Czytaj książkę: «Das süße Gift des Geldes»

Czcionka:

BHAVYA HEUBISCH

DAS
SÜSSE
GIFT
DES
GELDES

VOLK VERLAG MÜNCHEN

Covermotiv: iStock, mammuth

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

© 2020 Volk Verlag München

Neumarkter Straße 23, 81673 München

Tel. 089 / 420 79 69 80, Fax: 089 / 420 79 69 86

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

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ISBN 978-3-86222-375-6

www.volkverlag.de

Inhalt

MÜNCHEN 1868

Nachwort

Wer war Adele Spitzeder?

Literatur und Quellen

Danksagung

MÜNCHEN
1868

Adele Spitzeder wuchtete ihren kalbsledernen Koffer aus dem Zug und stellte ihn auf dem Bahnsteig ab. Reisende drängten an ihr vorbei, Kinder schrien, Gepäckträger in dunklen Uniformen priesen lautstark ihre Dienste an. Einfahrende Dampfloks stießen zischend Rauchschwaden aus, die sich unter den Stahlverstrebungen verloren.

Adele versteckte ihre Locken unter dem Hut und zog den Schleier vors Gesicht. Sie bückte sich, als wolle sie ihre Schuhbänder neu verknoten, und schaute sich verstohlen um. Sah niemanden, der sie verfolgte. Schön blöd würde er schauen, der Hotelportier in Berlin, wenn er nur noch das leere Zimmer vorfand. Und dem Gerichtsvollzieher geschah es gerade recht. Sie konnte sich das Geld auch nicht aus den Rippen schneiden. Ihre Stelle beim Theater war weg, ein neues Engagement nicht in Sicht. Jetzt blieb ihre Cousine Clara, bei der sie als Kind immer die Ferien verbracht hatte, ihre letzte Hoffnung.

„Wartens, Fräulein, ich helf Ihnen.“ Schon griff ein Gepäckträger nach ihrem Koffer. „Habens weit zum Gehen?“

„Nein. Und den Koffer trag ich schon selber.“ Hastig durchquerte Adele die Bahnhofshalle, ging durch die Schützenstraße bis zum Karlsplatz, schritt unter dem Karlstor hindurch und befand sich auf der Neuhauser Straße. Es dämmerte bereits, feiner Nieselregen senkte sich herab und benetzte ihren Mantelkragen. Schmerzhaft schnitten ihr die Ledergriffe in die Hand. Sie stellte den Koffer auf den Boden, schüttelte den Arm, der sich schon ganz taub anfühlte. Nur noch wenige Leute waren unterwegs. Ein Bauer zog einen Deichselkarren voller Rüben hinter sich her, ein Mann, schwer auf seinen Gehstock gestützt, ging an ihr vorbei und bog dann ein in eine Seitengasse.

Adele griff wieder nach dem Koffer und ging, die Handtasche mit ihrem Schmuck und den letzten Gulden an den Körper gepresst, die Neuhauser Straße entlang. Vor dem Gasthaus „Zum Oberpollinger“ schlüpfte sie aus dem Schuh, schüttelte Steinchen heraus und zog den Schuh wieder an. Sie schleppte sich an der Michaelskirche vorbei bis zum Marienplatz. Dort lehnte sie den Koffer an den Fischbrunnen und blickte hinüber zum Hutmachergeschäft des Berthold Hauer. Im Laden brannte noch Licht. Claras Vater stand hinter der Kasse. Clara, die sonst immer im Laden bediente, war nicht zu sehen.

Adele überlegte, wann sie ihre Cousine zuletzt getroffen hatte. Vor fünf Jahren? Als sie sich auf der Durchreise zu einem Gastspiel in Ingolstadt befand und Clara und ihren Vater vorher besucht hatte? Adele ergriff ihren Koffer, überquerte die Dienerstraße, stemmte die Haustür auf und wuchtete den Koffer Stufe für Stufe hinauf in den vierten Stock. Zögerte vor dem blank polierten Messingschild „Berthold Hauer, Hutmacher“, atmete tief durch und ließ den Türklopfer gegen die Eichentür fallen.

