Czytaj książkę: «Zephiros Tasche»
Inhalt
Kassim
Der Besuch
Vierzig Tage
Die zweite Karawane
An der Quelle
Von Süden nach Norden
Besra Ode (Autorin)
1970 im badischen Lörrach geboren, hat an der Universität Basel in Wirtschaftswissenschaften promoviert. Nach mehreren Auslandsaufenthalten, unter anderem in England, Island, Italien und der Mongolei, lebt sie heute in der Schweiz und arbeitet für verschiedene soziale Institutionen als Projektleiterin. Seit 2017 ist sie nebenberuflich als Erwachsenenbildnerin und als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache tätig.
Sonja Müller-Späth (Illustratorin)
wurde 1987 in Mainz geboren. Während ihrer Ausbildung zur Modedesignerin in Mannheim entdeckte sie ihre Liebe zur Illustration und setzte ihr Studium an der Münster School of Design mit dem Schwerpunkt Illustration fort. Heute arbeitet sie in Koblenz als freiberufliche Illustratorin. Auf dem Papier provoziert sie gerne unberechenbare Fehler und ist immer auf der Suche nach glücklichen Zufällen. Denn oft sind es diese kleinen Makel, die unsere Augen faszinieren und den Bildern ihren ganz eigenen Ausdruck verleihen.
Wenn du dich selbst
Und jemanden anderen
Als ein Wesen siehst,
Wenn du den freudigsten Tag
Und die schrecklichste Nacht
Als denselben Moment erkennst, dann
Ist das Bewusstsein
All-Eins.
Lallaji, indische Mystikerin aus dem 14. Jahrhundert
Kassim
Alle Menschen haben Geburtstag. Aber nicht allen Menschen ist dieser Tag gleich wichtig, dachte Kassim, als er aufwachte. Ein schmaler Sonnenstrahl fiel durch das kleine Fenster auf den Vorhang, der seine Schlafkammer von der Wohnküche trennte. Kassim beobachtete, wie der leuchtende, dünne Streifen langsam über den Stoff wanderte.
Für manche Menschen ist es nicht wichtig, ob sie Geschenke bekommen oder ob sie an diesem Tag etwas Besonderes sind und andere an sie denken, ging es ihm durch den Kopf. Babbo ist so ein Mensch. Babbo braucht fast nichts. Und das ist noch nicht alles, er denkt zuerst an die anderen und nicht an sich selbst.
Es war Kassims Geburtstag. Ein Tag, an dem er so lange schlafen durfte, wie er wollte, und das kam ihm an diesem Morgen besonders entgegen, denn er hatte die ganze Nacht Geschichten über Jago gelesen. Ob Jago seinen Geburtstag feierte? Kassim jedenfalls freute sich darüber, dass hinter dem Vorhang in der Küche ein Geschenk auf ihn wartete und dass es, wie jedes Jahr, am Abend sein Lieblingsessen geben würde. In dem Sommer, in dem er lesen lernte, hatte das Buch über Jago auf dem Esstischchen gelegen, er konnte sich noch gut daran erinnern.
»Ich warte noch ein bisschen, nur ein ganz kleines bisschen«, sagte er zu sich, verschränkte seine Arme unter dem Kopf und betrachtete die tanzenden Staubkörnchen im Sonnenstrahl. Durch das Fenster hörte er einen Schwarm Sperlinge, die draußen in den Büschen zeterten. Wäre mein Leben doch nur so aufregend wie das von Jago, dachte er.
Vor seinem inneren Auge stiegen wieder die Bilder der Geschichte des jungen Mannes auf, der seine Familie und die Bewohner des kleinen Dorfes, in dem sie alle lebten, vor einem bevorstehenden Steinschlag warnte und so rettete. Dann hatte er seine verwitwete Mutter und die jüngeren Geschwister über den hohen Gebirgspass in die Stadt geführt, wo sein Onkel wohnte. Es war ein langer, kräfteraubender Marsch mit vielen Gefahren. Sie mussten über steile Felsgrate steigen und tiefe Schluchten überwinden. Das Fleisch wilder Tiere, die sie erlegten, sicherte ihr Überleben. Die Menschen, denen sie unterwegs begegneten, waren nicht immer freundlich und forderten Jago heraus. Aber er meisterte jede Bewährungsprobe und am Ende, als die Familie in ihrem neuen Zuhause in der Stadt ankam, war Jago für alle ein Held.
