Czytaj książkę: «Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934»
BETTINA HOERLIN
COURAGE
Im Schatten des Nanga Parbat 1934
Die wahre Geschichte des Bergsteigers Hermann Hoerlin
und einer lebensgefährlichen Liebe
Ins Deutsche übersetzt und bearbeitet
von Jochen Hemmleb
Die Drucklegung dieses Werkes wurde unterstützt durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich.
Zukunfts Fonds
der Republik Österreich
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
2014
© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung: Tyrolia-Verlag unter Verwendung
eines Bildes aus dem Archiv von Bettina Hoerlin
Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag
Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal
ISBN 978-3-7022-3336-5 (gedrucktes Buch) ISBN 978-3-7022-3361-7 (E-Book) E-Mail: buchverlag@tyrolia.at Internet: www.tyrolia-verlag.at
INHALT
Einführung: Briefe aus der Vergangenheit
TEIL 1: DEUTSCHLAND
1Die 54 Stufen
2Der Thron der Götter
3In den Fußstapfen von Humboldt
4Wo Bücher verbrannt werden
5Schicksalsberg
6„Liebe Käthe …“
7Die zwischen Wölfen tanzen
8„Wo gehöre ich hin?“
9Ein sonnenloses Jahr
10Ausreise
11Zusammen und doch getrennt
12Unter den Schwingen des Adlers
TEIL 2: AMERIKA
13Der einzig wirkliche Amerikaner
14Metamorphose
15„Oh, das ist lange her“
16Heimat
Dank
Anmerkungen
Ausgewählte Literatur
Abbildungsverzeichnis
Für meine Kinder Noah, Jason, Kristine und Steven, die Oma und Opa kannten, und für meine Enkel und Enkelinnen, die sie nun auch kennen werden
EINFÜHRUNG: BRIEFE AUS DER VERGANGENHEIT
Die einzige greifbare Geschichte, die zurückgewonnen werden kann, ist die aus persönlichen Erlebnissen. Saul Friedlander: Nazi Germany and the Jews
(NAZIDEUTSCHLAND UND DIE JUDEN)
Der kleine Lederkoffer mit den Initialen meines Vaters, H. W. H., hatte schon etliche Jahre im Keller gestanden. Er war ein Teil des dort verborgenen Mischmaschs von Sachen, die teils vergessen, teils ignoriert waren, von denen man sich aber noch nicht trennen wollte. Die Ansammlung war nach dem Tod meiner Eltern gewachsen, als ich allerhand Dinge erbte – darunter auch den Koffer. Ob es an meiner mangelnden Neugierde lag oder – was wahrscheinlicher ist – an der Schnelligkeit und den Anforderungen des Alltags, jedenfalls blieb er ungeöffnet. Aber eines Tages, vielleicht an einem Regentag, lockte er mich. Im Koffer waren über 400 Briefe, die meine Mutter im Vorkriegsdeutschland zwischen 1934 und 1938 an meinen Vater geschrieben hatte. Sie waren sorgfältig gebündelt und mit verblasstem blauem Band zu Päckchen von jeweils einem halben Jahr zusammengebunden. Er hatte sie alle aufgehoben, und ich fragte mich, ob er sich überhaupt an sie erinnert hatte. Niemand in der Familie wusste von den Briefen. Mein Vater war vor meiner Mutter gestorben, aber sie selbst hatte solche Briefe niemals erwähnt. Ich denke, auch sie hatte sie längst vergessen.
