Czytaj książkę: «Herr Spiro»
1
Der Brief lag obenauf in der Ledermappe. Robert Lohwald setzte sich.
Mein lieber Robert,
das hier ist nur für den Fall der Fälle, und ich hoffe nichts mehr, als dass Du diesen Brief nie lesen wirst, weil alles glatt gegangen ist und ich ihn selbst entsorgen konnte.
Nur noch fünf Minuten für ein paar Zeilen an seinen besten Freund zu haben, ist ein seltsames Gefühl. Aber ich bin mit meinem Latein am Ende, diese Rhythmusstörungen bekomme ich alleine nicht mehr in den Griff. Ich vermute und befürchte eine sehr viel tiefere Ursache. Mir bleibt kein anderer Ausweg, als mich in die Fänge meiner Kollegen zu begeben. Nicht zu ändern.
Wie das, was eingetreten ist, wenn Du das hier liest.
Mach Dir keine Gedanken, ich bin/war selbst dafür verantwortlich, habe vielleicht zu lang gewartet. Frag Dich aber bitte niemals, – hörst Du: NIEMALS, – ob ich es wollte. Die Antwort lautet: Nein. Ich wollte es nicht.
Sie sind unterwegs, einem Taxifahrer möchte ich das im Zweifel nicht antun. Es kann schnell gehen.
Aber nun zu Dir.
Ich habe die Festplatte aufgeräumt, auf dem Stick findest Du sozusagen mein literarisches Erbe. Es sind ein paar Kleinigkeiten und drei Geschichten von Herrn Spiro. Die beiden letzten sind nachts entstanden, nach unseren Gesprächen. Der Fremde und Der Alte dürften Dir also bekannt vorkommen.
Ich will ehrlich sein: Herr Spiro ist mir ans Herz gewachsen und ich wünschte, ich könnte weiterschreiben, bis er neues Öl gefunden hat und wieder glücklich lebt. Momentan fühlt es sich nicht so an, als würde ich es schaffen. Der Schmerz ist unvorstellbar. Eine Scheißangst ist das. Instinktiv. Ich weiß doch, dass alles so kommt, wie es soll, und dass ich Bea wiedersehe. Auch wenn Du es sein wirst, der Herrn Spiro helfen muss.
Was ich Dir übergebe, ist vielleicht ein kleines Pflänzchen. Wenn Du magst, gieß es, und falls es eines Tages blühen sollte, häng nicht an die große Glocke, dass der Sämling dafür von mir ist war. Ich schenke Dir alles, mach damit, was Du möchtest. Nur Du allein weißt, wie wichtig es mir ist. Und damit vielleicht auch Dir.
So, mein Lieber, ich muss. Die Ampel war rot, sie haben sich verraten, gleich werden sie klingeln.
Drück mir die Daumen, dass wir uns wiedersehen. Falls nicht: Alles Liebe für Dich, alles erdenklich Gute und ein verdammt schönes, langes und gesundes Leben. Hau rein, Alter, und für mich mit. Wo auch immer ich dann bin, ich krieg es mit, verlass Dich drauf. Also fang erst gar nicht an zu heulen.
Du weißt, uns beiden geht’s jetzt gut.
Danke Dir, auch im Namen von Bea. Für alles, was war, und alles, was noch kommt.
Für immer
Dein Kai.
Robert starrte aus dem Wohnzimmerfenster auf die Astern im Beet und dachte an damals, als sie zu viert im Urlaub am Meer gewesen waren, zwei Ehepaare. Rundherum satt und zufrieden, nichtsahnend.
„Wenn Sie mal im Treibsand stecken bleiben, bewahren Sie Ruhe!“, hatte der Fremdenführer gesagt. „Strampeln hilft überhaupt nichts, dann sinken Sie nur noch tiefer ein und der Sand wird zu Beton an Ihren Füßen. Außerdem wird Ihnen verdammt kalt, wenn Sie so tief drin stecken. Nach ein paar Stunden kommt die Flut und … das war‘s dann.“
Die Worte klangen Robert nach wie vor im Ohr und er konnte sich gut erinnern, dass sie alle gespannt darauf waren, wie man sich am geschicktesten aus einer solch ausweglosen Situation befreite.
Vor drei Jahren hatte ihm aber sein Job auch noch Spaß gemacht, er hatte eine treue Ehefrau gehabt und da war Kai, der beste Freund der Welt, gewesen.
Alles vorbei.