Kassim setzte sich auf den Rand seines Bettes und hob das Buch über Jago auf, das neben dem Nachtkästchen auf dem Boden lag. Er schlug es nicht auf, sondern betrachtete den dunkelblauen Leineneinband, der schon ganz abgegriffen war. Wie so oft fragte er sich, ob er ebenso unerschrocken wie Jago wäre, wenn es darauf ankäme und ob auch er das Zeug zum Helden hatte. Würde er selbst irgendwann eine gute Geschichte über sein Leben zu erzählen haben? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber er hoffte es. Dann gab er sich einen Ruck, legte das Buch wieder zurück neben sein Bett, stand auf und zog den Vorhang zur Seite, so dass die Morgensonne ihre Strahlen in seine Schlafnische werfen konnte.
Auf dem runden, niedrigen Holztisch, der umringt von breiten Kelimkissen und zwei Hockern in der Mitte der Wohnküche stand, lag – wie erwartet – neben einem Milchkrug, Brot und Käse ein braunes Päckchen. Kassim ließ sich Zeit, trat zur Kommode an der Wand, holte eine alte Blechschüssel mit Wasser hervor und wusch sich das Gesicht. Dann setzte er sich auf eines der Kissen an das Tischchen, nahm das Geschenk und tastete es ab. Behutsam löste er das Papier. Zum Vorschein kam eine rehbraune Lederscheide, in der ein Messer steckte.
»Grundgütiger, Babbo!«, rief er laut. Er hätte in diesem Augenblick gerne seine Freude mit jemandem geteilt, aber sein Großvater hatte bereits zu früher Stunde das Haus verlassen. Er zog das Messer aus der Scheide und konnte kaum glauben, was er da in seinen Händen hielt. Die feine Klinge glänzte wie ein Spiegel und der schmale Griff war aus einem schwarzen Holz, das er nicht kannte. In aufwendigen Intarsien aus Perlmutt stand dort sein Name. »Kassim«, las er und strich voller Bewunderung mit dem Daumen darüber. Endlich ein richtiges Messer, das nur mir gehört, dachte er.
Er stand auf und ging zu seiner Jutetasche, die neben der Kommode an einem Eisenhaken hing.
»Und dich – dich brauche ich nun nicht mehr«, sagte er laut und fischte ein altes Klappmesser aus dem Beutel. »Aber ich danke dir für deine guten Dienste.«
Sein Großvater hatte es vor vielen Jahren aus dem Tontopf neben dem Herd gezogen, ihm gegeben und gesagt: »Vorerst musst du dich mit diesem Taschenmesser hier begnügen. Wenn du älter bist, wirst du dein ganz persönliches bekommen.« Vierzehn Jahre alt musste er dafür werden. Kassim hielt das kleine Messer nochmals für einen Moment fest in der Hand und betrachtete es, als würde er etwas ansehen, das längst vergangen war. Dann steckte er es zurück in den Tontopf zu den Kochlöffeln und schnallte sich seine neue Lederscheide an den Gürtel. Mit dem neuen Messer schnitt er eine Ecke vom Käse ab. Es lag gut in der Hand und war scharf. Er hatte nichts anderes erwartet. Dann nahm er seine Umhängetasche von der Wand, steckte eine Scheibe Brot ein und verließ pfeifend das Haus. Auf dem Weg zur kleinen Weide sah er in den Himmel. Das wolkenlose Blau zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht.
Die Ziegen drängten sich bereits ungeduldig am Gatter des Geheges. Nur Tebl, die alte Eselstute, stand abseits im Schatten der großen Kastanie und als sie Kassim bemerkte, trottete sie herbei. Das kleine Glöckchen, das sie am Hals trug, klingelte aufgeregt bei jedem ihrer Schritte. Ein Sarde hatte sie vor langer Zeit auf der Durchreise bei ihnen zurückgelassen.
»Ich komm schon«, rief Kassim ihr zu. »Gleich hast du deine Ruhe.«
Tebl war eine Einzelgängerin und bevorzugte die kleine Wiese am Haus ohne die Gesellschaft der Ziegen. Überhaupt war die sardische Eselrasse etwas Besonderes. Die Tiere waren zwar zierlich gebaut, aber tüchtig und zäh. Gleichzeitig waren sie hübsch anzusehen mit ihrem hellgrauen Fell und den großen, dunklen Augen. Er kraulte ihre Stirn und ihren Rücken, während er das Tor öffnete und seine neun Ziegen nach draußen sprangen. Dann marschierte er mit der kleinen Schar los.