Die Tür ging auf und Clara blickte sie entgeistert an. „Was machst denn du hier in München?“ Clara wischte sich die Hände an der Schürze ab und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und völlig derhaut schaust aus.“

Bei der unfreundlichen Begrüßung verschlug es Adele die Sprache. Sie konnte nicht glauben, wie Clara sich verändert hatte. Das Haar zu einem lieblosen Knoten gebunden, die blassen Lippen zusammengepresst. Nichts war mehr zu sehen von der hübschen jungen Frau, die sie bei ihrem letzten Besuch angetroffen hatte.

Adele fasste sich ein Herz. „Helfen musst mir. Ich bin grad aus Berlin gekommen.“

„Bei uns kannst nicht bleiben. Weißt selber, dass der Vater den Umgang mit dir verboten hat.“

„Spinnst jetzt? Wie er mich um Geld angebettelt hat, war ich ihm auch gut genug. Sag bloß, du erinnerst dich nicht mehr, wie ich ihm hundert Gulden geliehen hab, weil sein Geld für die Lieferanten nicht mehr gereicht hat. Zurückbezahlt hat er es nie.“

„Hättest es eh nur wieder für Schmuck und teure Pelze hinausgeschmissen“, entgegnete die Clara schnippisch. Sie griff in ihre Schürzentasche und zog ein paar Kreuzer hervor. „Da, die kannst haben.“

„Geld will ich nicht. Nur ein Bett für heut zum Übernachten.“

„Verschwind! Der Vater muss jeden Augenblick kommen. Hättest statt der Schauspielerei halt was Anständiges gearbeitet. Meinst vielleicht, ich steh gern alle Tag im Hutladen?“

„Saubande, elendige!“ Adele riss den Koffer vom Boden und rumpelte die vier Stockwerke hinunter. Bumperte voller Wut gegen das schmiedeeiserne Geländer, plärrte hinauf: „Das vergess ich euch nie!“

Auf der Straße kramte sie in ihrem Geldbeutel. Elf Gulden und fünf Kreuzer. Für einen billigen Gasthof würde es reichen. Sie schlängelte sich im Tal zwischen abgestellten Pferdefuhrwerken hindurch und betrat das Gasthaus „Zum Bögner“.

„Haben Sie noch ein Zimmer frei?“

Der Wirt hinter dem Tresen musterte die abgekämpfte Frau. Der Hut schief auf den schwarzen Locken, die Bluse vom Regen durchnässt, die Schuhe abgelatscht. Sah trotzdem nicht schlecht aus. Eine Halbseidene war sie jedenfalls nicht.

„Für wie lang?“

„Was kostet’s denn?“

„Einen halben Gulden pro Nacht. Bezahlt wird gleich.“

„Dann für drei Nächte.“ Adele zählte ihm das Geld hin und nahm den Schlüssel in Empfang. Wieder musste sie Treppen steigen, aufpassen, dass sie nicht hängenblieb in dem verlöcherten Läufer. Der Geruch nach Blutwurst drehte ihr fast den Magen um. Das Zimmer gab ihr den Rest. Die Bettstatt abgewetzt, das Plumeau stockig, der Spiegel halb blind. Sie öffnete die verklemmte Schranktür, der Naphthalingestank raubte ihr fast den Atem. Sie setzte sich aufs Bett, zog Schuhe und Strümpfe aus und fuhr über die Blasen an ihren Fersen. Kramte in ihrem Koffer nach dem Lederetui, nahm eine Nadel heraus und stach die Blasen auf. Presste das Wasser aus der aufgeblähten Haut. Zog vorsichtig die Strümpfe darüber und schlüpfte in bequemere Schuhe. Obwohl sie hundemüde war, wollte sie nichts wie raus.

Draußen war es schon dunkel, nur ein paar Gaslaternen spendeten gelbfunzliges Licht. In der Theatinerstraße blieb sie vor dem Schaufenster des Hofschneiders stehen und betrachtete die Tuchrollen, Bänder und Hauben. Eine Riegelhaube, durchzogen mit feinen Goldfäden, stach ihr ins Auge. So eine würde sie sich kaufen, sobald sie wieder zu Geld gekommen war. Sie schlenderte vorbei an der Residenz und setzte sich auf die Stufen der Feldherrnhalle. Die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren, drehten sich um, verwundert über die einsame Frau zu Füßen des Feldherrn Tilly.