Roberts Magen knurrte. An der Bäckerei auf dem Weg zwischen der U-Bahn und seiner Wohnung war er vorbeigegangen. Um halb vier hätten die mit Sicherheit keine Nussschnecke mehr gehabt. Ausverkauft. Frühmorgens war ihm die Schlange zu lang gewesen.
Wirst den Tag auch ohne Süßkram überleben, hatte er gedacht und recht behalten! Er war nicht verhungert.
Warum er jetzt so müde war, konnte er auch genau sagen. Die heutige Schicht hatte es in sich gehabt. Überall in München Mord und Totschlag und er war wieder der Depp auf der Suche nach dem Wer und Warum? Sollten sie doch alle! Was hatte er damit zu schaffen? Nichts. Abgesehen davon, dass es sein Beruf war.
Robert steckte sich eine Zigarette an, inhalierte tief. Eigentlich hatte er nur noch einen Wunsch für heute: den, die Füße hochzulegen und irgendwann im Laufe des Abends versehentlich einzuschlafen. Denn wenn er es wollte, klappte es nie.
Die Zigarette war schnell zu Ende, er starrte wieder nach draußen. Was der Wind vor dem Fenster hin und her bewegte, sah grauenhaft aus. Sämtlichen Sträuchern standen die Haare zu Berge, das Gras war viel zu lang zum Überwintern und das Unkraut wucherte überall.
Früher hätte es Robert nicht auf dem Sitz gehalten, er hätte sich erst die Gartenschere geschnappt und anschließend seine Frau. Die war passé.
Sollte die Natur doch machen, was sie wollte.
Er starrte weiter aus dem Fenster.
Wie hatte es der Fremdenführer damals so schön ausgedrückt?
„Es ist ein Märchen, dass der Sog einen nach unten zieht, vergessen Sie das! Sie müssen nur Ihre Panik beherrschen, sich auf den Rücken legen, damit Sie Ihr Gewicht verteilen, und dann können Sie sich aus eigener Kraft herausarbeiten. Danach gehen Sie zügig zurück ans Ufer und erzählen meinetwegen im nächsten Pub, was Sie erlebt haben. Aber wundern Sie sich nicht, wenn die dort alle den Kopf schütteln, dass Sie überhaupt dort unterwegs waren.“
Ja, Robert war in der letzten Zeit in Panik geraten, das musste er zugeben. Er hatte dabei um sich getreten, davon konnten seine Abteilungskollegen ein Lied singen. Dass heute überhaupt noch jemand zu seiner kleinen Ausstandsfeier gekommen war, hatte nur der Anstand geboten. Wenn Robert es sich recht überlegte, hatte er sie aus keinem anderen Grund veranstaltet.
Wie er sich jetzt aus dem Sog befreien musste, den es zwar laut Fremdenführer nicht gab, gegen den er aber trotzdem kämpfte, lag auf der Hand: Es war Zeit, mit der Jammerei aufzuhören und sich aus dem Treibsand herauszuarbeiten. Schließlich hatte er keinen Beton an den Füßen, er schleppte nur ein paar Dinge aus der Vergangenheit mit sich herum.
Er würde mit dem Einfachsten anfangen und die Spuren seiner Frau verschwinden lassen. Robert wickelte einen großen, blauen Müllsack von der Rolle, legte den Rest aufs Bett und setzte sich dazu.
Jetzt musst du nur noch aufstehen, ihre Sachen eintüten und dann das Band zuknoten, dachte er, blieb sitzen und sah dem Display des Weckers beim Hochzählen zu.
Die Aktion musste ja nicht heute sein. Schließlich war Fiona erst knappe zwei Monate weg und würde womöglich noch darauf kommen, dass sie irgendetwas bei ihm vergessen hatte.
Grundsätzlich wollte Robert das Thema aber nicht auf unbestimmte Zeit in den Keller verlagern, sondern wenn schon, dann final abhaken und alles den Aschentonnen übergeben. Ihr Zeug würde brennen, da war er sicher.
Er stand auf, legte die Mülltüte auf die leere Betthälfte und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort lud ihn der Scotch zu sich ein und die Ledermappe auf dem Tischchen stach ihm wieder ins Auge. Kais Ledermappe, deren Inhalt tonnenschwer auf Robert lastete. Die Sache mit der Geschichte stand als nächster Punkt auf der Liste.
Selbst drei Monate danach tat es noch genauso weh wie beim ersten Mal, Kais zittrige Schrift in diesem Brief zu lesen, die über die zwei Seiten immer fahriger geworden war. Wie die eines Schülers, nachdem der Lehrer die letzten fünf Minuten bis zur Abgabe eingeläutet hatte.
