Czytaj książkę: «Mord im Rosenpark»
Berndt Marmulla
Mord im Rosenpark
und fünf weitere authentische Kriminalfälle aus der DDR
Bild und Heimat
Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden alle Namen von Tätern und Opfern verfremdet. Namensgleichheiten sind dem Zufall zuzuschreiben.
Alle Bilder stammen aus dem Privatarchiv des Autors.
eISBN 978-3-95958-811-9
1. Auflage
© 2021 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildungen: Parkbank: Archiv des Autors; Personen: ullstein bild / 02648080
Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:
BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
Axel-Springer-Straße 52
10969 Berlin
Tel. 030 / 206 109 – 0
www.bild-und-heimat.de
Vorwort
Sehr geehrte, an tatsächlichen Kriminalfällen interessierte Leserinnen und Leser,
aufs Neue sind mir beim Stöbern in meinen Erinnerungen zahlreiche Erlebnisse vor meinem inneren Auge erschienen. Wie auch schon in meinen bisher veröffentlichten Büchern ist es eine Reise in die Vergangenheit – konkret in die 1970er und 1980er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Im täglichen Dienst waren Geschehnisse aus allen Bereichen des Strafgesetzbuchs der Gegenstand meiner Arbeit. Es galt, die Straftäter zu ermitteln und zu überführen. Fast täglich mussten Menschenschicksale beachtet werden, sei es aus der Sicht der betroffenen Personen beziehungsweise Opfer als auch aus der Sicht der Täter, die aus allen Bevölkerungsschichten kamen.
Oftmals ging es auch um tragische Ereignisse, die untersucht werden mussten, bei denen aber keine Täter zu ermitteln waren. Ich denke dabei besonders an Suizide und Unfälle mit tödlichem Ausgang. Das Ziel war es immer, das Geschehen aufzudecken und der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen.
Im vorliegenden Buch geht es im Wesentlichen um die Persönlichkeit der Täter.
Zum Teil um intelligente Personen, die durch die verschiedensten Umstände zum Straftäter beziehungsweise Verbrecher wurden. Allerdings: Niemand von diesen Tätern musste diesen Weg gehen. Sie hatten alle die Möglichkeit der Entscheidung.
Problematisch war die Entscheidungsmöglichkeit für den Kindermörder Rudi. Hier muss seine seelische Erkrankung berücksichtigt werden. Keine Entschuldigung, aber eine Erklärung!
Diese Art von Verbrechen wird nie aus der Gesellschaft verschwinden.
Wieder einmal stand mir der Journalist Rolf Kremming durch regelmäßigen Gedankenaustausch bei dem Zustandekommen dieses Buches hilfreich zur Seite. Dafür danke ich ihm herzlich.
Ebenso herzlich danke ich Frau Martina Wensierski, die als Mitarbeiterin der Berliner Sparkasse mit ihrem Fachwissen aus der damaligen Zeit zum Gelingen des Buches beigetragen hat.
Mein Dank gilt auch postum zwei in einigen meiner Bücher namentlich genannten ehemaligen Kollegen, die leider in den Jahren 2020 und 2021 verstorben sind: Oberleutnant a. D. Holger Niemitz, Mitarbeiter im Dezernat X, und Oberleutnant a. D. Rainer Ruppel, Kriminalist der Volkspolizei-Inspektion Pankow.
Dem Verlag Bild und Heimat danke ich für das entgegengebrachte Vertrauen und die Unterstützung bei der Entstehung dieses Buches.
Berndt Marmulla, Kriminaloberrat a. D.
