Czytaj książkę: «Zeit verteilt auf alle Wunden»
© 2021 – e-book-Ausgabe
RHEIN-MOSEL-VERLAG
Zell/Mosel
Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel
Tel 06542/5151 Fax 06542/61158
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-89801-908-8
Lektorat: Christine Kaula
Ausstattung: Stefanie Thur
Titelfoto: Dmitri Ma/shutterstock.com
Birgit Jennerjahn-Hakenes
Zeit verteilt auf alle Wunden
Roman
Rhein-Mosel-Verlag
Erstes Kapitel
Winterblitz und Staubschauer
Martin starrte auf die roten Zahlen seines Radioweckers. 3:53 Uhr. Somit lag er jetzt seit zwei Stunden und neunundzwanzig Minuten wach. Blieben noch zwei Stunden und sieben Minuten, bis ihm der Wecker um sechs Uhr die Nachrichten verkünden würde, und er sich für einen weiteren Tag an der Schule fertigmachen musste – ein Gedanke, bei dem sich jetzt schon sein Magen zusammenzog. Er schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen, da läutete das Festnetztelefon. Martin wunderte sich, er wurde nur höchst selten angerufen, aber dann gewiss nicht um diese Uhrzeit. Da es nicht aufhörte zu klingeln, quälte er sich aus dem Bett, lief die Treppen hinunter zum Flurschränkchen und griff nach dem Telefon, das dort in der Ladestation stand.
»Wachs.«
»Hallo Herr Wachs, hier spricht Schwester Tamara aus dem Hospiz. Bitte entschuldigen Sie, dass ich um diese Uhrzeit anrufe, aber es wäre gut, wenn Sie herkommen könnten. Ihre Großmutter … es geht zu Ende.«
Martin nahm auf der drittletzten Treppenstufe Platz. Er spürte die kalten Fliesen durch seine Boxershorts.
»Herr Wachs? Sind Sie noch am Apparat?«
»Ja.«
»Würden Sie bitte kommen? Ihre Großmutter sagt unentwegt Ihren Namen.«
Martin blieb stumm.
»Ich weiß, es ist früh«, sagte Schwester Tamara.
»Früh fängt bei mir später an.«
»Bitte, Herr Wachs!«
»Ich kann ihr nicht helfen.«
»Sie sollen ihr auch nicht helfen, sondern nur zuhören. Es scheint, als wolle sie Ihnen noch etwas sagen.«
Martin betrachtete seine Fingernägel. Er sollte sie schneiden.
»Ich brauche eine halbe Stunde«, sagte er, obwohl er es in einer viel kürzeren Zeit hätte schaffen können.
Das Erste, das ihm auffiel, als er hinter Schwester Tamara das Zimmer seiner Großmutter betrat, war der grelle Schein der Nachttischlampe. Ein Bühnenlicht für das Sterben, dachte er.
»Setzen Sie sich zu ihr«, bat Schwester Tamara.
»Danke, ich bleibe lieber stehen«, sagte Martin und verharrte an der Tür.