Auf den nahen Berg führten unterschiedliche Pfade. Er wählte an diesem Morgen den Weg durch den Wald, der an den Bienenstöcken seines Großvaters vorbeiführte. Eine Weile wanderten sie im Schatten der Steineichen und Mandelbäume entlang des gelb blühenden Ginsters bergauf, bis sie auf eine ebene Lichtung kamen, an deren Ende eine Reihe Holunderbüsche wuchsen. Die bunten Bienenkästen waren trotz der herabhängenden, von Blütendolden schweren Zweige gut zu sehen.
Kassim setzte sich auf den Stamm eines umgestürzten Baumes, der am Rande der Lichtung lag. Er war vor langer Zeit von einem Unwetter entwurzelt worden. Moos bedeckte seine brüchige Rinde. Von dort schaute Kassim seinem Großvater zu, wie er die Holzkästen der Bienen öffnete und prüfte, ob die Brut gesund war und wie viel Honig sie gesammelt hatten. Die warme Luft duftete würzig-süß und war erfüllt vom Summen der emsigen Insekten.
Es würde eine gute Ernte werden, wie immer, da war sich Kassim sicher. Man musste nur den Bienen zuschauen. Sie sagten alles. Sie spüren es – genau wie wir Menschen.
Er beobachtete, wie die Arbeiterbienen den alten Mann ruhig umkreisten. Anstatt aufgeregt herumzuschwirren, wie man es erwarten würde, ließen sie den Großvater gewähren. Er benutzte keinen Rauch, um seinen Schwarm zu besänftigen, so wie es andere Imker taten. Die Bienen ließen ihn seine Arbeit verrichten, als gäbe es nichts Normaleres auf der Welt.
Babbo ist immer voller Frieden, dachte Kassim. Der Alte pflegte stets zu sagen, dass Gott die große Kraft in seinem Leben sei. Viele sprechen von Gott, aber er hat ihn gefunden, das weiß ich.
Der Großvater sprach mit anderen wenig über Gott und wenn doch, dann nur, wenn sie ihn darum baten oder um Rat ersuchten. Keinem drängte er seine Gedanken oder Erkenntnisse auf.
»Über Gott versuche ich nicht zu reden. Wenn jemand eine Frage an mich hat, soll er sie stellen und ich werde sie ehrlich beantworten. Und in meinem Fall bedeutet ehrlich, mich darauf zu berufen, was Gott mir eingibt. Mehr tue ich nicht«, hatte er einmal erklärt. »Was der andere mit meinen Worten macht, steht nicht in meiner Macht. Und es ist auch nicht meine Sorge.«
Während Kassim so dasaß, nahm er das neue Messer aus der Scheide und betrachtete seinen Namen darauf. Dann drehte er es langsam zwischen den Fingern und beobachtete, wie die Buchstaben verschwanden und der Griff schwarz und leer glänzte. Das brachte Kassim zum Grübeln:
»Um Gott zu begegnen, muss man ein Niemand mit leeren Händen werden«, sagt Babbo immer. Aber was bedeutet das? Wie kann ein Mensch ein Niemand sein? Selbst Babbo ist jemand, ich kenne niemanden, der angesehener ist. Alle schätzen ihn und seine Weisheit.
Die Stimme des Großvaters riss ihn aus den Gedanken: »Mein Junge!« Der alte Mann kam langsam mit einer großen, gelb schimmernden Wabenwand in der Hand auf ihn zu. »Und?« Er deutete auf das Messer. »Ist es so, wie du es dir gewünscht hast?«
»Viel besser, Babbo. Ein so schönes Messer habe ich nicht erwartet.« Er stand auf und umarmte ihn. »Ich danke dir! Ich bin mir sicher, Mehmet wird Augen machen, wenn ich es ihm zeige.«
Der Großvater schmunzelte, brach ein kleines Stück aus den Waben und gab es Kassim, der es schnell in den Mund steckte und begann, den Honig herauszusaugen.
»Mehmet wirst du mit deinem Messer leider nicht überraschen. Ich habe es letztes Jahr in Kadut erstanden und ihm gegeben, damit er deinen Namen hineinschnitzt«, erklärte der Alte.
»Natürlich! Wieso habe ich nicht gleich daran gedacht?«, entfuhr es Kassim. Mehmet, sein Freund, war ein begabter Schnitzer und konnte aus jedem beliebigen Stück Holz feinste Figürchen und Muster hervorzaubern.