Drüben beim „Tambosi“ drang helles Licht durch die Fenster und malte schillernde Kreise auf den Boden. Als sich die Tür öffnete, hörte sie es grölen: „Frisch auf ihr Kameraden / Frisch auf zum Waffentanz“. Wie gern säße sie jetzt bei den Offizieren und Kadetten der Hofgartenkaserne. Sie kaute an ihren Fingernägeln. Geld musste her. Dringend. Aber wie die Clara in einem miefigen Hutladen enden? Niemals. Wozu war sie eine begnadete Schauspielerin?

Sie zog die Pelerine1 fester um die Schultern und machte sich auf den Heimweg. Still lag der Marienplatz vor ihr. Aus den dunklen Arkaden starrte ihr die Finsternis wie ein schwarzer Schlund entgegen. Schon als Kind war sie vor dem verrufenen Ort gewarnt worden, an dem tagsüber, unter dem Bildnis des heiligen Onuphrius, Händler verfleckte Heiligenbilder, verbeultes Emaillegeschirr und zerflicktes Gewand feilboten. Kaum wurde es Nacht, machten sich die Händler davon. Dann versammelten sie sich, die Verbuckelten, Vergrindeten, vom Leben Ausgespuckten. Schlugen ihr Nachtlager auf in dem verbrunzten, stockfleckigen Gang. Adele fasste sich ein Herz, bekreuzigte sich vor der Mariensäule und huschte vorbei an dem unheimlichen Gewölbe. Ein Schatten löste sich aus dem Dunkel, ein stinkender Geselle heftete sich an ihre Fersen.

Verzweifelt blickte sich Adele um, doch nirgends war ein Passant zu sehen. So forsch wie möglich schrie sie den Kerl an: „Hau ab! Lass mich in Ruh!“

„Eine Ruh gibt’s erst in der Ewigkeit.“ Zahnluckig grinsend streckte er dreist den Arm nach ihrer Handtasche aus. Doch sein Griff ging ins Leere.

Adele raffte ihren Rock und rannte davon. Sie rutschte aus auf Pferdeäpfeln, stolperte vor zum „Bögner“ und knallte dem Kerl, der nicht abließ von ihr, die Tür vor der Nase zu. Seinen Pestilenzgestank noch in der Nase, hastete sie die Treppe hinauf und fiel weinend aufs Bett.

Am nächsten Morgen öffnete sie mühsam die verschwollenen Augen, goss Wasser in die von Sprüngen durchzogene Porzellanschüssel und wusch sich das rotfleckige Gesicht. Die Zeit drängte, wenn sie den Intendanzrat noch am Vormittag sprechen wollte. Sie schlüpfte in ihr bestes Kleid und brachte die Schuhe auf Hochglanz. Bändigte ihr Haar mit einem Elfenbeinkamm, verließ das Gasthaus und schlug den Weg zum Residenztheater ein.

Beklommen stand sie vor dem Theater, legte sich noch einmal die Worte zurecht, mit denen sie den Intendanzrat dazu bringen wollte, sie auftreten zu lassen. Sie fuhr sich noch einmal durchs Haar und betrat die weitläufige Halle. Zugeherinnen wienerten den Boden, polierten den Handlauf des säulengedrechselten Geländers.

Adele stieg die Treppe hinauf und suchte die Türen ab. Intendanzrat Schmitt. Hier war sie richtig. Sie klopfte an und betrat nach einem forschen „Herein“ das Zimmer.

„Was willst?“ Unwillig blickte Schmitt über den Rand seines goldgefassten Kneifers.

„Wenn’s gestattet ist, eine Stelle tät ich suchen.“

„Da kommst zu spät. Die Stelle der Zugeherin ist schon weg.“

„Als Schauspielerin tät ich gern arbeiten.“

Schmitt riss sich den Kneifer von der Nase, sprang hinter dem Schreibtisch hervor, öffnete die Tür und rief über den Flur: „Meisner, kommens mal rüber.“

Ein untersetzter Mann betrat das Arbeitszimmer des Intendanzrats. „Was will denn die?“

Mit mageren Fingern stocherte Schmitt hin zu Adele. „Als Schauspielerin will sie uns beehren.“

Meisner verdrehte die Augen. „Spinnt die?“

Schmitt witterte, einem Bluthund gleich, Adeles Unsicherheit und durchbohrte sie mit seinem Blick. „Was glaubst eigentlich, wer du bist?“ Sah befriedigt, wie sie zusammenzuckte, und tippte ihr mit dem Zeigefinger gegen die Brust. „Stehen genug Schlange bei uns. Schönere als wie du.“