Trotzdem schob die Schwester einen Stuhl an das Bett und kam dann seufzend auf ihn zu. »Hören Sie, ich weiß nicht, was zwischen Ihnen und Ihrer Großmutter vorgefallen ist. Es geht mich auch nichts an. Aber ich betreue schon lange sterbende Menschen und habe den Eindruck, dass sie Ihnen noch etwas sagen will.«
Martin sah zu dem Stuhl und wunderte sich, dass es möglich war, drei Meter als eine unüberwindbare Strecke zu empfinden. Sein Blick wanderte wieder zum Bett. Da lag die Frau, die seine Mutter geboren hatte. Nun würde das letzte Band zerreißen. Es spielte keine Rolle, ob dieses Band bereits mit dem Tod seiner Mutter einen Riss bekommen hatte. Den ersten von vielen. Trotzdem war sie für ihn da gewesen. So gut sie eben konnte. Vor dem Tod der Mutter war alles anders gewesen. Da waren sie eine richtige Familie gewesen: seine Mutter, er und die Großmutter. Fröhlich am Küchentisch, einander Geschichten erzählend und lachend. Mit diesem Bild im Kopf fiel es ihm jetzt leichter, auf seine Großmutter zuzugehen. Der aschfahle Teppich verschluckte seine schweren Schritte, dann stand er vor ihr. Über der Bettdecke lagen ihre Hände – gefaltet, als sei sie schon tot. Martin sah auf ihren Kopf, der ihm sehr klein vorkam, wie er da im Kissen eingesunken lag. Ob man dem Leben davonschrumpfen konnte? Ihre Augen waren geschlossen, ihr Atmen klang angestrengt. Als Kind hatte ihm ihre robuste Erscheinung Angst eingeflößt, jetzt verschwand ihre Gestalt beinahe unter der Bettdecke wie eine Erinnerung aus dem Gedächtnis. Ein trauriges Bild. Das Verschwinden. Für immer. Martin bekam einen Kloß im Hals und spürte plötzlich eine ihm nur allzu bekannte Last auf seinen Schultern. Sie war wieder da, schwerer denn je. Sofort tauchten auch die grausamen Bilder wieder vor ihm auf. Der Aufprall. Die Schreie. Dann Stille – die gleiche wie jetzt. Unumkehrbar. Endgültig. Seine Mutter, die Augen weit offen und für immer erstarrt.
Weil er schwitzte, zog er seine dunkelblaue Steppjacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Er musste sich setzen. Sein Smartphone drückte in der Gesäßtasche seiner Jeans und der Wollpullover kratzte, obwohl er ein T-Shirt darunter trug. Sehr gern wäre er fortgegangen, blieb aber trotzdem sitzen und schaute seine Großmutter wieder an. So sah es also aus: ein Lebensende. Wie alt war Großmutter? Er rechnete nach und kam auf achtundneunzig Jahre.
»Schauen Sie, sie öffnet die Augen«, sagte Schwester Tamara, »ich lasse Sie nun alleine. Wenn etwas ist, können Sie mich hiermit rufen.« Sie deutete auf den Klingelknopf, der an einer Schnur am Bettgalgen hing.
Als die Schwester die Tür hinter sich geschlossen hatte, schaute Martin seiner Großmutter in die Augen. »Ich bin’s«, sagte er, »Martin.«
Sie erwiderte den Blick und presste die Lippen aufeinander, ein brummendes »mm« kam heraus, Martin sah, wie sehr sie sich anstrengte. Die eingefallenen Wangen blähten sich leicht auf, er erinnerte sich daran, wie er als Kind nicht genug Puste gehabt hatte, um einen Luftballon aufzublasen. Sie hatte es dann für ihn getan. Was sollte er jetzt tun? Er hielt den Blickkontakt. Großmutters Augen erschienen ihm unnatürlich weit. Er ahnte nicht einmal, was ihr Blick sagen wollte. Er spürte nur ihr Wohlwollen ihm gegenüber, und das war schon viel. Trotz der aussichtslosen Situation freute er sich darüber. Aber etwas in ihren Augen war anders als bei allen anderen Menschen. Die Lederhaut war gelb unterlaufen, ihr Blick sah sehr krank aus, ungewollt leblos. Er erschrak. Leiden tropfte tränenlos aus Großmutters Blick. Martin bekam Mitleid. Sie mussten nicht darüber sprechen. Gleich käme der Tod und würde sie mitnehmen. Der Tod war alles andere als minimalistisch, dachte er, wehrte sich gegen das Wort gigantomanisch und atmete schneller, weil etwas in ihm aufstieg, was nach außen drängte. Um sich zu beruhigen, sah er auf seine Hände und knetete sie, aber es half nicht. Wieder blickte er seine Großmutter an. Ihre Augenlider flackerten jetzt wie eine defekte Glühbirne. Dann blieben die Augen wieder offen, schauten ihn durchdringend an. Ihm war, als würde Großmutter ihm zunicken. Martin erwiderte die Geste, um sie zu ermuntern, zu sagen, was sie ihm noch zu sagen hatte. Speichelfäden krochen aus ihrem Mund; sie röchelte. Ihm stieß das kohlensäurehaltige Fruchtgetränk auf, das er vor der Abfahrt in sich hineingeschüttet hatte. Nein, er konnte das doch nicht. Hier sitzen. Sie begleiten. Er sprang auf, der Stuhl kippte und landete mit einem dumpfen Knall auf dem Teppichboden. Martin hob ihn nicht auf, sondern stürmte aus dem Zimmer und prallte mit einer Frau zusammen.