Berlin, im Frühjahr 2021
Quer durch die DDR – ein Serieneinbrecher und Dieb auf der Flucht
Berlin-Treptow, März 1988, ein Uhr nachts
Es war eine Nacht für Liebespaare. Warm, windstill und fast dunkel. Selbst der Mond hatte aus Rücksicht nur sein halbes Licht eingeschaltet. Maike und Rudolf nutzten die Zeit, um sich näherzukommen. Kennengelernt hatten sie sich vor drei Stunden im Berliner Tanzlokal Clärchens Ballhaus. Nach ein paar Tänzen und einer Flasche Wein wollten sie mehr voneinander, ohne die vielen Menschen um sich herum. Die Parkbank war hart und ungemütlich; doch wen stören solche Kleinigkeiten, wenn man frisch verliebt ist. Rudolf flüsterte seiner Maike süße Worte ins Ohr, Maike schnurrte wie eine zufriedene Katze. Kein Wunder also, dass keiner von beiden den Schatten bemerkte, der sich hinter ihnen vorbeischlich und im Dunkel des Parks verschwand. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Nachdem der schwarz gekleidete Fremde vorbeigehuscht war, glaubte dieser sich in Sicherheit. Der Schreck traf ihn deshalb umso heftiger, als er zwischen den Bäumen einen Polizisten erblickte. Der Fremde versteckte sich hinter einer Kastanie und wagte kaum noch, zu atmen. Verdammte Scheiße, dachte er. Beinahe wäre ich ihm in die Arme gelaufen. Wenn der Polizist ihn mitten in der Nacht mit einem Rucksack voller Einbruchswerkzeuge erwischt hätte, wäre das nicht nur das Ende seines Vorhabens gewesen, sondern hätte ihn auch gleich in den Knast gebracht. Ich muss in Zukunft vorsichtiger sein, ermahnte er sich selbst. Der Streifenpolizist lief ahnungslos weiter, blieb nur noch einmal kurz stehen, um sich einen Schnürsenkel zuzubinden.
Dreimal tief durchgeatmet – und die Angst verschwand. Das hatte ihm vor ein paar Jahren ein Mithäftling in Dresden beigebracht. Und meist funktionierte es. Dann machte sich der »Ex-Knacki« auf den Weg zu dem zweistöckigen Gebäude hinter dem Park. Obwohl er nicht besonders an Geschichte interessiert war, hatte er durch Zufall erfahren, dass sich in der Villa aus den 1920er Jahren jetzt eine Zweigstelle der Staatlichen Versicherung der DDR befand. Sie war der einzige Versicherer für Privatkunden, zuständig für Hausrat-, Kfz-, Lebens- und Unfallversicherungen. Auch das hatte ihm ein ehemaliger Knastkumpel verraten.
Das Gebäude war nicht beleuchtet, nur schemenhaft waren die Umrisse im Schein der Laternen zu erkennen. Gute Voraussetzungen für sein Vorhaben. In den vergangenen zwei Wochen war er dreimal hier gewesen und hatte die Bedingungen ausgespäht. Einmal tagsüber und zweimal in der Nacht zwischen ein und zwei Uhr. Heute wollte er zur Tat schreiten. Trotz des Polizisten im Park. Bei seinen früheren Beobachtungen hatte er die Streife auch schon einmal gesehen. Allerdings außerhalb des Parks und nicht in der Nähe der Villa. Trotzdem beschloss er, besonders vorsichtig zu sein.
Langsam überquerte er die Straße und näherte sich dem Haus. Er wusste, wie er ohne Schwierigkeiten auf das Anwesen der Villa gelangen konnte. Schon stand er an der Rückseite des Gebäudes. Der niedrige Metallzaun war keine Hürde gewesen. Es hatte nur Sekunden gedauert, bis er auf dem Grundstück war. Ein paar Schritte, dann vier Stufen hoch, und schon war er an der Tür. Er griff in den Rucksack, und mit einem Glasschneider schnitt er in Höhe des Türschlosses ein Loch in die Glastür. Vorsichtig entfernte er das herausgetrennte Glasstück und griff durch das Loch hindurch. Erfreut stellte er fest, dass im Türschloss von innen der Schlüssel steckte. Wie aufmerksam die Menschen doch sind, grinste er vor sich hin. Ein Dreh, und mit einem leisen Schnapp öffnete sich die Tür.