Es dauerte zwei weitere Jahre, bevor ich die Briefe las. Dies lag zum Teil daran, dass sie in Sütterlin geschrieben waren, einer preußischen Schriftart, die in Deutschland bis in die 1940er-Jahre verwendet wurde. In der Vorkriegszeit war es die Standardschrift, die an den Schulen gelehrt wurde. Anfangs verzweifelte ich an der kunstvollen Zierschrift, aber mit der Zeit meisterte ich sie – und frischte gleichzeitig mein Deutsch auf. Inzwischen hatte ich mehr als nur ein beiläufiges Interesse an den unbekannten Seiten meiner Herkunft und beschloss, noch tiefer in die Kisten in unserem Keller vorzudringen. Und ich fand einen weiteren Schatz: über 100 Briefe, die mein Vater in dieser Zeit, 1934 bis 1938, an meine Mutter geschrieben hatte. Zusammen mit den 400 Briefen meiner Mutter konnte ich daraus eine bewegende Liebesgeschichte rekonstruieren, die sich in Nazideutschland während einer der schrecklichsten Epochen der Weltgeschichte entwickelt hatte.
Als ich begann, die Briefe zu lesen, war ich von ihnen gebannt. Briefe waren damals ein bedeutendes Kommunikationsmittel und lieferten einzigartige Einblicke in die Zeit und die Zeugen dieser Zeit. Vor allem öffneten sie mir einen neuen Blick auf meine Mutter und meinen Vater, die kaum über ihre jeweilige Vergangenheit gesprochen hatten. Vor mir lag eine unredigierte Fassung einer Romanze zwischen zwei Menschen, die ich immer mit den Augen eines Kindes betrachtet hatte: Ich wusste, dass meine Eltern bemerkenswerte Menschen waren (aber nicht, wie bemerkenswert); ich wusste, dass sie in ihrem Leben viele Hürden überwunden hatten (aber nicht, wie viele); und ich wusste, dass sie sich geliebt hatten (aber nicht, wie sehr). In Bezug auf die eigenen Eltern gibt es immer das „Andere“ – jene Dinge, die dich von ihnen unterscheiden, eine Kluft zwischen den Generationen und den Blickwinkeln. Die Briefe warfen mich direkt hinein in ihre Beziehung – ihre Leidenschaft und Aufregung – und bald auch ihre Missachtung der Diktate des Nationalsozialismus.
Die Stimmen meines Vaters und meiner Mutter zu „hören“, ihre gegenseitige Liebe zu fühlen und ihren Mut in einer Zeit gewaltiger Umwälzungen zu spüren, war der Hauptantrieb zu diesem Buch. Neben der Schatztruhe von Briefen fand ich bei ausgedehnten Recherchen bislang unveröffentlichtes Archivmaterial, welches es mir erlaubte, ihre persönliche Geschichte in einen geschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Die persönliche Geschichte meiner Eltern spielte sich in einem der bedeutendsten Abschnitte des 20. Jahrhunderts ab: dem Aufstieg des Dritten Reichs, den Erfahrungen der Auswanderer nach Amerika und der anhaltenden Bedrohung des Atomzeitalters.
Meine Eltern hatten sich durch einen Berg kennengelernt – einen der höchsten Berge der Welt. Keiner von ihnen war jedoch an seinen eisigen Flanken, als dort zehn Bergsteiger starben. Die deutsche Himalaya-Expedition von 1934 hatte etwas versucht, was bis dahin noch niemandem gelungen war: die Besteigung eines Achttausenders. Siegessicher nutzte Hitler die Expedition als Gelegenheit, die Überlegenheit der arischen Rasse und die internationale Vormachtstellung Deutschlands zu proklamieren. Stattdessen setzte die Expedition einen anderen Markstein: die bis dahin größte Bergsteigertragödie. Mein Vater hatte es abgelehnt, sich dieser Gruppe von Elitebergsteigern anzuschließen. Er war in Deutschland geblieben, um seine Doktorarbeit fertigzustellen. Hätte er zugestimmt, wäre er möglicherweise unter den Opfern gewesen und hätte meine Mutter niemals getroffen, welche die Pressearbeit für die Expedition übernommen hatte. Damit sie die grausamen Details aufarbeiten konnte, stellte ihr der Deutsche Alpenverein einen erfahrenen Bergsteiger zur Seite – meinen Vater, Hermann Hoerlin.