»Hoppla«, sagte die Frau.
Martin schenkte ihr einen kurzen Blick und wollte weiter, aber plötzlich wurde ihm so schwindelig, dass er sich an der Wand abstützen musste.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte die Frau. Ihr Haar war so schwarz, dass es sich noch von der Dunkelheit im Flur abhob.
Allmählich gewöhnte Martin sich an das spärliche Flurlicht. Er erkannte den Ausgang am Ende des Ganges. Raus hier, dachte er, ich muss raus hier und setzte einen Fuß vor den anderen. Da fragte die Frau noch einmal: »Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein, danke, ich möchte gehen«, sagte er. Das allerdings so leise, als spräche er nur zu sich selbst.
Er hatte die Ausgangstür noch nicht erreicht, als mit einem Mal das Deckenlicht aufleuchtete.
»Herr Wachs, warten Sie!«
Notgedrungen drehte er sich um. Schwester Tamara eilte ihm nach und fragte außer Atem: »Hat sie es geschafft?«
»Was geschafft?«
»Ihnen zu sagen, was so wichtig für sie war.«
»Sie hat nichts gesagt.«
»Oh.«
Die Schwester ging zurück zum Zimmer seiner Großmutter. Martin sah ihr nach, dann wieder zur Ausgangstür. Er griff den Knauf. Bevor er ihn drehte, schaute er ein letztes Mal zurück. Dann entschied er, zu gehen. Schließlich musste er unterrichten.
Wieder hallte Schwester Tamaras Stimme durch den Flur: »Rudi! Kennen Sie Rudi?«
Die Frage traf auf seinen nassgeschwitzten Rücken, drang ins Mark, raste die Nervenbahnen empor und explodierte in seinem Kopf wie ein Winterblitz. Magisch angezogen lief er zurück ins Zimmer. Dort angekommen, wurde ihm schwarz vor Augen. Schnell setzte er sich wieder, um nicht zu stürzen. Umzufallen war ohnehin eine Möglichkeit, die er bisher aus seinem Leben ausgeklammert hatte; er fand, dass dies einem fünfundfünfzigjährigen Mann schon gar nicht zustand. Und außerdem – niemand würde ihn auffangen. Heute nicht und damals auch nicht. Er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, ruhig ein- und auszuatmen. Er wusste nicht, was er sonst hätte tun können. Und während sein Atemrhythmus beschleunigt war, war der ihre verlangsamt und unregelmäßig, laut und röchelnd und widerlich kämpfend. Martin hielt sich an beschreibenden Worten fest, wie er es als Kind gelernt hatte. Mama liegt im Sarg auf einem weichen Kissen, das weiß ist wie eine Sommerwolke. Der Angst vor der Wirklichkeit zog er mit Worten einen Schutzmantel an. Da drangen Worte aus Großmutters Mund an sein Ohr: »Rudi ist auf dem Speicher.«
Martin stürzte ins Freie. Draußen empfing ihn ein eisiger Wind. Bevor er sein Auto erreichte, hörte er schon wieder Schwester Tamara rufen: »Herr Wachs, ich habe noch etwas für Sie!« Außer Atem erreichte sie ihn und übergab ihm einen Umschlag. Er bedankte sich, klemmte ihn zwischen die Zähne, schloss den Reißverschluss seiner Steppjacke und marschierte zu seinem Auto. Der rote Volvo stand mutterseelenallein auf dem großen Besucherparkplatz. Das Ende hielt immer Plätze frei. Er schloss die Fahrertür auf, stieg ein und legte den Umschlag auf den Beifahrersitz. Wieder drückte das Smartphone in seiner Gesäßtasche. Er nahm es heraus und steckte es unter den Umschlag. Dann führte er den Schlüssel ins Zündschloss, schaffte es aber nicht, ihn