Bis in den ersten Büroraum waren es nur wenige Schritte. Im Strahl seiner Taschenlampe überprüfte er oberflächlich das Zimmer nach einem Safe, nach Schränken und Kassetten. Ohne Ergebnis. Er suchte ausschließlich nach Bargeld. Andere Dinge, wie etwa technische Geräte, interessierten ihn nicht – zu schwer, zu viel Verkaufsaufwand und unnötige Mitwisser.
Vorsichtig tappte er über den Flur zum nächsten Zimmer. Hier fand er, was er suchte: einen Stahlblechschrank, und in einem Schreibtisch entdeckte er zwei verschlossene Stahlblechkassetten. Mit Schraubendreher, Meißel, Stemmeisen und Bohrmaschine öffnete er die Kassetten. Aus Erfahrung klug geworden, arbeitete er nur mit Handschuhen. Denn schon einmal hatten ihn seine Fingerabdrücke hinter Gitter gebracht.
Alles geschah lautlos. Denn neben seinem Einbruchswerkzeug hatte er auch mehrere Handtücher dabei, die er über die Stahlbehältnisse legte, um Lärm zu vermeiden. Solche Unachtsamkeit wäre ihm einmal fast zum Verhängnis geworden. Bei einem Einbruch vor zwei Jahren in ein Dresdner Architekturbüro wäre er um Haaresbreite von einer Funkwagenstreife entdeckt worden. Er hatte zu viel Lärm gemacht. Aber es war noch einmal gutgegangen. Obwohl er nicht an Gott glaubte, hatte er damals den Blick erhoben und danke gesagt. Mit den Jahren war er dann immer professioneller geworden.
Er wusste selbst nicht mehr, wie viele Einbrüche er in den letzten drei Jahren begangen hatte. In Berlin war es erst der zweite. Durch Zufall hatte er bei einem Gespräch in einer Kneipe gehört, dass bei der Staatlichen Versicherung immer Bargeld aufbewahrt wurde, und das brachte ihn auf die Idee, in ein Versicherungsbüro einzubrechen. Und es war ein guter Einfall, der sich gelohnt hatte: 11.000 Mark beim ersten Bruch, und heute war er ebenfalls zufrieden, als er die Hunderter und Fünfziger sah. Geschätzte 15.000 Mark waren das. Er stopfte das Geld in den Rucksack und verschwand. Gut gelaunt verließ er den Tatort. Sogar die Tür zog er hinter sich zu. Schließlich war er ein ordentlicher Mensch.
Als er auf die Straße trat, knatterte ein Trabi mit kaputtem Auspuff vorbei. Im Park wurde laut gestritten. Eine Schutzpolizeistreife hatte Ärger mit mehreren betrunkenen Männern. Besser konnte es für ihn nicht laufen. Kein Mensch beachtete ihn. Am anderen Ende des Parks hatte er sein Fahrrad in einem Gebüsch versteckt. Unverschlossen. Auch das gehörte zu seinen Vorsichtsmaßnahmen. Falls er hätte fliehen müssen, hätte ihm das Aufschließen des Schlosses nur unnötig Zeit gekostet. Er schwang sich auf den Fahrradsattel und radelte los in Richtung Weißensee-Heinersdorf, wo er seinen Unterschlupf hatte.
Berlin-Heinersdorf
Gegen 3.50 Uhr traf er in seiner Bleibe ein. Ein kleines Einfamilienhaus in der Straße Am Wasserturm. Hier bewohnte er bei Renate S. ein möbliertes Zimmer. Die Sechzigjährige war eine ehemalige Arbeitskollegin seiner Mutter aus Radebeul und half ihrer Bekannten gern. Denn sie dachte, deren Sohn David wäre oft auf Montage quer durch die DDR und bräuchte ab und zu eine Unterkunft in Berlin. Seit Anfang 1988 benutzte der Einbrecher die Legende als herumreisender Monteur, und bis jetzt war auch alles gutgegangen. Seine Mutter in Radebeul ahnte nicht, dass sich David seit 1985 auf der Flucht vor der Polizei befand.