Hermann Wilhelm Hoerlin hatte während des heroischen Zeitalters des Alpinismus in den 1920er- und 1930er-Jahren mehrere Weltrekorde gehalten – einer Ära, in der wissenschaftliche Unternehmungen und Forschungsreisen mit dramatischen Bergbesteigungen verbunden wurden und in der die großen Nordwände der Alpen erstmals durchstiegen wurden.1 Eines Morgens, nachdem ich mich mehrere Tage in die Geschichte der Internationalen Himalaya-Expedition von 1930 vertieft hatte, murrte ich beim Frühstück zu meinem geduldigen Ehemann: „Heute muss ich meinen Vater auf den Gipfel bringen.“ „Vergiss nicht, ihn wieder runterzubringen“, meinte er mit einem Lachen.
An diesem Tag bewältigte mein Vater den Auf- und Abstieg von einem Gipfel im Himalaya, der damals der höchste Berg war, den Menschen bestiegen hatten. Das Ereignis hatte 80 Jahre vor unserem Frühstücksgespräch stattgefunden. Als er diesen Höhenrekord aufstellte, wurde mein Vater zum Aushängeschild für arische Ideale. Er war der perfekte Prototyp: blond, groß, gut aussehend. Bergsteiger wurden damals verehrt und gefeiert. In Deutschland war die Öffentlichkeit wohl ähnlich fasziniert vom Bergsteigen wie jene im heutigen Amerika von Raumfahrt und Baseball. Mein Vater war ein teutonischer Held.
Der Versuch, den Charakter meiner Mutter zu erfassen, war eine weitere Herausforderung. „Sie nimmt mich schon wieder in Beschlag“, beklagte ich mich gegenüber einem guten Freund. Meine Mutter, Käthe Tietz, hatte den Hang, einen ganzen Raum zu dominieren; ich war nicht gerade erfreut darüber, dass sie nun auch drohte, das Buch zu dominieren. Als eine charismatische Schönheit übte sie eine geradezu unheimliche Anziehungskraft auf die Menschen aus. Mit ihrer koketten und lebendigen Art wickelte sie sie leicht um den Finger. Zu ihren Freunden zählte die kulturelle und wirtschaftliche Elite Deutschlands, die Vertreter einer Epoche enormer intellektueller und kreativer Energie – trotz wirtschaftlicher Probleme. Diese endete auf traurige und schreckliche Weise mit dem Aufstieg Hitlers. Das Leben meiner Mutter änderte sich unwiderruflich, als ihr erster Mann, Willi Schmid, am 30. Juni 1934 in der berüchtigten „Nacht der langen Messer“2 von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Mindestens 90 Menschen, angebliche Staatsfeinde, wurden vor Exekutionskommandos gestellt und standrechtlich erschossen. Die Rechtsstaatlichkeit Deutschlands war vorüber, ersetzt durch ein Terrorregime. Dass die Nationalsozialisten zugaben, Schmids Tod sei ein „Fehler“ gewesen,3 war für Käthe und ihre drei Kinder kaum ein Trost.
Meine Eltern waren ein ungleiches Liebespaar. Sie lebten in verschiedenen Welten. Mein Vater in einer der Wissenschaft und des Bergsteigens, meine Mutter in einer der Musik und Literatur. Hoerlin und Käthe lebten beide in einem Land, an dem sie sehr hingen, das aber zusehends unter dem Absatz des Faschismus zerbrach. So bekämpften beide den Nationalsozialismus auf ihre Art. Er stellte sich gegen die Nazifizierung von Wissenschaft und Bergsteigen und redete beständig gegen die politische Einmischung an. Sie traf sich unzählige Male mit den Mitgliedern von Hitlers Kabinett und anderen hochrangigen Nationalsozialisten in Berlin, um von genau jenen Funktionären Vergeltung für den ungesetzlichen Tod ihres Mannes zu fordern, die für seine Ermordung verantwortlich waren und später den Holocaust vorbereiten sollten.