umzudrehen und loszufahren. Wie gelähmt saß er da, das Bild seiner sterbenden Großmutter vor Augen. Er war froh, aus dem überheizten Sterbezimmer entlassen worden zu sein. Aber jetzt, allein hier draußen, befiel ihn auf einmal eine unglaubliche Kälte. Tränen stiegen auf, er wischte sie weg. Er mochte nicht in den Tag starten, aber hier stehen bleiben, konnte er auch nicht. Die Zeiger der Armbanduhr bedeuteten ihm, dass er noch Zeit hatte. Ratlos, was er mit dieser Zeit anfangen sollte, betrachtete er die Uhr. Ein Erbstück seines Vaters, ohne das er nicht aus dem Haus ging – weitere Tränen stiegen auf. Er ließ sie fließen. Sein Vater hatte nie viel Zeit für die Familie gehabt, trotzdem war es allemal besser gewesen, einen Vater zu haben, als niemanden mehr. Schlagartig ging ihm auf, dass er jetzt keine Familie mehr hatte. Betrübt sah er aus dem Fenster. Wenngleich sich das Nachtschwarz allmählich davonschlich, war der Sonnenaufgang noch fern. Wie oft würde die Sonne für ihn noch aufgehen? Es war so verdammt kalt. Er zog die Nase hoch. Weil er kein Taschentuch fand, drehte er den Schlüssel im Zündschloss, damit die Heizung anspringen konnte. Dann griff er nach dem Umschlag. Schon von außen konnte er einen Schlüssel fühlen. Wahrscheinlich sollte er sich jetzt um alles kümmern, das Auflösen von Großmutters Haushalt und den Verkauf ihres Hauses. Wollte er das? Doch wer sollte das sonst tun? Die Frage war aber, ob er es konnte. Er öffnete den Umschlag und förderte außer dem Schlüssel die Visitenkarte eines Notars zu Tage. Eigentlich wunderte ihn das nicht, Großmutter war ein organisierter Mensch gewesen. Ich habe alles geregelt – einer ihrer Lieblingssätze. Gemeint hatte sie nicht nur das, was jetzt eingetreten war. Sie hatte schon immer für alles Regeln gehabt. Auch nach dem Unfalltod seiner Eltern hatte sie ihn nach ihren Regeln aufgezogen. Maximen, die ihm oft an der Grenze zur Lieblosigkeit erschienen waren. Wahrscheinlich hatte sie es nach diesem schrecklichen Ereignis einfach nicht anders hinbekommen. Sie hatte es so gut gemacht, wie sie eben konnte. Aber er war ein Kind gewesen, das mehr gebraucht hätte, als Vorschriften und ein Dach über dem Kopf.
Er schaltete das Radio an. Gerade begannen die Sechs-Uhr-Nachrichten. Martin dachte an den Radiowecker in seinem Schlafzimmer, der nun vor sich hin dudelte. Dann musste er wieder an Großmutters letzte Worte denken: »Rudi ist auf dem Speicher.«
Wenig später ging er auf das Haus zu, in dem er aufgewachsen war. Wie oft hatte Mutter früher vor der Tür gestanden und ihm zugerufen, dass das Essen fertig sei. Und dann war er seiner lachenden Mutter in die Arme gerannt. Nach dem Unfall hatte er das Herumtrödeln angefangen.
Es wäre ein Geschenk des Himmels, dachte er, wenn er Rudi tatsächlich auf dem Speicher finden würde. Vor der Haustür angekommen, kramte er in der Jackentasche nach dem Schlüssel und schloss die Tür auf. Er trat ein, tastete die raue Wand nach dem Schalter ab und machte Licht. Harte Strahlen fielen in den geräumigen Korridor. Er wandte seinen Blick nach links auf die Wendeltreppe, die nach oben führte in den nächsten Flur, in dem eine ausziehbare Leiter in die Decke eingelassen war.