Adele wich einen Schritt zurück. „In Berlin war ich eine gefragte Schauspielerin. Hab mehrmals das Käthchen von Heilbronn gespielt.“

„In Berlin!“ Schmitts Stimme überschlug sich. „Da schau her. Bei den Preußen hätt sie gespielt. Aber wir sind hier in Bayern, fallst es noch nicht gemerkt hast. Die Jüngste bist auch nicht mehr. Wie alt bist eigentlich?“

„Sechsunddreißig.“

„Schau, dass du hinauskommst! So was Altes stellen wir gewiss nicht ein.“

„Aber …“

„Raus!“

Mit zitternden Knien verließ Adele das Gebäude, überquerte den Platz vor dem Theater und lehnte sich an den Sockel des Max-Joseph-Denkmals. Sie zog eine Zigarette aus der Tasche, zündete sie an und sog den Rauch gierig ein. So ein Dreckskerl! Ein Messer sollte man ihm in die Brust stoßen. Es immer wieder umdrehen, bis er verreckte. Sie trampelte die Zigarette aus, nahm die Korallenkette vom Hals, fetzte die fein ziselierte Brosche von der Bluse und zog den Rubinring vom Finger.

In der Rumfordstraße stieß Adele die Tür des Pfandladens auf, den sie noch aus ihrer Kindheit kannte. Hustete. Staubig roch es. Ranzig. Auf den Regalen reihten sich Bücher mit abgegriffenen Einbänden, eingestaubte Kristallgläser, Porzellanfiguren, silberne Kandelaber. An der Wand hingen Degen, Gewehre und Pistolen mit Silberknäufen neben Gemälden in dicken Goldrahmen. Sie trat an eine Vitrine und betrachtete die Perlenketten, Ringe und Broschen hinter dem eingetrübten Glas.

Der Pfandleiher, mit einer Haut wie zerknittertes Pergament, die speckige Jacke mit einem Gürtel achtlos zusammengebunden, kam aus einem Hinterraum. „Was gibt’s?“

Adele öffnete die Kordel ihres Pompons2 und zog den Schmuck hervor. „Wie viel zahlen Sie mir dafür? In zwei Wochen lös ich’s wieder aus.“

Er deutete auf die Vitrine. „Hab genug von dem Zeug.“ Er klemmte sich die Lupe vors Aug, befingerte den Rubinring, begutachtete die Kette, drehte die Brosche hin und her. „Viel ist’s nicht wert. Dreißig Gulden für alles zusammen. Und wenn Sie’s auslösen, krieg ich dreißig Prozent Zins obendrauf. Pro Woche.“

„Sind Sie narrisch? Der Schmuck ist leicht das Dreifache wert. Geben Sie mir wenigstens vierzig Gulden.“

„Dreißig und keinen Kreuzer mehr. Wenn’s Ihnen nicht passt, könnens alles wieder einpacken.“

Adele stopfte das Geld, das er ihr samt Schuldschein hinhielt, in den Pompon. Drehte sich um an der Tür und stieß hervor: „Ein Wucherer bist!“

„Hättest ja nicht kommen brauchen.“ Der Pfandleiher rieb sich die Hände. So abgebrannt wie die war, würde sie die Sachen nie mehr auslösen. Dann würde er ihm gehören, der kostbare Schmuck.

Als Adele auf der Straße stand, war ihr vor Hunger schon ganz schlecht. Zu gern hätte sie in einer Wirtschaft etwas Richtiges gegessen, doch bis sie einen Ausweg aus ihrer verzweifelten Lage gefunden hatte, musste sie eisern sparen. Sie verscheuchte den Gedanken an einen saftigen Rinderbraten, ging zum Viktualienmarkt, kaufte zwei Schmalzstriezel und setzte sich auf eine Holzkiste. Ein Hund, knochenmager, schlich um sie herum. Verfolgte mit glänzenden Augen jeden Bissen, den sie sich in den Mund schob. Sie warf ihm ein paar Brocken hin, kraulte ihn hinterm Ohr, strich ihm übers räudige Fell. „Hast auch niemanden, genau wie ich.“

Der Hund machte Sitz und schleckte ihr die Hände ab. Als sie aufstand und ziellos durch die Straßen ging, wich er ihr nicht von der Seite. Doch ein Hund war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Drohend hob sie die Hand. „Hau ab!“ Er jaulte auf und verschwand.