Während sie ihre jeweiligen Kämpfe führten, verband Käthe und Hoerlin ihre Entschlossenheit, zu heiraten und ihre Heimat zu verlassen. Ihnen stellten sich gewaltige Hindernisse entgegen, darunter vor allem ein Geheimnis, welches sie zeitlebens für sich behielten. 1938 schafften sie es schließlich, nach Amerika zu fliehen. Es war ein vergleichbar sicherer Hafen, der aber mit seinen eigenen Herausforderungen aufwartete. Emigranten, selbst ein begabter Physiker wie mein Vater, waren nicht notwendigerweise willkommen in einem Land, das mit seiner eigenen wirtschaftlichen Sicherheit und schließlich auch mit dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg zu kämpfen hatte. Der Status meiner Eltern als „Bindestrich-Amerikaner“ – in ihrem Fall Deutsch-Amerikaner – war während des Kriegs Quelle von schmerzlichen Verdächtigungen und Vorurteilen. Man sah meinen Vater als „feindlichen Ausländer“ an und beschlagnahmte sein Vermögen, auch seine Arbeitsstelle war gefährdet. Nur durch eine Verbindung zur Präsidentengattin Eleanor Roosevelt kehrte das Leben für meine Eltern zur Normalität zurück.
Als der Frieden ausgerufen wurde, mussten sie sich den Tragödien in ihrer früheren Heimat stellen und gleichzeitig ein neues Leben aufbauen. Wie in Deutschland kultivierten sie eine faszinierende Gruppe von Freunden: Schriftsteller, Künstler, Musiker und Wissenschaftler. 1953 brachen sie ihre Zelte in der Provinz New York ab und zogen an einen frostig-futuristischen Ort: „Atomic City“ Los Alamos in New Mexico, den Geburtsort der Atombombe. Nun war der Ort tief verwickelt in das Wettrüsten des Kalten Kriegs. In dieser angespannten Zeit, unter ständiger Bedrohung durch einen Atomkrieg, konzentrierte sich die Arbeit meines Vaters auf Techniken zur Erkennung von Atomtests in der oberen Atmosphäre. Es war ein Wegbereiter für das erste internationale Abkommen zur Waffenkontrolle. Seine Aussage zu dem Thema vor dem Kongress im Jahr 1962 war dabei überzeugend und ein Wendepunkt.
Der Bogen der Liebesgeschichte meiner Eltern reicht von einer Zeit, in der ein Diktator alle Juden auslöschen wollte, bis zu einer Zeit, in der Massenvernichtungswaffen die gesamte Menschheit auszulöschen drohten. Mit dem Erzählen dieser Geschichte habe ich die Entscheidungen beschrieben, die in einem Umfeld gefällt wurden, das zu oft zwischen Angst und Chaos wechselte. Und ich habe die Personen beschrieben, die diese Entscheidungen fällten. Wie weit dieses Umfeld die Menschen prägte, ist schwer vorstellbar. Einmal sagte ich jemandem im Vertrauen, ich fände eine bestimmte Person langweilig, weil sie „keine Ecken und Kanten“ hätte. Die Personen in diesem Buch haben Ecken und Kanten, und Ecken hinter den Ecken. Manche davon sind attraktiv, andere weniger. Eine „Ecke“ meiner Eltern war ein Geheimnis, das sie jahrelang hüteten und das ich als Teenager entdeckte. Eine andere „Ecke“ war ihr anhaltender Mut. An seinem 80. Geburtstag erzählte mein Vater im Kreis seiner Kinder und Enkel, eine der entscheidenden Qualitäten im Leben sei Mut. Er und meine Mutter hatten ihn in Hülle und Fülle. Als ihre Tochter bin ich ihnen ewig dankbar dafür.