»Gehst du heute zum Bach?«, wollte der Großvater wissen.
»Ja. Mehmet wird auch kommen.«
Daraufhin schnitt der alte Mann die Wabenwand in mehrere Teile und nahm aus einer Kiste bei den Bienenstöcken ein paar Weinblätter und ein Stück grobes Leinen. Zuerst wickelte er die tropfenden Wabenschnitze in die großen Blätter, dann verschnürte er sie mit dem Stoff zu einem Säckchen und reichte es seinem Enkel.
»Für dich und Mehmet«, sagte Babbo. »Gib acht, die Ziegen haben es eilig, du hast zu lange geschlafen!« Beide lachten, als sie sahen, dass die kleine Horde bereits alleine den Waldweg hinauftrottete.
»Das ist wegen Jago. Immer wenn ich seine Geschichte lese, finde ich kein Ende«, seufzte Kassim, sprang auf und rannte seinen ungeduldigen Ziegen nach. »Bis heute Abend«, rief er noch über die Schulter und sah das verständnisvolle Lächeln seines Großvaters.
Kassim kannte den Berg wie seine Westentasche und manchmal suchte er mit seinen Ziegen auch die abgelegensten Weideplätzchen auf. Am liebsten war er aber in der Nähe des Baches unterwegs. Kurz nachdem dieser einer Bergquelle entsprang und als funkelndes, schmales Band die Graslandschaft durchzog, befand sich eine Stelle, die eine besonders schöne Aussicht auf das weite Hochtal und das Dorf bot.
Vom Hunger der Weidetiere angetrieben kamen sie schnell voran und erreichten nach einer guten halben Stunde den Bergbach. An seinem Ufer stand eine knorrige, alte Kiefer, die den rauen Winden hier oben schon seit einer Ewigkeit trotzte. Vom Wind gebeugt, krümmten sich ihre kräftigen Äste fast bis zum Boden.
Die Ziegen sprangen auf der Suche nach den schmackhaftesten Kräutern über den Hang. Kassim legte sich unter den Baum, halb im Schatten, halb in der Sonne, und schaute in den tiefblauen Himmel. Er entdeckte einen Bussard und sah ihm zu, wie er sich vom Wind tragen ließ, als würde es nichts Leichteres auf der Welt geben. Ob es wohl für jeden Menschen eine Bestimmung gab? So wie für diesen Vogel, der wissen musste, dass er ein Bussard war, und deshalb auch wie einer lebte? Oder war es bei den Menschen komplizierter? Wie erkannte man, welche Aufgaben im Leben auf einen warteten und was zu tun war, um diese zu erfüllen? Er hätte das nur allzu gerne gewusst. Plötzlich stieß der Raubvogel einen spitzen Schrei aus und Kassim setzte sich auf, um zu beobachten, wie er seine Beute fing. Da sah er Mehmet mit einem Korb auf dem Rücken und einem Stock in der Hand den Hang hochsteigen. Sie winkten sich zu. Oben angekommen musste Mehmet erstmal tief durchatmen.
»Du schnaufst, als wärst du älter als diese Kiefer hier!«, neckte Kassim ihn. Sein Freund entledigte sich seiner Last und ließ sich lachend neben ihn auf das Gras fallen.
»Warum musst du deine Herde auch immer so weit hoch treiben? Was man nicht alles für seinen Freund tut.« Dann begann er den Korb auszupacken. »Zia hat für dich Mandelkuchen gebacken. Wenn wir später zum Tee kommen, gibt es noch mehr. Und das hier, das habe ich für dich gemacht. Alles Gute zum Geburtstag! Mögen all deine Wünsche wahr werden«, sagte er und hielt Kassim einen Gegenstand hin, der in hellen Baumwollstoff eingeschlagen war.
»Du schenkst mir noch etwas? Dabei hast du doch schon mein neues Messer verziert.«
»Gefällt es dir?«
»Was für eine Frage! Damit werde ich besser schnitzen als je zuvor«, sagte Kassim mit einem breiten Grinsen, während er sich daran machte, das Stoffbündel aufzuschnüren. »Aber ich muss noch viel von dir lernen.«
»Mit meinen siebzehn Jahren habe ich ja auch ein bisschen Vorsprung«, meinte Mehmet.