In seinem Zimmer angekommen, kippte er den Inhalt des Rucksacks auf den Tisch mit der Blümchendecke, zog die Gardine zu und rückte die Stehlampe heran. Dann legte er die 11.000 Mark des ersten Einbruchs dazu und zählte. Insgesamt 27.454 Mark. Er grinste. Was er an zwei Tagen erbeutet hatte, war der Lohn eines DDR-Arbeiters von zwei Jahren. Sorgfältig versteckte er das Geld im Wäschefach zwischen Unterhosen und Hemden. Danach schaltete er das Licht aus und legte sich schlafen.
Rückblick
David F., 1960 in Dresden geboren, bis zu seiner ersten Verhaftung wohnhaft bei seiner Mutter in Radebeul. Gelernter Kellner, ledig und viermal vorbestraft. Er war schmächtig, nur 165 Zentimeter groß. Sehr redegewandt, intelligent und homosexuell. Er sprach gut Russisch und Tschechisch, und die Menschen, die ihn kannten, bezeichneten ihn als fleißig und strebsam. Doch keiner von ihnen kannte seine dunkle Seite. Die Seite, die nach schnellem Geld ohne Anstrengung strebte. Und David F. war skrupellos, betrog und beklaute sogar seine engsten Freunde. Denn trotz seines guten Einkommens als Kellner war er mit seinem Leben unzufrieden. Kein tolles Auto, keine teuren Klamotten. Sein Lebenswandel befriedigte ihn nicht. Er wollte immer genug Bargeld in der Tasche haben, um seine Freunde und Liebhaber zu verwöhnen. Doch das Geld reichte nie. Das Verdiente rann ihm wie Öl durch die Finger. Geldnot hieß sein ständiger Begleiter. Die Lösung seines Problems: stehlen.
Er beklaute Gäste, griff in die Kasse seiner Arbeitgeber und beging die ersten Einbrüche. Er wurde verhaftet, und kaum wieder in Freiheit, brach er weiter ein und wurde erneut verhaftet. Bis 1984 stand er insgesamt fünfmal vor Gericht. Bewährungsstrafen wurden irgendwann zu Freiheitsstrafen, und David F. lernte das Knastleben kennen. 1985 wurde er nach zweieinhalbjähriger Haft als »48er« entlassen. Das hieß, er stand gemäß Paragraf 48 der Strafprozessordnung der DDR nach verbüßter Haft unter staatlicher Kontrolle.
Zusätzlich wurde vom Gericht eine Arbeitsplatzbindung angeordnet. Der Verurteilte musste für einen festgelegten Zeitraum in einem vom Gericht zugewiesenen Betrieb arbeiten. Für David F. hieß das, ein Jahr in einer Dorfgaststätte bei Dresden zu kellnern. Eine fatale Entscheidung des Gerichts. Denn David F. brauchte das Großstadtleben. Ohne seine homosexuellen Freunde, Schwulenkneipen und Kinos fühlte er sich wie vom wirklichen Leben abgeschnitten. Nach zwei Monaten wurde ihm klar: Hier bleibe ich keinen Tag länger. Von einem Tag zum anderen verschwand er und tauchte bei Bekannten im homosexuellen Milieu in Dresden unter.
Von nun an stand er auf der Fahndungsliste der Polizei. Bei Kontrollen auf Bahnhöfen, in Gaststätten oder bei verdächtigem Verhalten wurden stets die aktuellen Fahndungsbücher überprüft. In der Praxis bedeutete es, dass die Fahndungsmaßnahmen zeitlich beschränkt waren. Nach zwei bis drei Wochen wurde die zielgerichtete Personenfahndung durch die »Dauerfahndung Verhaftung« (Eintragung in das aktuelle Fahndungsbuch) ersetzt.