TEIL I: DEUTSCHLAND
KAPITEL 1: DIE 54 STUFEN
Es sind 54 Stufen, die zur St. Michaelskirche in Schwäbisch Hall hinaufführen. Seit 1507 sind die Kinder dieser klassischen mittelalterlichen Stadt die Stufen hinauf- und hinuntergerannt – trotz der obligatorischen elterlichen Warnungen: „Vorsicht!“ Der Wettlauf, wer als Erster oben ankommt, hat alle Zeiten überdauert. Es dürfte nicht vor 1908 gewesen sein, dass mein damals fünf Jahre alter Vater genügend kräftige Beine hatte, um richtig an diesem Ritual teilzunehmen. Aber ich habe keine Zweifel, dass er von dieser Zeit an seine Altersgenossen mit Können und Schnelligkeit auf dem Auf- wie auch dem Abstieg führte. Man könnte es als den ersten seiner vielen Gipfelerfolge bezeichnen.
Die Stufen laden geradezu dazu ein, gezählt und bestiegen zu werden. Sie locken jeden, der sie zum ersten Mal besucht – so auch mich, als ich 13 war. Mein Vater hatte mich nach Deutschland mitgenommen, damit ich zum ersten Mal meine Großmutter traf. Mit 78 Jahren führte sie mich langsam die einladende Treppe hinauf und erreichte die letzte Stufe mit feuchten Augen, aber einem triumphierenden Lächeln.
Fast 20 Jahre später, nachdem ich die Mutter zweier Kinder eines Witwers geworden war, beobachtete ich die beiden Sieben- und Zehnjährigen dabei, wie sie aufgeregt die Stufen hinauf- und hinabhüpften. Um einen leidenschaftlichen Geschwisterstreit zu schlichten, gingen sie anschließend langsam, Hand in Hand, die Stufen hinauf und zählten laut jede einzelne. Eines der beiden Kinder – ich weiß nicht mehr, welches – hatte Recht: Es waren 54. Als ich sie begleitete, wussten sie nicht (und ich ahnte es nur), dass ein kleiner Bruder, mein erstes Kind, auf seine eigene Weise an dem Wettbewerb teilnahm: Er bestieg alle Stufen sicher behütet in Mutters Bauch. Mehr als 30 Jahre später war dieses Stück „Gipfelpolitik“ für alle meine vier Kinder4 vollendet, als der Jüngste mit seiner Verlobten die Stufen hinaufstieg.
Am gleichen Abend sprachen sie mit einem älteren Bewohner von Schwäbisch Hall und fragten ihn, ob er zufällig vom Großvater meines Sohnes gehört hätte. Der Mann antwortete: „Ja, Hermann Hoerlin, ja.“ Er hielt inne … und sagte dann: „Er war ein Sportsmann.“ Der Ruf meines Vaters als ehemaliger Rekordhalter mit Erstbesteigungen auf drei Kontinenten, Europa, Asien und Südamerika, lebte noch immer fort.
Die strahlenden Erzählungen meines Sohns von der Schönheit der Stadt inspirierten mich und meinen Mann, Schwäbisch Hall 2005 zu unserem Reiseziel zu machen. Schwäbisch Hall liegt an den Ufern eines sich sanft dahinschlängelnden Flusses, der von zahlreichen mit Holzschindeln verkleideten Brücken überquert wird. Betritt man die Stadt, fühlt man sich wie auf einem Spaziergang durch die Zeit. Die Architekturstile wechseln harmonisch, es gibt enge Gassen mit Kopfsteinpflaster, mächtige Stadtmauern und eindrucksvolle Wachtürme. Doch der Höhepunkt sind die berühmten Stufen. Als wir sie ehrfurchtsvoll hinaufstiegen, erhaschten wir einen Blick auf die Hügel der Schwäbischen Alb, eine perfekte Wanderregion und für Geneigte ein herausforderndes Felskletterziel mit bis zu 150 Meter hohen Wänden. Mein Vater war einer dieser Geneigten gewesen, und wie andere aufstrebende Bergsteiger nutzte er die Schwäbische Alb als Trainingsplatz für anspruchsvollere Touren.