Kai musste es gespürt haben.
Und dann die schwarze Tinte! Dieser Mann hatte nie schwarze Tinte benutzt. Nur für diese letzten Worte.
Dabei hatte er eigentlich immer gewusst, was zu tun war. Dieses eine Mal nicht. Oder war es doch Absicht? Hatte Kai es darauf angelegt? Am Ende gedacht, dass er es mit Bea besser haben würde?
Hatte Robert versagt? Seinem besten Freund nicht beistehen können, dem Mann, der ihn mit Mitte zwanzig nach dem Durchblättern eines Reisekatalogs einmal gefragt hatte: Welches Paradies? Das Paradies ist doch da, wo ich jetzt bin.
Robert wurde schlagartig klar, dass er Kais letzten Wunsch nie erfüllen konnte. Er sah die Welt nicht so, weil sie es nicht war! Kai war ein unverbesserlicher Träumer gewesen.
Robert stand auf, ging zum Sekretär und griff nach einem Blatt Büttenpapier und dem Füller.
Mein lieber Kai, …
Das klappte. Robert brauchte nicht lang für seinen Brief. Einmal gefaltet, steckte er ihn in die Jackentasche und machte sich auf den Weg.
Kühlschrank und Gefriertruhe hatten am Wochenende ihr Letztes gegeben, Kaffee war auch keiner mehr da. Trotzdem hatte es Anna Wehner nicht zuerst in den Supermarkt, sondern hierher gezogen.
Sie lief schneller als sonst über den Kiesweg. Das Knirschen unter ihren Sohlen sollte sich auf keinen Fall so anhören, als würde sie gerade hinter einem Sarg hergehen.
Der Wind wehte scharf und die feuchte Kälte kroch ihr schnell unter den Mantel, sie steckte ihre Hände noch tiefer in die Taschen.
Dann sah sie sah, den Mann in Schwarz, der mit hängendem Kopf auf ihre Bank am Weiher zusteuerte. Ja, auf der hatte sie zusammengerechnet schon so viele Stunden verbracht!
Er kam aus einem der Seitenwege, die sie auch gut kannte. An dieser Reihe war sie oft vorübergegangen und längst hatte sie sich zu den Zahlen auf den Grabsteinen Schicksale ausgemalt. Die Beiden, die sie am ehesten als ihre Gefährten bezeichnet hätte, lagen auf dem dritten Platz, waren ungefähr so alt wie sie, und einer von ihnen hatte drei Monate länger durchgehalten als der andere. Obwohl auf dem Stein zwei verschiedene Nachnamen eingemeißelt waren, lag es für Anna auf der Hand, dass Kai und Beatrice im Leben zusammengehört haben mussten.
Der Mann ließ sich auf die Bank fallen, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und vergrub sein vollbärtiges Gesicht in den Händen.
Ja, dachte Anna, mit seiner Trauer ist man vor allem eines: allein. Und die meisten wollen es auch sein.
Anna überlegte, dass sie sich wahrscheinlich dazugesetzt hätte, wenn dieser Mann auf der Bank eine Frau gewesen wäre. Der Gedanke fühlte sich so unmenschlich an, dass sie sich schäbig vorkam, als sie an ihm vorbeiging. Doch dann spürte sie eine Böe im Rücken und alles war gut.
Nach ihrer Runde um den Weiher sah sie ihn wieder. Er ging in melancholischer Geschwindigkeit den Hauptweg entlang in Richtung Portal. Sie selbst hatte genug vom Wind und nahm die Abkürzung zum Ostausgang.
Am Grab der Gefährten lag ein gefaltetes Blatt Papier unter der Blumenschale. Da schrieb offenbar jemand Briefe und trug sie hierher. So weit war Anna nie gegangen, der Mann von vorhin etwa schon?
Sie hatte ihre Patentante im Ohr: Mach das Leid der anderen nicht zu deinem. Schau lieber, dass du es linderst!
Annas Herz beschleunigte. Was, wenn in diesem Brief etwas stünde, womit sie dem Mann helfen könnte?
Es war ein Impuls, sie konnte nichts dagegen tun, hier war jetzt Eile geboten und keine Zeit für Ungewissheit oder Rücksicht auf das Briefgeheimnis.
Sie zog das Blatt kurz und schmerzlos unter der Schale hervor und faltete es auseinander. Vorder- und Rückseite waren eng beschrieben. Das war kein billiges, sondern gutes, dickes Papier und eine schöne Handschrift, die nur mit einem schwarzen Füllfederhalter so zur Geltung kommen konnte.