Dass auch diese Maßnahmen nicht immer zum Erfolg führten, wurde nach seiner Festnahme 1988 bekannt. Während seiner gesamten fast vierjährigen Flucht kam David F. lediglich einmal in eine Polizeikontrolle. Das war auf dem Marktplatz in Rostock, in die er bei der Suche nach einem Fahrraddieb geriet. Dank seiner Redegewandtheit und weil er kein Rad bei sich führte, gelang es ihm, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Das Nichtvorhandensein seines Personalausweises erklärte er damit, ihn in seiner anderen Jacke vergessen zu haben. Seine falschen Personalangaben wurden nicht überprüft. Eine grobe Nachlässigkeit der dortigen Polizei.
David F. war ein geselliger Mensch mit einem großen Freundes- und Bekanntenkreis von Rostock bis Thüringen. Nach sechs Wochen Unterschlupf bei einigen männlichen Bekannten wurde ihm in Dresden der Boden zu heiß. Zu viele Menschen kannten ihn in der sächsischen Bezirksstadt, und die Gefahr der Entdeckung wurde zu groß. Durch Vermittlung seines letzten Liebhabers konnte er für mehrere Wochen bei einem Homosexuellen in Warnemünde untertauchen. Seine Geschichte, er sei krankgeschrieben und brauche Seeluft zur Erholung, klang für den neuen Freund glaubhaft. So wie auch seine Lügengeschichten, die er den anderen Männern auftischte. Doch bald wurden die Ersten misstrauisch, und so wechselte er ständig Männer und Unterkünfte, um sich eine neue Bleibe zu suchen.
Auch während seines Aufenthalts an der Ostsee verübte er Einbrüche. Das stellte sich allerdings erst nach seiner Verhaftung heraus. Insgesamt waren es acht Büros von Kleinbetrieben, die er nachts aufsuchte, und mit dem dort erbeuteten Bargeld finanzierte er seinen Lebensunterhalt. Aber er hatte auch keine Skrupel, seine Liebhaber zu bestehlen. Deshalb musste er Ende 1986 aus Rostock fliehen.
Doch David hatte bereits eine neue Adresse in der Tasche: von einem Ingenieur aus Leipzig, den er ein paar Wochen zuvor in einer intimen Schwulenbar kennengelernt hatte. Der Fünfzigjährige war begeistert und stellte keine unangenehmen Fragen, als David unerwartet vor seiner Wohnungstür stand. Wieder hatte er ein neues Opfer gefunden und ließ sich ohne moralische Bedenken von dem älteren Mann aushalten. So vergingen einige Wochen. Gleichwohl hatte David nach wie vor exklusive Bedürfnisse. Er mochte teure Anzüge tragen, gute Schuhe, und selbst auf edle Socken legte er großen Wert. Und außerdem hatte er gern Bargeld in der Tasche. Wenn er in die Hosentasche griff, um in der Kneipe die Zeche zu bezahlen, tat er das stets demonstrativ, so dass möglichst alle es sehen konnten. David, der Krösus. David, das Genie. So wollte er wahrgenommen werden.
Sein Leipziger Freund war zwar großzügig, aber nicht vermögend. Er konnte David keine große Bühne bieten. Also beschloss der anspruchsvolle Ganove nach ein paar Wochen, wieder auf Diebestour zu gehen. Wie sich nach seiner Festnahme herausstellte, beging er in Leipzig auch seinen spektakulärsten Einbruch. Er stieg in das Bezirksparteibüro der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD) ein. Viel Beute hatte er zwar nicht gemacht, aber jede Menge Aufmerksamkeit erregt, weil man ein politisches Motiv hinter dem Einbruch vermutete.