Die große, 60 Meter breite Treppe, die vom Marktplatz von Schwäbisch Hall zur römisch-gotischen Kirche leitet. Aufnahme aus dem Jahr 1937
Nicht weit von der Kirche liegt das barocke Rathaus der Stadt, in dem die Geburt meines Vaters am 5. Juli 1903 registriert ist. Als ich das vergilbte Dokument mit der Unterschrift seiner Eltern in den Händen hielt, bemerkte ich, dass Adolf und Maria über einen Monat gebraucht hatten, den Namen ihres Sohnes eintragen zu lassen: Hermann Julius Wilhelm Hoerlin. Diese Verzögerung und seine vielen Vornamen deuteten vielleicht schon an, wie viele verschiedene Namen mein Vater in den Folgejahren bekommen sollte. Obwohl er unter seinen Freunden und später unter seinen Kollegen als „Hermann“ bekannt war (das zweite „n“ strich er später als Zugeständnis an seine neue Heimat Amerika), nannten ihn seine Bergpartner „Pallas“. Seine tapferen, wagemutigen Besteigungen weckten Vergleiche mit dem Titan aus der griechischen Mythologie – dem Gott von Sieg, Kampf, Stärke und Kraft. Und der Name Pallas leitete sich von „pallo“ ab, „(mit einem Speer) drohen“. Wenn man den Speer durch einen Eispickel ersetzte, war das Bild in den Augen der Freunde passend. Meine Mutter, die kein Mitglied der Bergsteigergilde war und deshalb den Namen „Pallas“ nicht benutzen durfte, mochte niemals den Namen Hermann (oder Herman). Sie kreierte ihren eigenen Namen für ihn, indem sie ihn einfach Hoerlin nannte. Für mich war er jahrelang „Vater“, doch das wandelte sich irgendwann zu „Papa“.
Eine mittelalterliche Straße in Schwäbisch Hall mit einem der vielen Türme
Der kleine „Hermännle“, wie ihn seine Mutter nannte – oder „Maxile“, wie ihn seine Schwester Liesel unerklärlicherweise getauft hatte – wuchs in einem behüteten bürgerlichen Umfeld auf. Die Familie wohnte über dem Laden, der seit Generationen den Hoerlins gehörte: „Wilhelm Hoerlin Glas, Porzellan, Haus- und Küchengeräte“, der sich auf Hochzeitsgeschenke spezialisiert hatte. Sein Vater Adolf war ein erfolgreicher Geschäftsmann, dessen markante Gesichtszüge durch ein ständiges freundliches Augenzwinkern gemildert wurden. Seine fromme Mutter hatte einen eher reservierten und ernsten Ausdruck; täglich las sie die Bibel und betete.
Hermann Julius Wilhelm Hoerlin im Alter von drei Jahren
Maria und Adolf Hoerlin 1899
Seine fünf Jahre jüngere Schwester war eine schmächtige, liebenswürdige Person, blass und sanft. Alle gemeinsam waren sie eine angesehene Familie, anständige Bürger, die am Stadtleben teilnahmen und Anhänger der Luthers waren. Mutter und Tochter waren deutlich gläubiger als Vater und Sohn, die keine regelmäßigen Kirchgänger waren. Das Leben war im Allgemeinen wohlgeordnet, obwohl mein Vater bereits in jungen Jahren einen schelmischen Zug hatte. Während des Ersten Weltkriegs läuteten er und seine Freunde heimlich die Kirchenglocken – damals die öffentliche Mitteilung eines Siegs deutscher Truppen. Früh wurden sie deshalb der Schule verwiesen. Mit Fortdauer des Kriegs läuteten die Glocken immer seltener, aus dem einen wie auch aus dem anderen Grund.