Mein lieber Kai, stand da. Der lag im Grab vor ihr.
Anna las weiter.
Du bist zwar schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr da, aber ich könnte immer noch jeden Tag mindestens drei Mal zum Telefon greifen, Dir irgendeinen Mist erzählen oder Dich fragen, ob Du abends auch ins Training gehst oder bei Paula noch ein Bier trinkst oder, oder, oder. Sie vermisst Dich, hat sie gesagt, ich soll Dich von ihr grüßen, wenn ich Dich besuche. Mache ich hiermit.
Eigentlich müsste ich stocksauer auf Dich sein, dass Du einfach so gegangen bist, das weißt Du. Und ich weiß, dass ich denken soll, wie gut Du es jetzt mit Bea hast. Aber so sehr ich es mir für Euch wünsche, ich glaube nicht daran, es klappt nicht.
Und das, was Du Dir mit Deinem Herrn Spiro vorgestellt hast, das klappt auch nicht. Erstens kann ich nicht so gut schreiben wie Du und zweitens bräuchte ich ein Bild von dem Mann. Hättest Du mir nicht wenigstens ein Phantombild hinterlassen können? Irgendeine Beschreibung. Es ist, als müsste ich jemanden zur Bildfahndung ausschreiben, von dem ich nicht den Funken einer Ahnung habe, wie er überhaupt aussieht. Das geht nicht! Das geht einfach nicht. Glaub mir bitte, dass ich es versucht habe.
Außerdem müsste ich wissen, wie Dein Held wohnt. Wir würden doch nur aneinander vorbeischreiben, wenn die Stube, die ich mir vorstelle, eine andere ist als die, die Du Dir für ihn vorstellst! Und dann die Lampe, um die sich alles dreht. Wie soll ich jetzt noch herausfinden, wie groß sie ist und warum sie in Deinen Augen so schön ist? Und was noch viel schwerer wiegt ist doch, dass Du mir nicht verraten hast, wie Herr Spiro denkt.
Kurz gesagt: Warum hast Du das alles so abstrakt gelassen? Warum lässt Du mich im Dunkeln stehen und verlangst dann auch noch solche Dinge von mir?
Ich verstehe Dich nicht. Und auch wenn ich mich wiederhole: Das geht so nicht. Wenn Du noch da wärst, würde ich Dir jetzt Deine Geschichte zurückgeben. Einer wie ich kann Dir da nicht weiterhelfen. Auch wenn es mir unendlich leid tut. Für Herrn Spiro und noch viel mehr für Dich.
Ja, ich weiß, was Du geschrieben hast. Ich soll nicht heulen. Tu ich auch nicht.
Anna sah dem Papier an, dass es gelogen war. Sie drehte das Blatt um.
Ich fahre jetzt für ein paar Tage ans Meer, aber nur, weil ich schon lange gebucht habe. Aus der Nummer komme ich jetzt nicht mehr raus und es stimmt ja auch: Daheim würde ich doch nur verrückt werden, wenn ich zwei Wochen auf meinen neuen Schreibtisch drüben bei den anderen warten müsste.
Mit Deiner Erlaubnis werde ich Herrn Spiro einpacken und ihn in einer Flasche den Wellen übergeben. Vielleicht findet ihn irgendwann irgendjemand und schreibt weiter. Dann hättest Du wenigstens auf dem Wege das erreicht, wozu ich nicht imstande bin. Es tut mir leid, dass ich Dich so enttäuschen muss, aber es geht nicht anders.
Die Dinge, die sich auf meinen Schultern angesammelt haben, sind so schwer, dass ich nicht mehr weitergehen kann. Ich muss aber, auch ohne Dich, und ich hoffe daher, Du bist mit meinem Vorgehen einverstanden. Nein, anders: Ich glaube zu wissen, dass Du einverstanden bist.
Sei mir nicht böse. Bitte.
Für immer
Dein Robert
Wenn der Mann von vorhin dieser Robert war, hätte Anna ihm vermutlich helfen können.
Hätte. Es war zu spät.
Anna sah ihn nicht mehr, und als sie den Brief in ihrer Hand betrachtete, meldete sich ihr Gewissen. Sie faltete das Blatt und legte es zurück.
Auf dem Weg zum Tor schaute sie sich einige Male um. Sie fühlte sich wie eine Diebin.