»Es ist nicht nur das. Du bist einfach der Künstler von uns beiden.« Kassim strahlte und schaute fasziniert auf das, was er in den Händen hielt. »Ist das eine Trinkschale? Aus Zirbelholz? Und dieses wunderschöne Ornament! Wie machst du das nur?«
»Ich weiß es manchmal selbst nicht. Ich arbeite einfach so lange daran, bis ich es gut finde.«
Kassim untersuchte das kleine Gefäß genauer. In seine Außenseite waren feine, unterschiedlich große, sternförmige Blumen geschnitzt.
»Ich habe mir gedacht, dass du sie gut gebrauchen kannst – zusammen mit deinem Messer. Jetzt, da ihr die Reise macht«, erklärte Mehmet.
»Welche Reise?« Überrascht blickte Kassim auf.
»Eure Reise nach Meside.«
»Was meinst du mit unserer Reise nach Meside?«
»Davon weißt du nichts?«
»Nein, gar nichts.«
»Es tut mir leid, wenn ich etwas verraten habe. Eigentlich habe ich auch nicht viel mitbekommen.«
»Du musst mir alles sagen, was du weißt.«
Mehmet atmete tief ein.
»Letzte Woche kam dein Großvater zu uns und sprach mit meinem Vater. Er meinte, ihr würdet uns Ende des Monats nach Kadut begleiten und von dort aus mit einer Karawane nach Meside weiterziehen. Glaub mir, das ist alles, was ich gehört habe. Ich habe keine Ahnung, was sie sonst noch beredet haben.«
»Was meinst du, was das zu bedeuten hat?«, fragte Kassim. Er konnte sich nicht erklären, warum sein Großvater kein Wort davon erwähnt hatte, nicht einmal vorhin bei ihrer Begegnung auf der Lichtung.
»Da fragst du den Falschen. Ich bin selbst erstaunt, dass du von alldem nichts wusstest. Ich wollte eigentlich von dir mehr darüber erfahren«, antwortete Mehmet.
»Weißt du etwas über Meside?«, wollte Kassim wissen. Ihm war nur bekannt, dass die Stadt süd-östlich im Innern des Landes lag. Sie war nicht die größte, die es gab. Die viel bekannteren und wichtigeren Städte des Landes waren Zah im Norden, jenseits des hohen Gebirges, und Ramar im Westen. Beide waren Hafenstädte und dadurch wichtige Umschlagplätze für die Waren, die von Übersee eintrafen oder dorthin verschifft wurden. Das war auch der Grund, weshalb die Hauptroute des Landes zwischen diesen beiden Handelsstädten verlief.
»Meside ist eine berühmte antike Stadt, sie ist noch älter als Kadut. Man nennt sie auch Blume der Wüste. Das hat wohl damit zu tun, dass man egal, aus welcher Himmelsrichtung man sie erreichen möchte, ein beträchtliches Stück Wüste durchqueren muss. Einmal angekommen, staunt man aber darüber, mitten in der Ödnis eine so fruchtbare und lebendige Stadt vorzufinden. Das ist alles, was ich weiß«, erklärte Mehmet. Er packte den Mandelkuchen aus und hielt ihn Kassim unter die Nase. »Wer weiß, ob du unterwegs nochmal so etwas Gutes bekommst. Na ja, du wirst auf deiner Reise sicherlich andere Köstlichkeiten kennenlernen … obwohl, da bin ich mir nicht einmal sicher. Ich glaube, die Verpflegung in den Karawanen ist ziemlich einseitig …«, er lachte laut. »Es geht doch nichts über Zias Backkunst!«
»Da hast du recht! Und … ich habe noch frischen Honig.« Kassim griff nach seiner Tasche, die hinter ihm im Schatten der Kiefer lag.
»So lässt es sich feiern«, nuschelte sein Freund mit vollem Mund.
»Und es fängt erst an«, entgegnete er und steckte sich hungrig ein Stück Kuchen in den Mund. Mit den Augen suchte er den Bussard in der Höhe, fand ihn aber nicht gleich. Dann entdeckte er ihn weiter entfernt auf einem vorspringenden Felsen sitzend.
Blume der Wüste, wiederholte er in Gedanken. Was für ein vielversprechender Name. War die gemeinsame Reise dorthin ein weiteres Geburtstagsgeschenk, mit dem ihn sein Großvater heute Abend überraschen wollte?