Martin, komm bitte hoch, dein Bett ruft nach dir.
Ich komme ja, bin schon auf der dritten Stufe.
Martin hörte seine Mutter lachen. Er nahm die Stufen entschlossen und zählte sie. Vierzehn.
Das starke Flurlicht von unten reichte aus, um die Luke an der Decke zu erkennen. Die Stange, die man benötigte, um die eingearbeitete Leiter herunterzulassen, lehnte an der Wand wie ein Spazierstock, der darauf wartete, ausgeführt zu werden. Martin nahm sie. Die Leiter entfaltete sich wie eine Ziehharmonika, es regnete Staubflocken. Er rieb sich die Augen, drehte sich weg und hustete. Zögerte. Dann stieg er nach oben.
Kalte Luft empfing ihn. Schüchtern fiel der Morgen durch das Dachfenster herein. Martin brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Wo sollte er suchen? Seine Armbanduhr sagte ihm, dass er eigentlich losfahren müsste, wenn er wie immer um kurz vor sieben das Schulgebäude betreten wollte. Dennoch sah er sich weiter um. Rudi, wo finde ich dich? Obwohl die Sonne inzwischen aufgegangen war, reichte die Helligkeit nicht. Martin stand da und fragte sich, wo, verdammt noch mal, der Schalter für das Speicherlicht war. Als er es gefunden hatte, knallte die Birne durch, und er musste sich weiterhin mit dem spärlichen Tageslicht begnügen.
In der rechten Ecke stapelten sich Dachziegel und Ersatzfliesen, geradeaus lehnten Skier an der Wand. Davor verbarg sich, was auch immer, unter Bettlaken. In der linken Ecke stand ein Regal unter dem Dachfenster.
Irgendwo musste er anfangen, also riss er zunächst die Laken herunter. Staub wirbelte auf, er hustete abermals und rieb seine Augen. Zum Vorschein kamen drei Koffer, ein Puppenwagen – hatte der nicht seiner Mutter gehört –, Kartons und die Nähmaschine. Letztere versetzte ihm einen Stich, er konnte sie nicht anschauen, ohne nicht auch seine Mutter zu sehen. Dieser Staub! Er rieb erneut seine Augen. Dann suchte er Rudi. Wo verdammt war Rudi? Er öffnete die Koffer, sie waren leer. In den Kartons fand er Bücher. Vielleicht im Puppenwagen? Bestimmt. Nein da lag nur eine Puppe. Martin richtete seine Aufmerksamkeit auf das Regal, das neben dem kleinen Dachfenster stand. Auf den ersten Blick in die Fächer sah er Unbrauchbares wie vertrocknete Pinsel, Farbeimer und Schwämme, die sicher zerfielen, wenn man sie berührte. Als er genauer hinschaute, entdeckte er einen Karton, der unter dem letzten Regalfach hervorragte. MARTIN stand in dicken fetten Schwarzlettern darauf. Er zog ihn heraus. Das musste Großmutter gemeint haben.