2
Anna nahm ihre größte Kaffeetasse aus dem Küchenschrank und sah hinüber zu ihrem Schreibtisch. Überall dazwischen lagen Papierkugeln herum. Zerknüllt, nicht zerfetzt, zum Teil mit Schwung fallengelassen, aber nicht wütend gegen die Wand geworfen.
Ein Fortschritt?, fragte sie sich und kam sich vor wie ihre eigene Therapeutin.
Aber die Zeichnerei brachte nichts, und Anna sagte sich immer wieder, dass sie damit nur ihre Zeit verschwendete. Ihr Chef wusste, dass sie keine bunten Kinderbücher mehr illustrieren würde. Das hatte sie sich geschworen. Scheingraber gab trotzdem nicht auf, bei ihr anzufragen.
Anna stellte die Tasse zurück in den Schrank und sammelte die Skizzen ein. Wie sie waren, landeten sie im Müll. Der eine brauchbare Entwurf für die Schulszene wanderte in die Mappe. Einer war zwar hundert Prozent mehr als sonst, machte aber noch lange kein Buch und schon gar nicht, wenn er nur in Schwarzweiß war.
Sie griff zum Telefonhörer und wählte Scheingrabers Nummer.
„Büro Art & Design for Children Jule Brandstetter guten Morgen was kann ich für Sie tun?“, sagte die Dame am anderen Ende, ohne Luft zu holen.
„Frau Brandstetter, hier ist Wehner.“
„Ah, Frau Wehner! Er ist gerade auf dem Sprung, aber ich stell’ Sie noch schnell durch, einen Moment, bitte.“
Die Zwischenmusik hatte keine Chance.
„Anna! Gut, dass du was hören lässt, ich hab heut schon an dich denken müssen. Wie geht’s dir denn?“
Anna wusste, dass Lisas Geburtstag in seinem speziellen Kalender stand. Der war immerwährend, Lisa war nicht mehr.
„Danke, geht schon“, sagte sie. „Aber darauf wollt‘ ich gar nicht hinaus. Es ist wegen der Sache mit dem Kinderbuch. Ich hab mir das angeschaut, aber ich fürcht‘, das wird nix.“
„Das hab ich mir schon gedacht, weil du gar so lang nix hast hör’n lass‘n. Ist nicht schlimm, dann geb‘ ich das jetzt der Johannserin und ihren Damen, auch wenn ich denk‘, dass du … Aber eines wollt‘ ich dir noch sagen: Ich brauch‘ dich noch und das weißt du hoffentlich, oder? Also, wenn was ist, meldest du dich. Abg’macht?“
„Abg’macht. Und danke.“
„Nix zu danken. Du kommst wieder, du bist noch lang nicht am End‘ deiner Karriere bei mir. Ich schick‘ der weiterhin alles, von dem ich denk‘, dass es was für dich sein könnt‘. Machen wir das so?“
„Machen wir so“, sagte sie nur, weil sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte.
Scheingraber kannte das von ihr, es war nicht das erste Mal, dass ihr das an einer solchen Stelle passierte.
„Dann mach’s gut und auf bald, meine Liebe“, sagte er noch und legte auf, bevor sie den Gruß erwidern musste.
Himmelherrgott nochmal, dachte sie, das wird so gehen, bis das ganze Geld vom Hausverkauf aufgebraucht ist.
Nach jedem Gespräch dieser Art fühlte sich Anna wie zerschlagen. Was sollte sie machen? Wie andere nach einem Schockerlebnis nicht mehr redeten, konnte sie nicht mehr farbig illustrieren. Schon gar keine lustigen Kinderbücher. Zumindest nicht in einer vertretbaren Zeit. Aber Scheingraber hatte immer noch Verständnis dafür. Sie glaubte ihm, was er sagte. Dieser Mann würde sie nicht vergessen.
Kaffee hatte sie nach wie vor keinen im Haus, der war beim letzten Einkauf im Supermarktregal geblieben. Anna nahm ihren Mantel vom Haken und machte sich auf den Weg.
Robert zog den Rollkoffer hinter sich her. Daran war seine Schwester schuld, denn sie hatte schon vor Wochen nach einem Hotel und dem dazugehörigen Flug gesucht, und er musste in einer schwachen Minute so etwas wie Ja gesagt haben. Die Reisebestätigung war jedenfalls eines Tages im Briefkasten gewesen.
Ihm blieb jetzt nichts anderes übrig, er musste.