Sie zermarterte sich das Hirn. Sollte sie eine Stelle als Zugeherin suchen? In einem feinen Haus putzen, für einen halben Gulden die Woche? Unmöglich. Ein reicher Witwer musste her. Einer, der was springen ließ.

Vor der Tür zum „Bögner“ stand der Hund wieder da. Wedelte mit dem Schwanz, sprang jaulend an ihr hoch.

„Wenigstens du freust dich über mich. In Gottes Namen, dann kommst halt mit.“

Der Wirt belferte: „Hundsviecher sind verboten.“

„Entweder der bleibt oder ich zieh aus.“

„Dann kostet er aber extrig. Einen Kreuzer die Nacht. Im Voraus.“

Adele warf ihm den Kreuzer hin, ging hinauf in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie streichelte den Hund und flüsterte ihm zu: „Weißt was, dich nenn ich Basti.“ Sie streifte die Schuhe von den Füßen und legte sich aufs Bett. Basti sprang zu ihr und schmiegte sich ganz eng an sie.

Schatulle

Nichts wie heim! Jakob Kramer eilte die Rosenheimer Straße entlang, tastete verstohlen nach der prall gefüllten Geldkatze unter seinem Wams. Bei dem Gesindel, das sich in der Stadt herumtrieb, hieß es Obacht geben.

Immer mehr Bauern, Landarbeiter und Tagelöhner strömten nach München. Hofften auf ein besseres Auskommen, ein Sattwerden jeden Tag. Mit der Hoffnung war es schnell vorbei. Arbeit gab es nur zum Hungerlohn, eine Unterkunft schon gleich gar nicht. Die Männer bettelten um eine Anstellung in einer Fabrik. Viele marschierten schon vor Tagesanbruch in die Hirschau. Schufteten in der Lokomotivfabrik in säuregiftiger Luft. Kehrten abends heim und fielen in einer üblen Kammer, zusammengepfercht mit anderen Tagelöhnern, in bewusstlosen Schlaf. Nicht jeder hielt das aus. Manch einer endete als Dieb oder Beutelschneider, lungerte auf der Straße herum, spähte aus, bei wem sich der Griff in die Tasche lohnte.

Kramer durchschritt das Isartor und durchquerte das Tal. Schlängelte sich hindurch zwischen Ochsenkarren und Pferdefuhrwerken, fluchte, als er in einen Kuhfladen tappte. Heftiger Bierdurst plagte ihn. Sollte er auf eine Maß ins Dürnbräu? Zu riskant mit dem ganzen Geld. Er eilte zurück zu seinem Haus am Lueg ins Land. Blickte sich misstrauisch um, stocherte den Schlüssel ins Schloss, trat ein und rief nach seiner Frau: „Agnes, was gibt’s zum Essen?“ Keine Antwort. Bestimmt kniete sie wieder in der Kirche, die bigotte Matz. Fünf elende Jahre war er schon mit ihr verheiratet, der Bauerstochter, die froh gewesen war, doch noch einen Hochzeiter zu finden. Mit schönen Worten und süßem Lächeln hatte sie ihn herumgekriegt. Nach der Hochzeitsnacht war es verschwunden, das Lächeln.

Verdrießlich stieg er die Treppe hinauf in die Schlafkammer, um sein Geld in Sicherheit zu bringen. Rückte schnaufend die wuchtige Eichentruhe von der Wand und löste mit seinem Hirschfänger ein Brett des Dielenbodens. Unter der Diele befand sich, sorgfältig mit einem Tuch ausgelegt, ein Hohlraum. Vorsichtig hob er die silberne Schatulle aus dem Versteck und ließ die Finger über die in Silber geschlagene Figur auf dem Deckel gleiten. Den heiligen Martin, der alles hergegeben hatte für die Armen. Er würde nichts hergeben von seinen Gulden, so wahr er Jakob Kramer hieß.

Er öffnete das Kästchen, setzte sich aufs Bett und dachte mit Grausen an seine Kindheit. Die Geschwister an Auszehrung gestorben, die abgearbeiteten Eltern tot. Als Kostkind hatten sie ihn herumgeschoben. Jeden Tag bei einer anderen Familie essen, jeden Tag bei einer anderen Familie schlafen. Alles hatten sie aus ihm herausgepresst, dem Balg. Stallausmisten, Kühe melken, die schweren Milchkübel schleppen. Und wehe, wenn die Milch überschwappte. Die vernarbten Striemen auf seinem Rücken sah man noch heute.