Die öffentliche Aufmerksamkeit, die diesem Einbruch folgte, gefiel ihm. Es war die gleiche Bestätigung wie damals in der Schule, wenn der Lehrer den Spickzettel in der Hose nicht bemerkt hatte. Danach begann er, nach neuen Einbruchsgelegenheiten zu suchen. Wieder war es ein zufälliges Gespräch am Biertisch, in dem es um die Leipziger Universität ging. Das brachte ihn auf die Idee, der Uni mit ihren zahlreichen Gebäuden einen nächtlichen Besuch abzustatten. Es war der Anfang einer Serie von zehn Einbrüchen. Trotz dieser auffälligen Häufung am selben Ort hatte er das Glück, von den Leipziger Kollegen nicht erwischt zu werden. Ich denke, sie ermittelten in die falsche Richtung. Wahrscheinlich glaubten sie, es mit einem Täter aus dem beruflichen Umfeld der Uni zu tun zu haben.
Als ich ihn 1988 in Berlin vernahm, berichtete er mir mit einer gewissen Schadenfreude, dass er bei einem seiner Einbrüche sogar noch vor Ort war, als die Kripo Spuren sicherte. Er hatte hören können, wie die Polizisten den Tatort untersuchten. Eine Stunde zuvor war er eingestiegen und hatte die Alarmanlage ausgelöst. Erst wäre ihm sehr mulmig geworden, und er hatte befürchtet, nicht mehr flüchten zu können. Doch er sei ruhig geblieben und habe gewartet, bis die Polizei verschwunden war. Danach hätte er seelenruhig das Hochhaus verlassen, schilderte er mir.
Nach einem Jahr wurde es ihm auch in Leipzig zu heiß. Anfang 1988 verließ er die Messestadt in Richtung Berlin. Er hatte viel von der Homoszene der Hauptstadt gehört und war sich sicher, schnell eine neue Bekanntschaft und Unterkunft zu finden. Noch am gleichen Abend hatte er in einer der »Milieu-Bars« in Prenzlauer Berg Erfolg.
Es war Januar 1988 und bitterkalt. Schnee lag zentimeterdick auf dem Bürgersteig der Schönhauser Allee, als David mit seiner Reisetasche die Bar betrat. Wie üblich in diesen Läden wurde er von den Männern gemustert. Wie immer gefielen ihm die Blicke, die seinen Körper abtasteten. Länger als notwendig blieb er am Eingang stehen und genoss die Aufmerksamkeit.
Er setze sich auf einen freien Barhocker und lächelte. Aus Erfahrung wusste er, dass dieses Lächeln die beste Eintrittskarte für einen Unterschlupf war. Nach fünf Minuten stand schon das erste Bier vor ihm, und ein etwa vierzigjähriger Typ mit Schnauzbart prostete ihm zu. Obwohl David F. vor allem materiell dachte, war es ihm jedoch nicht gleichgültig, mit welchem Mann er ins Bett stieg. Der Typ am anderen Ende der Theke gefiel ihm. Groß, schlank, dunkelhaarig und sympathisch. Außerdem stand David auf dunkle Schnauzbärte.
Die beiden kamen sich schnell näher. Der Fremde hieß Benno, war neununddreißig Jahre alt und Ingenieur im Bauwesen. Ein Bier folgte dem nächsten, und nach zwei Stunden stand David mit seinem Handgepäck in Bennos Wohnung in der Pappelallee. Zwei gemütlich eingerichtete Zimmer, Fernseher und Stereoanlage. Besonders gut gefiel ihm das breite Bett, fast so groß wie das Schlafzimmer. Es wurde eine stürmische Nacht.
Beim Frühstück tischte er seinem neuen Freund eine abenteuerliche Geschichte auf. Bei Kaffee und Marmeladenbrötchen erzählte er, er studiere Medizin, wäre im letzten Semester, bald ein fertiger Arzt und träume von einer eigenen Praxis im Kiez.