Kassim hoffte, Zia, Mehmets kleine Schwester, hatte während des Tees, den er zusammen mit ihrer Familie getrunken hatte, nicht bemerkt, dass er es eilig hatte, heimzukehren.
Außer Atem trat er durch die offene Haustür in die Küche, wo sein Großvater vor dem Herd stand und das Abendessen zubereitete. Auf der eisernen Ofenplatte stand Kassims Lieblingsgericht: ein würziger Lammeintopf, der den ganzen Raum mit Rosmarinduft erfüllte.
»Mehmet hat mir von unserer Reise erzählt. Ist das wahr? Werden wir nach Meside gehen?«, fragte Kassim und stellte den Mandelkuchen, den Zia ihm mitgegeben hatte, auf die Kommode.
Der alte Mann legte den Deckel auf den Topf und zog ihn vom Herd, ein Zeichen, dass das Essen so gut wie fertig war. Dann drehte er sich um und sagte mit ruhiger Stimme: »Bitte setz dich, mein Junge.«
Auf dem niedrigen Esstischchen brannten zwei Kerzen und Kassim ließ sich dort nieder, gespannt, was nun kommen würde.
»Ich hatte die Absicht, heute Abend mit dir darüber zu reden«, fuhr sein Großvater fort. »Kannst du dich an Zephiro erinnern?«
Kassim dachte nach. Zephiro war ein alter Freund der Familie. Vor vielen Jahren, er selbst musste sechs Jahre alt gewesen sein, hatte der rätselhafte Mann sie zuletzt besucht. Er hatte nur mehr ein vages Bild von ihm vor Augen, aber etwas anderes war Kassim in Erinnerung geblieben: Der Großvater und er hatten oft lange Gespräche miteinander geführt, manchmal sogar die ganze Nacht hindurch bis in die Morgenstunden. Kassim kam in den Sinn, dass der Mann einen langen Weg zurückgelegt hatte, um zu ihnen ins Bergdorf zu gelangen, da er in einer größeren Stadt im Landesinneren lebte. Wo genau, das wusste er aber nicht mehr.
»Er hatte einen dunklen Bart und eine tiefe Stimme. Ihr habt viel zusammen gelacht«, erinnerte sich Kassim.
»Das haben wir. Wie schnell doch die Jahre vergehen.« Sein Großvater stand noch immer vor dem Ofen und schaute seinen Enkel nachdenklich an.
»Zephiro handelt mit seltenen Edelsteinen und ist viel auf Reisen. Aber er hat auch das alte Handwerk des Edelsteinschleifers gelernt, musst du wissen. Er wohnt in Meside, wo er auch geboren wurde.«
Der alte Mann erklärte nicht weiter, sondern ging schweigend zu der Truhe, die neben der Tür zu seiner Schlafkammer stand. Er nahm den Perserteppich, der auf ihr lag, behutsam herunter, hob den schweren Deckel an und holte etwas hervor, das Kassim aus der Entfernung nicht genau erkennen konnte. Regungslos vor Neugier saß er auf seinem Kissen und wartete.
»Bei seinem letzten Besuch hat der Gute das hier vergessen«, murmelte sein Großvater und legte eine kleine Ledermappe auf den Tisch. Kassim nahm sie in die Hand. Sie war braun, etwa so groß wie ein Buch, gefaltet wie ein Brief und an den Rändern mit glänzendem schwarzen Rosshaar und dunkelrotem Seidenfaden kunstvoll eingesäumt. Zusammengehalten wurde sie mit einem Lederband, welches in der Mitte zu einem festen Knoten verschnürt war.
»Was für eine edle Tasche«, bemerkte er und fuhr mit den Händen über die Nähte. »Was ist denn darin?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht?«
»Nein.«
»Du hast sie nie geöffnet?«
»Nein. Es ist Zephiros Tasche.«
Kassim schaute seinen Großvater an und verstand, was er damit ausdrücken wollte. Er würde nie etwas ohne guten Grund öffnen. Und das galt nicht nur aus Respekt vor dem, was einem anderen gehörte, sondern es war für ihn einfach nicht von Belang, zu wissen, was sich darin befand.
Im Gegensatz zu mir kann er mit Geheimnissen leben, dachte Kassim.