Dann war der Schmied gekommen. „Schaust kräftig aus, Bub. Wennst hinlangen kannst, dann darfst bei mir anfangen.“

Hinlangen konnte er. Und das Feuer gefiel ihm, in dem er die Eisenstäbe drehte, bis das Metall rot glühte. Glücklich war er, wenn er den funkensprühenden Stab auf den Amboss legte, ihm mit dem wuchtigen Hammer eine Form gab, für Eisenstreben, Türbeschläge, Riegel. Als der Schmied den Schlagfluss erlitt, konnte er die Werkstatt übernehmen. Jeden Kreuzer, jeden Gulden hatte er zurückgelegt, bis das Geld reichte. Für den Kauf von zwei Zimmern in einem Herbergshaus hinten am Gasteig, die er weitervermietete, für gutes Geld.

Er nestelte die Geldkatze vom Gürtel und zog die Gulden hervor. Streichelte jeden einzelnen, flüsterte: „Reich werdets mich machen. Richtig reich.“ Er legte die Münzen in die Schatulle, verstaute diese wieder im Hohlraum, passte das Dielenbrett akkurat ein und wuchtete die Eichentruhe zurück.

Die Haustür fiel ins Schloss. Kurz darauf hörte er die Agnes in der Küche hantieren. Sein Magen knurrte. Er stieg die Treppe hinunter und raunzte an der Küchentür: „Wann gibt’s was zum Essen?“ Missmutig ließ er sich auf die Küchenbank fallen.

„Wirst es noch derwarten können.“

„Wo warst?“

„Geht’s dich was an?“ Agnes rührte den Eintopf um, schnitt Geselchtes klein und gab es in den Kupferkessel. Schöpfte eine große Portion in einen Teller und stellte ihn dem Kramer hin. Der würzige Fleischduft stimmte ihn gleich versöhnlicher.

„Setz dich her zu mir. Pläne hab ich.“

„Wird schon was Gescheites sein!“

„Jetzt hab ich bald das Geld beisammen, dass ich noch ein Zimmer kaufen kann.“

„Kriegst den Wanst immer noch nicht voll?“ Hämisch verzog Agnes den Mund. „Der Pfarrer hat’s auch gesagt: Auspressen tust die Leut. Viel zu viel verlangst für die windigen Zimmer.“

„Und du, von was lebst du?“ Kramer klatschte den Löffel in die Suppe, das Geselchte pflatschte über den Tisch. „Von dem Geld, das ich heimbring!“

Agnes reckte ihr spitzes Kinn. „Eine Schand bist für anständige Christenleut!“

Er sprang auf, zog die Agnes vom Stuhl und drückte sie gegen die Wand. „Wennst das noch einmal sagst, dann bring ich dich um. Ich schwör’s bei Gott: Dann bring ich dich um.“

Er stürmte aus der Tür. Grad zum Fleiß würde er seinen Mietern aufs Dach steigen. In seinem Herbergshaus droben in Haidhausen. Vor allem der Elsbeth, deren Mietzins längst fällig war.

In ihrer zugigen Kammer warf Elsbeth die durchgeschwitzte Bettdecke zurück und würgte grünen Schleim in ein Tuch. Sie wickelte zwei Chinintabletten aus gilbigem Papier und zwang sie mit einem Glas Wasser hinunter. Erschöpft lehnte sie sich ins Kissen zurück und schloss die Augen.

Ihr Emeran fehlte ihr. In der Lehmgrube hatte er gearbeitet, bei Wind und Wetter Ziegel hergestellt. Der Lohn war knapp gewesen. Aber für ein warmes Essen am Tag hatte es gereicht. Bis die Itaker kamen. In Hundertschaften waren sie angerückt. Hatten ihre Schubkarren, Hacken und Schaufeln über die Alpen gebracht, im Akkord gearbeitet, für halb so viel Lohn wie die Einheimischen. Die konnten nicht mehr mithalten, mussten sich eine andere Arbeit suchen, wenn ihre Kinder nicht verhungern sollten. Ihr Emeran hatte ausgehalten. Bis ihn das Fieber erwischte. Und dann die tödliche Lungenentzündung.

Mit klopfendem Herzen horchte sie auf die Schritte im Treppenhaus. Die Tür flog auf. „Elsbeth, meinen Mietzins will ich.“ Drohend, die Daumen in die Ärmellöcher seiner Weste gehakt, stand der Kramer vor ihr.