Er kniete sich nieder und öffnete den Karton. Da lag er. Sein Stoffaffe mit hellem Fell und roter Latzhose: Rudi. Ein Geruch nach Kindheit stieg auf, sommerschwer. In seiner Brust wurde es eng. Früher hatte er Rudi an sich gedrückt, wenn er seine Mutter zu sehr vermisste. Bis Großmutter ihn fortgenommen hatte. Jetzt war er wieder da. Endlich. Er nahm ihn an sich und drückte ihn an sein Herz. »Wie ich dich vermisst habe«, sagte er und fand es gar nicht albern, mit einem Stofftier zu reden. Er hielt ihn ganz fest, und da fiel es ihm auf: Das Büchlein, das er in seinen Rücken eingenäht hatte, war weg. Er war enttäuscht. Als hätte er sechs Richtige im Lotto und nun erfahren, dass es dieses Mal leider viel weniger Geld gab als sonst. Rudi wiederzuhaben, war enorm viel wert, Großmutter hatte ihm damit ein Stück glückliche Kindheit zurückgegeben. Bestimmt hatte sie ihm das Büchlein auch wiedergeben wollen. Wahrscheinlich hatte sie gedacht, es sei noch da, wo er es damals versteckt hatte. »So ein Mist«, sagte er in den frühen Morgen hinein. Sogar die Naht, die er damals aufgetrennt hatte, um das Büchlein zu verstauen, war feinsäuberlich verschlossen. War Großmutter so gemein gewesen? Das glaubte er nicht. Es konnte nicht sein, dass sie ihre letzte Kraft dafür aufgewendet hatte, ihn in die Irre zu führen. Hatte ein anderer das Stofftier aufgetrennt und das Büchlein entfernt? Aber außer ihm und Großmutter gab es niemanden, den die darin enthaltenen Wort-Schätze interessiert hätten. Martin konnte es sich nur so erklären, dass Großmutters Atem nicht mehr ausgereicht hatte, um alles zu sagen. Vielleicht wusste sie auch nicht mehr, dass sie das Büchlein woandershin getan hatte. Schließlich war sie achtundneunzig Jahre alt geworden. Alles wäre vielleicht anders gekommen, wenn er über seinen Schatten gesprungen wäre und sie die letzten Jahre öfters besucht hätte. Martin hielt inne.
Das Lesen und Grübeln macht deine Mutter auch nicht wieder lebendig.
Er durchwühlte den Karton und hoffte, das Büchlein darin zu finden, aber da waren nur Kinderbücher. Und die Holzkugelbahn, die er so geliebt hatte. Stundenlang hatte er der Murmel zusehen können, wie sie die Kurven nahm, bis sie am Ende die Glocke auslöste. Darunter entdeckte er den Kassettenrekorder und ein paar Bänder. Er musste grinsen. Papa hatte immer den neuesten technischen Kram mitgebracht. Je länger er fort gewesen war, desto exklusiver wurden die Geschenke. »Du bist bestimmt das erste Kind im Dorf, das so etwas besitzt.«
Ob der Kassettenrekorder noch funktionierte? Martin runzelte die Stirn. Dann legte er alles zurück in den Karton und schloss ihn. Mit dem Affen in der Hand schritt er noch einmal alle Ecken des Speichers ab. Das Büchlein gab es wohl doch nicht mehr. Er schaute noch einmal in den Puppenwagen, nahm die Matratze hoch, aber auch da war nichts. Also klemmte er den Karton unter den Arm, steckte Rudi unter seine Steppjacke und stieg wieder hinab.
Großmutters Wohnzimmer wirkte jetzt, da sie nicht mehr zurückkommen würde, ganz anders als früher auf ihn. Früher hatte er sich an der hässlichen Einrichtung gestört, vor allem an dominierenden Balken, die in den Raum eingelassen waren, als könnten sie durch Fachwerkhausromantik etwas zur Gemütlichkeit beitragen. Die klassische Schrankwand in nussbraun, die Stehlampe mit dem Schirm in giftgrün, der sich von der dunkelgrünen Couchgarnitur abhob, der Couchtisch – ebenfalls dunkelbraun, mit fetten kurzen Tischbeinen, deren Füße ihn an Pferdehufe erinnerten –, all das war noch immer hässlich, aber auf einmal missfiel es ihm nicht mehr. Jetzt sah er vor seinem inneren Auge nur, was nicht mehr da war. Seine Mutter, die zusammen mit Großmutter eine der Samstagabend-Shows im Fernsehen sah und durch ihr Lachen das Schwarz-Weiß-Fernsehen verbuntete. Verbunten, Martin, da hast du wieder ein tolles Wort erfunden.