Der Alte fuhr mit dem Sprechen fort. »Nun habe ich einen Wunsch. Da mein Freund nicht mehr wiedergekommen ist, um die Tasche zu holen, möchte ich, dass du sie ihm nach Meside bringst.«
»Ich? Ich soll sie ihm überbringen?« Kassim zog eine Augenbraue hoch. Er war sich nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte. »Ich allein? Nicht wir beide zusammen?«
»Ich denke, du solltest diese Reise alleine unternehmen. Wärst du dazu bereit?«
»Aber natürlich, Babbo … Allerdings verstehe ich nicht, weshalb Zephiro nicht zurückgekehrt ist. Ich meine, wenn etwas wirklich Kostbares darin ist, dann wäre er doch wiedergekommen. Meinst du nicht?«
»Ich denke, er weiß nicht, dass er sie bei uns vergessen hat. Vielleicht glaubt er, dass er sie unterwegs verloren hat. Wer weiß das schon? Wenn man unterwegs ist, gibt es viele Möglichkeiten, wie einem Dinge abhandenkommen können. Die Tasche sollte zu ihm zurückkehren, bevor ich sterbe.«
»Wieso sagst du so etwas?« Kassim spürte ein schmerzhaftes Stechen in seiner Brust. Sein Großvater brachte ihn völlig durcheinander. Da war einerseits der Plan, ihn mit einer geheimnisvollen ledernen Mappe alleine auf eine Reise durch das Land zu schicken, und gleichzeitig erwähnte er seinen bevorstehenden Tod. Das bereitete Kassim großes Unbehagen, ja sogar Angst.
»Fühlst du dich nicht gut, Babbo?«
»Nein, das ist es nicht. Jeden Tag widme ich im Stillen dem Sterben einen Gedanken. Das sollte jeder tun«, sagte der alte Mann gelassen.
»Aber warum? Ich will nicht an etwas so Schreckliches wie den Tod denken. Ich will nicht, dass du stirbst! Und auch ich will nicht sterben. Ich will, dass wir noch lange miteinander leben.«
»Was deine Angst vor dem Tod betrifft, so hör mir gut zu. Wenn du die Welt genau anschaust, wirst du feststellen, dass alles, was du siehst und wahrnimmst, das gleiche Schicksal hat. Die Welt besteht immerfort aus einem ständigen Werden und Vergehen. Ein Tag bricht an, weicht der Nacht und wieder bricht ein Tag an. Stets ist es vor deinen Augen, im Großen wie im Kleinen – das ewige Kommen und Gehen. Oder nicht? Darauf solltest du immer achten.«
Der Großvater machte eine kleine Pause und fuhr dann fort. »Wenn du es lange genug beobachtest, kommt irgendwann der Augenblick, in dem du noch etwas anderes wahrnehmen wirst. Etwas, das in all dem Geschehen unveränderlich ist. Du bist nicht dein Körper, du bist mehr als das. Was auch immer geschehen mag, du befindest dich immer an einem geschützten Ort. Und das gilt auch für den Moment des Sterbens. Dein wahres Selbst wird nicht vergehen. Für dich gibt es keinen Tod.«
Er holte zwei Teller aus dem Schrank am Herd und füllte sie mit Lammeintopf und Hirse. Dann streute er kleingehackte Tomaten und frische Petersilie darüber.
Obwohl es köstlich aussah und duftete, hatte Kassim plötzlich keinen Appetit mehr. Er musste über die Worte seines Großvaters, über das, was er über das wahre Selbst und den Tod gesagt hatte, nachdenken. Wieder einmal spürte er, wie tief doch das Wissen des weisen Alten war und wie viel er selbst noch zu lernen hatte.
Babbo legte die Ledertasche behutsam beiseite und sprach ein Tischgebet.
»Warum möchtest du mich nicht auf der Reise begleiten?«, wollte Kassim nach einer Weile, in der sie schweigend gegessen hatten, wissen.
»Erstens bist du nun alt genug für eine solche Unternehmung. Ganz allein auf dich gestellt wirst du ja nicht sein. Du wirst mit einer der Karawanen reisen, die in Kadut haltmachen. Das hast du dir doch immer gewünscht. Und zweitens sind da noch meine alten Kniegelenke. Eine tagelange Wanderung wäre eine große Belastung für sie und ich habe einfach nicht mehr die Kraft wie früher. Der Weg durch die Wüste ist beschwerlich.«
»Wie lange braucht man, um Meside zu erreichen?«
Der Großvater überlegte eine Weile, als ob er die Tage der verschiedenen Etappen zählen müsste.