Er sah auf die Uhr, halb neun. Der Zug zum Flughafen fuhr am Hauptbahnhof erst um kurz vor zehn und die Auszubildende aus der Personalabteilung hatte gesagt, es ginge nur um seine Unterschrift.
„Wir haben ein neues Formular. Und das wurde vergessen.“ Die junge Frau hatte sich angehört wie eine Dreizehnjährige im Zeugenstand. So klein, mit Hut, hätte Kai gesagt.
„Und?“, hatte Robert gefragt.
„Das Ding ist sehr wichtig, weil ohne Ihre Unterschrift drauf kann Ihr neuer Ausweis nicht fertig gemacht werden … Und da wollte ich Sie fragen … also, wäre es möglich, dass Sie morgen nochmal vorbeikommen? … Ganz kurz nur! Sonst werden Sie mich wahrscheinlich nie mehr mit Kopf sehen.“
„Wäre vermutlich schade drum“, hatte Robert geantwortet und überlegt, ob er dieser jungen Frau überhaupt schon einmal in natura begegnet war.
„Kommen Sie dann morgen früh?“
„Ich werde da sein. Schönen Feierabend wünsche ich.“
„Wünsche ich Ihnen auch, Herr Lohwald.“
Er hatte die Erleichterung in ihrer Stimme gehört, obwohl er offengelassen hatte, wann er kommen würde. Wenn sie heute seinetwegen früher als sonst im Büro hatte erscheinen müssen, glich sich das nur aus. Von daheim aus hätte er ein Taxi zum Bahnhof nehmen können, jetzt musste er sein Gepäck durch die halbe Stadt karren und sich vom Geräusch der Kofferrollen auf dem Pflaster den letzten verbliebenen Nerv rauben lassen.
Zur Sicherheit sah Robert noch einmal auf die Uhr. Immer noch halb neun, er hatte also Zeit für ein kleines Frühstück.
Der Geruch warmer Brezen und Semmeln schlug ihm aus der Bäckerei entgegen. Frank Fährmann stand hinter dem Tresen, an ein Regal gelehnt, Robert riss ihn aus seinen Gedanken.
Im nächsten Moment vermisste er schon die alte Frau Fährmann und ihm schwante Böses.
„Wie geht’s deiner Mutter?“, fragte er.
Frank kratzte sich hinterm Ohr. „Die hat sich heute frei genommen. Wenn’s Wetter noch wird, will sie mit den Kindern in den Tierpark.“
„Ach so“, sagte Robert und hoffte für Frau Fährmann, dass es stimmte. Sie hatte auf ihn in der letzten Zeit einen gebrechlichen Eindruck gemacht.
Robert ließ sich eine Nussschnecke und ein Schokocroissant einpacken und ging einen Schritt zum Stehtisch am Schaufenster. „Gibst mir bitte noch einen grünen Tee?“
Frank reichte ihm die Tasse über den Tresen.
Die Frau, die zur Tür hereinkam, kannte Robert. Woher, konnte er nicht sagen.
„Ein Pfund gemahlenen Kaffee, bitte“, sagte sie.
Frank hängte die Auffangtüte an das Gerät und schaltete es ein.
Die Frau drehte sich zu Robert um und runzelte die Stirn.
Ich mag das Geräusch der Mühle auch nicht, dachte er.
Aber vielleicht ging es ihr wie ihm und sie überlegte, wohin sie ihn sortieren sollte.
„Möchten Sie auch was trinken?“, fragte Frank die Frau.
„Das wäre eine Idee.“ Ihre Stimme klang angenehm weich. „Saukalt wird’s langsam wieder in der Früh.“
Frank nahm eine große, weiße Tasse. „Kaffee oder Tee?“
„Kaffee, bitte.“
„Milch steht drüben bei dem Herrn, der Zucker auch. Oder wollen Sie einen Süßstoff?“
„Schwarz, danke“, sagte sie und knöpfte ihren Mantel auf.
Was sie darunter trug, war auch schwarz. Sie sah aus, als würde sie von einer Beerdigung kommen. Und doch nicht. Da waren keine Spuren von Tränen.
Robert schob seine Tasse ein wenig beiseite, damit sie Platz hatte.
Die Frau nickte und starrte aus dem Fenster. Nach dem zweiten Schluck Kaffee kniff sie die Lippen aufeinander und schaffte es nicht, ihre Tränen wegzublinzeln.
Einer der langen Momente, dachte Robert und überlegte, ob er ihr ein Taschentuch reichen sollte. Er ließ es bleiben, es war nicht nötig.