Martin stellte den Karton auf dem Fußboden ab, nahm den Rekorder heraus und platzierte ihn auf dem Beistelltisch neben dem Fernsehsessel, zog den Stecker der Stehlampe und stöpselte das Gerät ein. Er wollte nur einmal kurz hineinhören und dann in die Schule fahren. Er zog seine Steppjacke aus, dann drückte er den Knopf für Wiedergabe und machte es sich mit Rudi auf dem Schoß im Sessel bequem. Es rauschte im Gerät. Martin setzte Rudi auf die Sessellehne, stoppte den Rekorder und nahm das Band heraus. Es war gerissen. Aus dem Karton fischte er fünf weitere Bänder. Er überprüfte sie, indem er den kleinen Finger in die Spule steckte und drehte, wie früher, wenn es Bandsalat gegeben hatte. Vier Bänder rissen sofort durch. Das fünfte hielt, er legte es ohne große Hoffnung ein. Da hörte er eine weibliche Stimme. Es war die seiner Mutter.
Hallo Martin, hier spricht Mama …
Er wusste nicht, wie lange er im Sessel verharrt hatte, als es klingelte. Erschrocken schaute er auf die Uhr, die halb acht zeigte. War er etwa eingeschlafen? In der Tür stand Agnes Wondra, die Nachbarin.
»Martin«, sagte sie.
Die Verrückte, wie sie im Dorf genannt wurde, dachte Martin und blieb stumm.
»Irmgard, ist sie …?«
Er nickte.
Frau Wondra nahm seine Hand, sah in die Innenfläche und sagte: »Der Apfel hält sich fest am Stamm.«
Ein Blitz erschreckte Martin, er trat auf die Bremse, hinter ihm hupte jemand. War er bei Rot über eine Ampel gefahren? Er hielt am Straßenrand und sah im Rückspiegel einige langsam fahrende Autos, aber keine Ampel. Mist, das war eine Dreißigerzone. Wie schnell war er gewesen? Mindestens doppelte Geschwindigkeit, schätzte er. Ab wann war der Führerschein weg? Dann müsste er mit der Straßenbahn zur Schule fahren. Eine furchtbare Vorstellung! Er reihte sich wieder in den Berufsverkehr ein. Es war viel mehr los als sonst, normalerweise war er ja auch viel früher unterwegs. Nicht einmal einen Kaffee hatte er gehabt. Er warf einen Blick nach hinten und fluchte. Die Unterlagen für den Deutschkurs lagen nicht auf der Rückbank, sie lagen zu Hause. Aussichtslos, jetzt noch einmal umzukehren. Das erste Mal würde er nicht pünktlich vor seiner Klasse stehen.
Er kurbelte das Fenster herunter, es ging schwerfällig wie immer. Sein Auto war eben keines, bei dem alles per Knopfdruck funktionierte. Manchmal sah er nicht ein, Dinge zu ersetzen, die funktionierten. Ich mag Dinge, die bleiben, hatte er kürzlich in einem Roman gelesen. Mit so einem Satz identifizierte er sich gern. Wieder hupte jemand. Die Stadt war unerträglich laut.
Die wenigen Parkplätze direkt vor dem Schulgebäude waren belegt, erst ein paar Straßen weiter tat sich eine Lücke auf. Martin parkte ein und stieg aus. Die kalte Luft tat ihm gut, sie verschaffte ihm einen klaren Kopf. Langsamer als sonst ging er auf den Eingang des Schulgebäudes zu, langsamer denn je stieg er die zweimal achtzehn Treppenstufen hinauf in den zweiten Stock.
Gedankenverloren stand er vor der Klassenzimmertür, sammelte sich und trat ein.
»Guten Morgen, entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte er und wich den Blicken seiner Schüler aus. Er schnappte sich die Kreide und schrieb nach kurzem Überlegen Alliteration an die Tafel. Er wusste, dass es zu wenig war, aber mehr fiel ihm nicht ein. Immerhin ein Anfang. Hoffentlich war der Tag bald zu Ende.
»Kann mir jemand ein Beispiel für eine Alliteration nennen?«, fragte er.
Hendrik meldete sich. Auf ihn war Verlass. Martin bedeutete ihm zu sprechen.
»Warum machen wir nicht mit der Abilektüre weiter?«, fragte er.
»Alliterationen sind ein wichtiges Stilmittel.« Martin versuchte in seinen Rhythmus zurückzufinden.