„Nächste Woche zahl ich ganz bestimmt. Wenn ich wieder auf Arbeit bin.“

„Ich wart nicht ewig auf mein Geld. Drei Tag lass ich dir noch. Wennst dann nicht zahlst, fliegst raus. Warten genug andre auf das Zimmer.“

„Aber, wenn ich doch krank bin.“

„Meinst, ich hab die Spendierhosen an? Drei Tag und keinen Tag länger.“ Schon war der Kramer draußen bei der Tür und donnerte die Treppe hinunter.

Draußen schaute er, von dem vermatschten Weg aus, hinauf zum Haus. Der Anstrich großflächig abgeblättert, lehnte es windschief am Nachbarhaus. Sah auch nicht besser aus als die anderen armseligen Behausungen. Aber Geld brachten die Zimmer. Wenn man schlau war und wie er Spezln im Magistrat hatte. Dann konnte man sie umgehen, die Verordnung gegen die Wohnungsnot, die es Arbeitern erlaubte, für wenig Geld ein Zimmer in einem Herbergshaus zu kaufen. Konnte Zimmer erwerben und sie teuer vermieten. Er feixte. So marod, wie die Elsbeth ausschaute, würde sie nie und nimmer zahlen, schon gar nicht bis in drei Tag. Und wenn er sie draußen hatte, würde er statt einem Bett drei Betten hineinstellen in die Kammer. Würden sich schnell Aftermieter finden. Wo so viele ein Dach über dem Kopf suchten.

Elsbeth in ihrer Kammer atmete schwer. Mühsam stand sie auf und betrachtete sich im Spiegel über dem Waschtisch. Ihre grünen Augen blickten ihr matt entgegen, ihre vollen Lippen hatten jede Farbe verloren. Sie band ihr Haar zusammen, wechselte das durchgeschwitzte Hemd gegen eine frische Bluse und machte die Rollgerste3, die seit gestern auf dem Herd stand, noch einmal warm. Löffelte lustlos den faden Brei. Gesund musste sie werden. Sonst war sie weg, die Stelle bei der Frau Magistratsrat, bei der sie jede Woche einen halben Gulden bekam fürs Putzen, Waschen und Bügeln. Und bei der sie, wenn Besuch kam, sogar in der Küch helfen durfte. Beim Gedanken an den Kalbsrollbraten, die sauren Nierchen, an die fein geschabten Butterspatzen brachte sie die Rollgerste nicht mehr hinunter.

Es klopfte. Marei, die Bedienung vom Schleibingerbräu trat ein und blickte die Elsbeth prüfend an. „Schlecht schaust aus.“

„Was Gscheits zum Essen bräucht ich. So komm ich nie auf die Füß.“

Marei strich Elsbeth übers Haar. „Komm doch runter zu uns. Ich hab was aus der Wirtschaft mitgebracht.“

Elsbeth schlurfte hinter der Marei die ausgetretene Stiege hinunter. Kam kaum hinein in die Kammer, in der die Marei mit noch drei Bedienungen hauste. Die Kleider hingen an rostigen Haken, für einen Tisch oder Stuhl war kein Platz. Die Bedienungen saßen auf den Betten, hielten die Teller fest auf den Knien.

Elsbeth setzte sich zu ihnen, verschlang gierig das Wammerl, das sie ihr hinschoben. „Grad war der Kramer bei mir.“

Zornig stieß die Marei hervor: „Bei uns war er auch, der Sauhund. Will nächste Woche noch drei Bedienungen bei uns einquartieren. Sagt, es könnten leicht zwei in einem Bett schlafen.“

Elsbeth schleckte das Messer ab. „Wissts, von was ich träum? Von einem Klo im Stiegenhaus. Damit ich mich nicht immer so fürcht, wenn ich nachts raus muss in den stinkigen Verschlag.“

„Schauts die Elsbeth an“, kicherte die Marei. „Willst vielleicht auch noch ein fließendes Wasser wie in den feinen Häusern?“

„Mir tät’s schon reichen, wenn der Brunnen nicht so weit weg wär.“

Marei zog die Plane vom Fenster und ließ frische Luft herein. „Wissts was? Der Baurat Gruber ist Stammgast bei uns. Den frag ich. Vielleicht weiß der eine Wohnung für uns.“