Benno P. war nicht dumm. Dem Lebenslauf seines Freundes begegnete er anfangs skeptisch. Medizinstudent? Kurz vor dem Examen? Familie in Dresden? Kein Kontakt zu seinen Eltern? Das waren ein paar Fragezeichen zu viel. Doch die Emotionen siegten über sein Misstrauen. Jeden Morgen verließen sie gleichzeitig die Wohnung – Benno zu seiner Arbeit im volkseigenen Betrieb in Köpenick und David angeblich zum medizinischen Praktikum in die Charité.
So gut ihm Benno auch gefiel, der Drang zu weiteren Einbrüchen war stärker. Er erzählte mir später, dass Einbrechen für ihn zur Sucht geworden war. Es war mehr, als nur Geld zu stehlen. Es war die Bestätigung, schlauer als die Polizei zu sein.
Für seine nächtlichen Streifzüge hatte er gegenüber Benno plausible Erklärungen: Nacht- und Wochenenddienste in der Charité. Bennos Vertrauen in seinen neuen Liebhaber war inzwischen so groß, dass er ihn voller Stolz an Freunde und Bekannte empfahl. So schaute der falsche Allgemeinmediziner Bennos Schwester in den Hals und diagnostizierte eine Mandelentzündung, empfahl eine Gurgellösung und drei Tage Bettruhe. Einem Freund mit Juckreiz unter den Armen empfahl er eine Tinktur aus der Apotheke. Und als Benno selbst über Magenschmerzen klagte, wandte David eine besondere Massageart bei ihm an. Die Schmerzen verschwanden wie durch Zauberhand. David machte sich beliebt und wurde von allen anerkannt. Benno war stolz, dass David bereit war, sein »Wissen« weiterzugeben. Ob bei den »Patienten« Schäden auftraten, war im späteren Gerichtsverfahren nicht mehr feststellbar.
Während David die Beziehung als Verhältnis betrachtete, sah Benno in David seinen festen Lebenspartner, von dem er mehr erfahren wollte. Besuche bei seinen Eltern in Dresden lehnte David mit der Begründung ab, er habe Krach mit ihnen, weil sie seine Homosexualität nicht akzeptierten. Aber Benno äußerte immer öfter den Wunsch, David in der Charité zu besuchen.
Endlich willigte der »Arzt in spe« ein, seinen neuen Partner mit auf die Station zu nehmen. Es hatte zwar lange gedauert, aber schließlich hatte er auch für diese verzwickte Situation eine Lösung gefunden. Eines Morgens Anfang März 1988 fuhren sie in Bennos neuem Trabi in die Klinik. Als sie das Tor passierten, wurde David vom Pförtner mit »Herr Doktor« begrüßt. Dann führte David seinen Liebhaber einen langen Gang auf der Station für Inneres entlang und verschwand in einem Ärztezimmer. Drei Minuten später kam er im weißen Kittel und mit Stethoskop um den Hals wieder heraus. Mit den Worten: »Komm mit, ich zeig dir jetzt mein Reich!«, lief er mit Benno durch verschiedene Stationen des Krankenhauses. Er grüßte hier, grüßte da und nickte den vorbeieilenden Schwestern freundlich zu. Benno war beeindruckt und schämte sich sogar ein wenig, dass er hin und wieder leise Zweifel gehabt hatte. Wenn er allerdings die Wahrheit gekannt und gewusst hätte, dass der Pförtner ein flüchtiger Bekannter von David aus der homosexuellen Szene war und dieses »Spielchen« in der Annahme, dass es sich um einen Scherz handelte, mitmachte, hätte er sich auf der Stelle von ihm getrennt.
David F. hatte viele Talente. Er war gebildet, liebte Kunst, Museen und Theater und war ein guter Schauspieler. Eigenschaften, wie man sie mehr bei Betrügern, Hochstaplern und Heiratsschwindlern findet. Seine Vorgehensweise war stets gut organisiert. Von der sorgfältigen visuellen Aufklärung des Tatorts und der Umgebung bis zur Auswahl der erforderlichen Werkzeuge, die er wohlgeordnet in seinem Rucksack mitführte. Er überließ nie etwas dem Zufall und musste über alles die Kontrolle behalten. Aus kriminalistischer Sicht ist zudem interessant, dass er jeden Einbruch allein beging. Einzeltäter werden erfahrungsgemäß seltener erwischt, denn jeder Mitwisser bedeutet ein zusätzliches Risiko.