»Ja, aber Sie wollten uns heute die restlichen Unterlagen aushändigen, die wir fürs Schriftliche brauchen.«
»Montag.«
»Es ist aber nicht mehr lange bis …«
»Ich sagte: Montag.«
Es tat Martin leid, gerade Hendrik abkanzeln zu müssen. Er wusste, der Junge war ebenso an schönen Worten interessiert wie er. Zu Recht war er Anwärter auf den diesjährigen Scheffelpreis.
Martin schrieb toter Tag unter Alliteration und unterstrich die beiden Anfangs-T. Gemurmel. Toter Tag. Es war ihm völlig klar, wie er darauf gekommen war, dennoch haute ihn die Wucht dieser Worte nun um. Als sei ihm gerade eben erst bewusst geworden, dass viele tote Tage hinter ihm lagen. Aufgewühlt unterstrich er die zwei T erneut und entlockte der Kreide ein hässliches Quietschgeräusch.
»Müssen Sie ausgerechnet so blöde Wörter nehmen?«, fragte Charlotte. Martin drehte sich zu ihr um. »Dann geben Sie mir gerne ein anderes Beispiel für eine Alliteration.«
»Tolle Tasche?«
Martin schrieb es nicht an. Tote Tage tragen tolle Taschen kam ihm in den Sinn, aber er schrieb auch das nicht an.
»Fantastische Freistunde«, rief Sebastian.
»Picklige Pia«, kam es aus Toms Mund.
»Blöder Blödmann«, sagte Mira.
Martin sah seine Schüler an. Sie saßen in Hufeisenform. Auf einmal kam er sich regelrecht umkreist vor. Er sah in lachende Gesichter, sah Jugend und fühlte sich fehl am Platz. Wie hatte seine Mutter das gemacht? Wie hatte sie sich dabei wohlfühlen können?
»Fischers Fritz fischt frische Fische, ist auch eine Alliteration, oder?«, fragte Charlotte.
Wortlos wandte sich Martin wieder der Tafel zu und schrieb alberne Alliterationen hin. Er ging einen Schritt zurück und las für sich die Worte toter Tag und alberne Alliterationen. Was er hier machte, das taugte doch nichts. Die Schüler lachten und wetteiferten um die witzigsten Alliterationen.
So hatte er sich das nicht vorgestellt, als er vor vielen Jahren vor seiner ersten eigenen Klasse gestanden hatte. Er hatte sie für Sprache begeistern wollen wie kleine Kinder für Märchen. Nun starrte er auf das Untergrundgrün der Tafel. Die Farbe der Hoffnung. Er hatte keine mehr.
»Herr Wachs, stimmt was nicht?«
»Ruhe, verdammt noch mal. Können Sie nicht einmal ruhig sein?« Er schmiss den Kreidestumpen an die Tafel.
Und dann war die Klasse ruhig. Endlich.
Martin hörte die Stimme auf dem Kassettenrekorder. Eine Stimme. Seine Mutter. So fröhlich und vor allem so lebendig.
Hallo Martin, hier spricht Mama.
Vor gerade mal drei Stunden hatte er am Bett seiner sterbenden Großmutter gesessen und sollte jetzt fortfahren mit seiner Arbeit, die nur noch Routine war, dem Lehrplan entsprechend, ohne Herzblut, wie es in den Anfängen in seinen Adern pulsiert hatte. Als sei Idealismus eine Krankheit, von der man im Alter geheilt wurde.
»Herr Wachs, ist Ihnen nicht gut? Sollen wir jemanden holen?«
Jemanden holen? Wieso? Er musste hier raus. Die Tür war in greifbarer Nähe. Aber dieser verdammte Gong tat seinen Dienst nicht. Dieses Klassenzimmer war ein Gefängnis. Das ganze Schulgebäude. Seit Jahren ließ er sich hier festhalten. Er musste hier raus. Raus, raus, raus. In ein paar Minuten würde der Gong ihn hoffentlich erlösen. Er kannte das doch. Auf den Pausengong war Verlass.
»Herr Wachs, weinen Sie?«
Weinen? Er? Nein. Nur ein Staubschauer.