Die Einwohner der Stadt hielten es für garantiert, dass Hermann in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Doch Adolf Hoerlin hatte andere Vorstellungen. Ihre Vorfahren waren hauptsächlich Bauern und Handwerker gewesen. So wollte er für seinen einzigen Sohn eine Universitätsausbildung und die Gelegenheit, die Welt zu bereisen. Er bedauerte, dass er selbst niemals gereist war und andere Kulturen kennengelernt hatte. Adolf hatte ein eher vorhersehbares Leben geführt: Er leitete den Familienbetrieb, heiratete ein Mädchen aus einem Nachbarort5, war ein guter Vater und ein aufrechter Bürger. Es war ein verdienstvolles Leben, aber kein aufregendes. Für seinen Sohn wollte er mehr. Er teilte diesen Wunsch offen mit, so dass der Weg für Hermann bereitet war, hinauszugehen und relativ unbekannte Gegenden zu erforschen. Wie mein Vater schrieb: „Wer hat aber nicht den Wunsch, unbetretene Pfade zu gehen?“6 Weder mein Vater und erst recht nicht sein eigener Vater konnten vorhersehen, wie weit weg diese Pfade führen würden.
Seine Reise von zuhause begann 1922, als er sich im nahen Technischen Institut von Stuttgart einschrieb, wo er sich mehr durch seinen Enthusiasmus für Klettern und Skifahren als durch seine akademischen Leistungen hervortat. Er trat zahlreichen Sportvereinen bei7 – und angesichts der Anzahl seiner Klettereien, die in ihren Jahresberichten aufgelistet wurden, ist schwer vorstellbar, wann er überhaupt Zeit zum Studieren hatte, geschweige denn für das Hauptfach Physik. Die Stimmung in den Vereinen ermutigte zu extremen sportlichen Abenteuern, Partys und Trinkgelagen. Kameradschaften wurden in Schnee und Fels geschlossen, während Winter- und Sommertouren und/oder auf Skitouren in den Alpen. Obwohl Frauen bisweilen an den Exkursionen teilnahmen und sogar offiziell Mitglieder in den Vereinen waren, nahm Hoerlin die generelle Atmosphäre als „… frauenfeindlich“8 wahr. Im Vordergrund standen männliche Kühnheit und Leistung. Da sie als Bastionen der jungen deutschen Männer angesehen wurden, wurden die Vereine später, nach Machtübernahme der Nationalsozialisten, fruchtbarer Boden für die Förderung arischer Ideale – sehr zum Missfallen meines Vaters. Mit politischer Rhetorik spornte man die aufstrebenden Idole dazu an, auf Berggipfeln Ruhm und Ehre für das Vaterland zu erringen. Das Ziel wurde, aus Liebe zur Heimat bergzusteigen – was später tragische Folgen nach sich ziehen sollte.
In den 1920er-Jahren jedoch war die Bergsteigerkommune noch relativ unschuldig, klein, unaufdringlich und freundlich. Das Bergsteigen war noch relativ neu und erst dabei, ein „Sport“ und damit populär wie auch international zu werden. Junge Alpinisten aus ganz Europa und Großbritannien suchten immer größere Schwierigkeiten, indem sie neue Routen oder unbestiegene Gipfel erschlossen. Mein Vater war einer von ihnen. Ihn erregte der Lohn des Gipfelerlebnisses und er schätzte es, eins mit der Natur zu sein. Bis 1926 hatte er zahlreiche Besteigungen in den österreichischen, Schweizer und italienischen Alpen durchgeführt, insgesamt etwa 20 Gipfel. Allein 1927 stand er auf 30 weiteren.9 Es war eine vielversprechende Bilanz, welche die Aufmerksamkeit anderer Bergsteiger auf sich zog – denn sie wussten, dass es dazu großer Sportlichkeit, Ausdauer und nicht zuletzt eines guten Einschätzungsvermögens bedurfte.