Beim gemeinsamen Aufbruch ein paar Minuten später konnten sie sich nicht gleich einigen, wer wem die Tür aufhalten durfte.
Robert hob seinen Hartschalenkoffer von der Stufe aufs Pflaster. „Ein schwerer Tag?“, fragte er, ohne die Frau anzusehen.
„Nicht ganz leicht, ja.“
„Verstehe.“
Sie drehte den Kopf zur Seite und sah ihn an. Ihr Nicken kam zögernd.
Der Mann, den Anna vom Friedhof kannte, blieb mit einem Fuß an einem aufstehenden Pflasterstein hängen und stolperte.
Sein Koffer schwankte, kippte aber nicht um.
„Hoppala“, sagte sie.
Er sah sie aus müden Augen an, verzog für einen Moment den Mund zu einem leichten Grinsen.
Immerhin. Und etwas aufrechter als vor ein paar Tagen ging er auch schon wieder. Sie war sicher, dass er sich nicht an sie erinnern konnte.
Wie auch?
Aus der Nähe tat er ihr mindestens genauso leid. Wer so schaute, war reif für die Insel. Anna kamen Claras Worte zum Thema Mitleid wieder in den Sinn und dass sie diesem Mann helfen wollte.
„Glauben Sie eigentlich an Vorsehung?“, fragte sie.
„Hm“, machte er. „Ich glaube, dass alles so kommt, wie es kommen soll. Ist das dasselbe?“
„Vielleicht.“
Am liebsten hätte sie ihm jetzt gesagt, dass sie ihn verstand. Auch das, was er in seinem Brief an Kai geschrieben hatte, und dass sie gern mit ihm darüber reden würde. Aber so einfach ging das nicht. Sie musste anders anfangen.
Nur wie?
Ihr fiel nichts ein, er lief schweigend neben ihr her und konzentrierte sich auf die Linien zwischen den Pflastersteinen. Sie kamen zum Musikhaus Horn.
Vielleicht so?
Vor der Vitrine blieb Anna stehen. „In so einem Laden wollte ich mal über Nacht eingesperrt werden und alles ausprobieren.“
Er hielt mit zwei Schritten Verzögerung an. „Aha.“
„Wahrscheinlich wäre es ein Cello geworden. Weil meine Patentante … meine Güte, ich texte Sie hier zu.“
„Sie texten mich nicht zu. Ihre Patentante …?“
„War einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben.“ Sie sah wieder ins Schaufenster. „Sie hat Pavarotti geliebt. Kennen Sie …“ Leise summte sie ein paar Töne und hoffte, dass er von alleine auf Nessun dorma kommen würde.
„Vincerò! Vincerò!“, antwortete er prompt. „Und was hat das mit Cello zu tun?“ Er lächelte.
„In cielo, habe ich damals verstanden und es hat einige Jahre gedauert, bis ich irgendwo dem Text begegnet bin. Da war dann natürlich überhaupt kein Himmel drin und ich kam mir ziemlich bescheuert vor.“ Sie sah seinen ernsten Blick.
„Gar nicht. Sie können das von jedem Cellisten hören, dass er ein himmlisches Instrument spielt, wenn Sie ihn fragen.“ Mehr sagte er nicht.
Sie hätte ihn gerne gefragt, ob er ein Cellist war, dass er das so genau wusste, aber sie traute sich nicht mehr. In der kurzen Zeit hatte sie schon genug geredet. Wahrscheinlich hielt er sie jetzt für eine der einsamen Frauen, die für jedes Wort dankbar waren, das einer an sie richtete.
Sie kamen am U-Bahn-Abgang an.
„Wiedersehen“, sagte er und verschwand auf der Rolltreppe in den Untergrund.
Sie sah dem Mann nach. Ohne Koffer hätte er wahrscheinlich immer zwei Stufen auf einmal genommen, um noch schneller ganz unten anzukommen.
Der Weißwein, den ihm die kleine, schwarzhaarige Stewardess vorhin im Kunststoffbecher serviert hatte, arbeitete in ihm. Croissants und Nussschnecken waren keine gute Grundlage, das hätte er eigentlich wissen müssen. Aber den Weg vom Hamburger Flughafen zum Bahnhof hatte er noch gefunden und er saß auch im richtigen Zug, in dem nach Stralsund.
Der letzte Halt war Schwerin gewesen, jetzt stand eine weißhaarige Frau vor Robert im Abteil. Sie ignorierte sämtliche anderen freien Plätze, als hätte sie sich ihn ausgesucht. Wie ein Hund aus dem Tierheim sein neues Herrchen.
