereiche zu vereinheitlichen, wurde neben der kontinuierlichen Arbeit an Differenzierung, Materialerstellung und Leistungsrückmeldung in der Fachschaft eine externe Evaluation vor ca. zwei Jahren durchgeführt.

Am Schuljahresende ersetzen Lernberichte Zeugnisse mit Ziffernnoten in Jahrgang 7 bis 8 und ergänzen diese in den Jahrgängen 9 bis 11. Die Lernberichte enthalten einen ausformulierten Text und zusätzlich eine Übersicht über die erworbenen Zertifikate. Die Zertifikate werden im Laufe des Schuljahres ausgeteilt und in einer Dokumentationsmappe gesammelt. Zwei Anforderungen müssen die Lernberichte vor allem gerecht werden: Sie sollen klar sein in der Darstellung, ohne etwas zu beschönigen, und gleichzeitig motivierend für nächste Lernschritte. All diese Leistungsrückmeldungen werden in den halbjährlichen Bilanz- und Zielgesprächen besprochen. Hier sind die Eltern eher als Beisitzer und Gäste in einer zuhörenden und zurückhaltenden Funktion. Zusätzlich stellt die Schule bei Abgang nach der Oberstufe ein sogenanntes ESBZ-Zeugnis aus, da es hier noch keine Lernberichte oder Zertifikate gibt. Hier werden Besonderheiten des Lernenden, Teilnahmen an Wettbewerben, individuelle Umstände und Progressionen abgebildet. Gerade mit diesem Instrument sind die Erfahrungen im Übertritt zu nächsten Bildungseinrichtungen, bei Bewerbungen, Stipendien u.ä. sehr positiv.

Was passiert, wenn die Schülerinnen und Schüler dieser Schule in der gymnasialen Oberstufe mit Noten konfrontiert sind? Die Beteiligten sind sich einig. «Da merken wir einen Bruch», muss Schulleiterin Caroline Treier feststellen. «Sobald Noten im Spiel sind, geht es um Noten, differenzierte Leistungsrückmeldungen rücken leider in den Hintergrund», sagt Christian Hausner, der an der ESBZ unterrichtet. Eine Schülerin, die vorher auf einem Gymnasium mit Benotung zu kämpfen hatte und dann auf die ESBZ wechselte, meint: «In meiner alten Schule ging es nur darum, wer die besten Noten in Arbeiten und Tests schreibt. Ich war total überfordert. Wir hatten jeden Tag mindestens einen Test und es ging nur um Leistung. In der 8. Klasse an der ESBZ keine Noten zu haben, entspannte mich. Ich durfte in meinem Tempo lernen und wurde auch nicht schlecht dargestellt, wenn es mal nicht so gut lief. Ab der 9. Klasse kamen wieder Noten und das hat dazu geführt, dass wir uns so einen Leistungsdruck gemacht haben.» Eine Oberstufenschülerin meint in Rückschau: «In der 7. und 8. Klasse, als wir noch keine Noten hatten, wollte ich manchmal auch benotet werden. Doch jetzt denke ich: Das war sehr gut, keine Noten zu bekommen. Wir waren nicht in Konkurrenz untereinander und ich finde Noten nicht immer fair und aussagekräftig.»

Neue Kolleginnen und Kollegen werden systematisch mit der Vorgehensweise an der Schule vertraut gemacht, denn so, wie sich die Schülerinnen und Schüler ab Klasse 10 an Noten gewöhnen müssen, müssen sich neue Lehrkräfte auch an einen Lernkosmos ohne Noten gewöhnen. Für Eltern gibt es eine «Elternschule», um auch sie persönlich an die Maximen und Werkzeuge der Schule heranzuführen.

An der Schule besteht der Anspruch, diese Lerndiagnosen an die Lernenden und Eltern klar und sinnstiftend zu kommunizieren: so differenziert wie möglich, um aussagekräftig zu sein und nächste Lernschritte vorzubereiten, so klar und reduziert wie nötig, um zur Kenntnis genommen zu werden und den Arbeitsaufwand nicht unmäßig zu erhöhen. Eine Herausforderung sieht die Schulleiterin derzeit darin, die Potenziale des Digitalen wirklich voll auszuschöpfen: Z.B. sollen die Logbücher mit den Notizen zu Halbjahres- und Wochenzielen digitalisiert werden. Es gibt bereits einen Fundus an digitalen Werkzeugen, die diese Formen der Leistungsrückmeldungen an der Schule unterstützen, aber das volle Potenzial in den Bereichen Kommunikation, Dokumentation und Reflexion ist noch nicht entfaltet.