Auf einer seiner Touren traf Hoerlin einen wilden Österreicher namens Erwin Schneider, der zu seinem engsten und häufigsten Kletterpartner werden sollte. Beide teilten eine natürliche Begabung für das Bergsteigen und ähnliche Ambitionen. Stets suchten sie neue Herausforderungen. Während Sommerbesteigungen in den Alpen allmählich alltäglich wurden, waren Winterbesteigungen – welche skifahrerisches Können mit Kletterkönnen in Fels und Eis vereinigten – selten. Hoerlin und Schneider richteten ihr Augenmerk auf den Mont Blanc und seine umliegenden Berge, unbeeindruckt von seinem Ruf als höchster Berg der Alpen.
Einer Burg aus Schnee und Eis gleich, überragt das gewaltige Massiv majestätisch Frankreich, Italien und die Schweiz. Der erstmals 1786 bestiegene Gipfel fußt in tiefen Tälern und türmt sich aus weiten, offenen Almwiesen zu gigantischen Gletschern, Fels- und Eispfeilern und langen Graten auf, die zu seinem imponierenden Eisdom hinaufführen. Steile Felsnadeln (Aiguilles) durchbrechen die Konturen des Berges und sind meist schwieriger zu besteigen als der eigentliche Gipfel. Die beiden Kletterpartner beschlossen, dass Winterbesteigungen dieser spitzen Türme ein großes Abenteuer versprachen – und vielleicht auch mit etwas Glück eine größere Anerkennung ihrer Talente. Es war ein großer Schritt, ging über ihre anderen Besteigungen hinaus und bot eine willkommene Chance, ihre Grenzen auszutesten. Wie sich mein Vater in einer Bergzeitschrift ausdrückte: „Bei Winterbesteigungen finden Bergsteiger eine Einsamkeit, wie wir sie im Sommer vergeblich suchen. Der steile Wechsel von Eis und Fels in der winterlichen Landschaft des Mont Blanc ist einzigartig.“ Und er beschrieb weiter den besonderen Reiz von Winterbesteigungen: „Die im Sommer gefahrlosen tieferen Regionen bedrohen Lawinen, der Fels ist verschneit und vereist, der Wind hat die Firngrate blankgeweht und die Tage sind kurz und kalt; kurzum die Schwierigkeiten größer und vielseitiger.“10
Erwin Schneider, © Historisches Alpenarchiv des DAV, München
Hoerlin und Schneider waren ein seltsames Paar. Schneider war einen Kopf kleiner als mein Vater, hatte dichtes – und für die Zeit langes – schwarzes Haar, das ihm regelmäßig in sein faltiges Gesicht fiel. Der zottelhaarige Tiroler war ein überschwänglicher, ausgelassener Charakter, der ständig Witze riss. Mein Vater teilte mit ihm eine gewisse Aufmüpfigkeit, aber sie war bei ihm deutlich subtiler und kontrollierter. Pallas war ruhig und nachdenklich, stets adrett und von einer natürlichen Eleganz. In Eis, Schnee und Fels verschwand ihre Ungleichheit jedoch und sie bildeten eine schlagkräftige Seilschaft.
Um ihre Klettereien zu planen, studierten die beiden immer wieder eine großformatige (60 x 100 cm) Landkarte, die damals ein Klassiker war: die Carte Albert Barby „La Chaine du Mont Blanc“. Die Karte lässt sich leicht auf Taschenformat zusammenfalten, ihr Papier ist auch heute noch immer fest und das Kartenbild von beeindruckendem Detailreichtum.11 Wenn ich ihre glatte Oberfläche berühre, fühlt es sich an, als berühre ich die Haut meines Vaters. Bergsteigen war ihm tatsächlich in Fleisch und Blut übergegangen und spielte eine Schlüsselrolle bei der Formung seiner Persönlichkeit. Dies erkannte er selbst: „Diese Fahrten, bei denen man ganz auf sich selbst angewiesen ist, prägen sich am tiefsten unserem Gedächtnis ein.“12 Qualitäten wie Bescheidenheit, Ruhe, Integrität und Achtsamkeit waren allesamt ein zentraler Bestandteil seiner Persönlichkeit, am Berg wie auch im Tal.