Strample hier nicht im Treibsand rum, verteil lieber dein Gewicht, sagte er sich, gab sich einen Ruck und stand auf. „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“
Die Frau ließ im selben Moment ihren Koffer los. „Junger Mann, das is‘ aber sehr zuvorkommend. Dass es so was noch gibt unter den Menschen …“
Als er das lederne Gepäckstück mit den abgewetzten Ecken ins Netz wuchtete, dachte er an seine Bandscheiben.
Was war bloß in dem Koffer? Goldbarren?
Was, wenn dieses Ding ihm sein Kreuz endgültig ruinierte? Der Dank für seine Pfadfindertat würde ihm ewig nachschleichen, zuallererst zur Krankengymnastik.
„Besten Dank.“ Die Weißhaarige setzte sich in Fahrtrichtung, Robert gegenüber.
Sein Rückgrat hatte gehalten.
„Ich besuche meine Schwägerin, die wird morgen fünfundachtzig“, sagte sie wie zur Eröffnung ihres persönlichen Damenkränzchens. „Und, wissen Sie, im Zug sind die Viererplätze mit Tisch die besten. Da lernt man die Leute kennen!“ Sie sah ihn prüfend an. „Oder man schweigt gemeinsam.“
Er nickte.
Sie zog ihre Lesebrille an der Kette aus der Tasche, zückte einen dicken Schmöker, versank darin und schmatzte ihr Bonbon, dessen baldiges Ende sich Robert schon nach zwei Minuten sehnlichst wünschte. Als sie es endlich zerbiss, war es wie eine Erlösung.
Er schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als die Bonbontüte raschelte. Die Schmatzerei ging von vorne los. Das würde kein Ende nehmen, bis diese Frau ausstieg, so viel war ihm klar.
Robert überlegte, ob er aufstehen und sich einen Kaffee im Bistro genehmigen sollte. Gab es überhaupt eines in solchen Zügen?
Er blieb sitzen und schaute aus dem Fenster, vor dem kleine weiße Flocken auf grünbraunem Grund vorbeizogen. Wenn er als Kind Schafherden gesehen hatte, war das Ziel nicht mehr weit gewesen. Inzwischen standen überall Windräder herum, denen man in Bodennähe unterschiedlich grüne Ringe verpasst hatte, in der vergeblichen Hoffnung, dass sie sich dadurch besser ins Landschaftsbild einfügten.
Die Veränderungen in Roberts Leben ließen sich auch nicht schönfärben, er hatte sie zu akzeptieren.
Schwamm drüber.
Das Schicksal war in erster Linie hart zu Kai gewesen, nicht zu ihm. Mehr als Begleitung hatte Robert nicht sein können und damit doch nichts erreicht. Außer, dass sich Fiona in derselben Zeit von einem ihrer Arbeitskollegen hatte schwängern lassen.
Schluss jetzt, ermahnte er sich, hör auf zu zappeln, sinkst ja doch nur tiefer ein.
Dieser IC würde ihn jetzt ans Meer bringen. Und wieder daheim würde Robert die Abteilung wechseln, weil er eine junge Frau auf dem Gewissen hatte, die vielleicht zu retten gewesen wäre. Kein Polizeipsychologe der Welt hätte es geschafft, ihm in einem akzeptablen Zeitrahmen das Gegenteil einzureden.
Die Landschaft zog vor Roberts Blick vorüber, es gab keine Bäume am Bahndamm und er war dankbar dafür. Licht- und Schattenspiele hätten ihn jetzt wahrscheinlich an den Rand des Wahnsinns getrieben.
Robert sah die alte Dame an. Wie sie da leise lächelnd saß, hatte sie Ähnlichkeit mit seiner Mutter, die mit fünfundsechzig noch viel zu jung gewesen war fürs Altersheim. Als die elterliche Wohnung aufgelöst werden musste, hatte er mit seiner Schwester die Bücher geteilt. Um genau zu sein, war nur eines zu seinem geworden, weil ihm das Cover mit dem Ausschnitt vom Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle schon zu Zeiten gefallen hatte, als der Geschmack von Bierschinkensemmel und Apfel für ihn noch das größte Glück auf Erden bedeutet hatte.
Die uralte Ausgabe von Stones Michelangelo stand nun daheim im Regal und Robert wollte sie eines Tages als Reisevorbereitung lesen. Nicht heute, sein Ziel war nicht Rom, sondern Rügen.