»Für den Hin- und Rückweg nach Kadut, und rechnet man noch einen kurzen Aufenthalt in Meside ein, werden es in etwa vierzig Tage sein.«
Kassim überlegte. Es stand nirgends geschrieben, wie lange Jago genau benötigt hatte, um das große Gebirge zu überqueren. Aber es mussten einige Wochen gewesen sein.
»Stimmt es, dass Meside auch Blume der Wüste genannt wird?«, fragte er.
»Das stimmt! Und das zu Recht. Bald wirst du es selbst sehen.« Der alte Mann lächelte geheimnisvoll.
»Ich will diese Reise machen, aber ich kann nur von hier fortgehen, wenn du mir versprichst, dass es dir gut geht.«
Der Großvater schaute ihm liebevoll in die Augen. »Mach dir nicht so viele Sorgen, mein Junge. Kennst du den Wesenskern des wahren Vertrauens?«
»Verrätst du ihn mir?«
»Sein Wesenskern ist der Mut.«
»Wieso der Mut?«
»Man muss den Mut haben, die eigene Macht aufzugeben und den Platz einer anderen Kraft zu überlassen.«
»Das ist nicht einfach.«
»Nein, einfach ist das nicht. Aber es ist das einzig Richtige.«
»Warum?«
»Es ist nie die eigene Kraft, aus der heraus man etwas schafft, sondern immer die Kraft des großen Ganzen. Wie du weißt, ist das für mich die Macht Gottes, der auf seine Weise für alles sorgt. Es gibt keine bessere Botschaft als diese.« Der Großvater lachte freudig und fuhr mit seiner Hand über Kassims Kopf. »Aber das wirst du selbst erfahren. Nicht ich muss zu dir sprechen, sondern das Leben.«
»Ich wäre froh, wenn du es mir erklären würdest! Ich wünschte, ich wäre so weise wie du. Bitte erzähl mir noch mehr von Zephiro.«
»Ich werde dir alles sagen, was du wissen möchtest – sofern ich es vermag. Aber nun iss deinen Eintopf, bevor er kalt wird.« Er lächelte.
Während sie weiter aßen, berichtete der Alte, wie er seinen Freund vor vielen Jahren, noch bevor Kassim das Licht der Welt erblickt hatte, bei einem Hochzeitsfest in Kadut kennengelernt hatte: »Obwohl Zephiro einige Jahre jünger war als ich und aus einer anderen Gegend des Landes stammte, verspürten wir gleich mit dem ersten Händedruck eine tiefe Verbundenheit. Damals kam es mir so vor, als würde ich einen mir schon lange vertrauten Menschen wiedersehen. Der Wein auf dem Fest war ausgezeichnet und wir haben uns die ganze Nacht unterhalten und ausgelassen gefeiert. Deshalb habe ich ihn dann zu mir nach Hause eingeladen.
Gleich am nächsten Tag sind wir gemeinsam ins Dorf zurückgeritten, wo Zephiro einen ganzen Monat mein Gast war. Wir haben lange Wanderungen durch die Berge unternommen und über die Natur philosophiert.
In den darauffolgenden Jahren machte Zephiro auf seinen Handelsreisen, wann immer es ihm möglich war, Abstecher in unser Hochtal.
Unangekündigt stand er dann mit seinen voll beladenen Pferden vor der Tür. In der Hand meist eine Kiste mit Büchern, gutem Wein, feinem Gewürzbrot und vielen ungewöhnlichen Leckereien und Dingen als Mitbringsel. Aber die Wichtigste von all seinen Gaben war Zephiro selbst und seine Gesellschaft.« Der Großvater machte eine Pause und sah gedankenverloren aus dem Fenster. »Man konnte mit ihm arbeiten und debattieren, lachen und beten.«
Ausgestreckt auf dem Kelimkissen lauschte Kassim aufmerksam den Schilderungen. Als die Kerzen auf dem Tisch heruntergebrannt waren und es Zeit wurde, schlafen zu gehen, war er traurig, dass sie so lange nichts mehr von dem geheimnisvollen Edelsteinschleifer gesehen oder gehört hatten.
»Und was ist in der Tasche?«, fragte Mehmet, nachdem Kassim ihm alles vom vergangenen Abend berichtet hatte. Sie standen in der kleinen Scheune, in der Holz gelagert wurde. Mehmet verbrachte hier viele Stunden, um seine Figuren zu schnitzen. Im Augenblick war er allerdings damit beschäftigt, ein paar Scheite für den Ofen zu spalten.
Darmowy fragment się skończył.