Anfang April 1988, Präsidium der Volkspolizei Berlin
Der Wetterbericht im Berliner Rundfunk klang nicht verheißungsvoll. Leicht bewölkt mit wenig Aussicht auf ein bisschen Sonne. Die Temperatur war auch nicht so, dass die Frauen ihre kurzen Kleider aus dem Schrank holten. Ich schaltete zum Sender Freies Berlin (SFB) um. Auch im Westen kein besseres Wetter. Na gut, dachte ich, dann fängt die neue Woche eben so an, wie die alte aufgehört hat. Gabi, meine Frau, blockierte wieder einmal das Badezimmer, und als ich endlich hineindurfte, war ich spät dran. Schnell noch einen Kaffee im Stehen, ein Abschiedskuss, und weg war ich. Auf der Treppe rannte mir Gabi noch hinterher und drückte mir einen Regenschirm in die Hand.
Im Präsidium angekommen, begegnete ich Hauptkommissar Helmut H. auf dem Flur. »Morjen, Berndt, auch so schlecht geschlafen wie ich?«, fragte er, und ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er in seinem Zimmer. »Wenn alle so drauf sind wie Helmut, wird das bestimmt ein lustiger Tag«, murmelte ich vor mich hin.
Pünktlich um 7.45 Uhr begann die morgendliche Lagebesprechung der Dezernatsleiter beim Leiter der Kriminalpolizei. Wie immer wurden die Straftaten des Wochenendes besprochen. Die Kollegen vom Kriminaldienst des Präsidiums trugen die Lage der zurückliegenden vierundzwanzig Stunden vor. Der Leiter der Kriminalpolizei oder sein Stellvertreter verfügte daraufhin, welche Dezernate die daraus resultierenden Aufgaben zu übernehmen hatten. Außerdem wurden einzelne Dezernatsleiter hinsichtlich ihrer Aufgabenerfüllung abgefragt. Als Leiter des Dezernats X, zuständig für die Bearbeitung schwerer Einzelstraftaten und Serienverbrechen mit unbekannten Tätern, war ich natürlich immer auf die Fragen vorbereitet.
Bei dem Rapport an diesem Morgen wurde vom Kriminaldienst ein Einbruch in das Büro der Staatlichen Versicherung in Berlin-Weißensee vorgetragen. An sich kein Grund als Dezernat X in Aktion zu treten. Ein normaler Einbruch. Einer von vielen. Auch der Schaden lag unter der 50.000-Mark-Grenze, welche für unsere Zuständigkeit bei Einzelstraftaten die unterste Grenze war. Zum Schluss allerdings erklärte der Kriminaldienst, dass die Kriminalpolizei Weißensee bezüglich dieses Einbruchs Unterstützung durch die Kriminalpolizei des Präsidiums angefordert hatte, woraufhin die Dienshabende Gruppe (DHG) zum Einsatz gekommen war. Hernach wurde der Kriminaldienst gebeten, das Dezernat X zu verständigen, um eine Lagebesprechung durchzuführen. Warum? Das war noch zu klären!
Nach dem Rapport der Dezernatsleiter beim Leiter der Kriminalpolizei begab ich mich in mein Arbeitszimmer. Meine Mitarbeiter – Arbeitsgruppenleiter, Untersuchungsführer und Auswerter – erwarteten mich bereits.
Zu acht saßen wir um den Beratungstisch herum und tranken den bereits von Helga servierten Kaffee. Helga war unsere »Bürofee«, die natürlich nicht nur Kaffee kochen konnte. Sie half uns bei allen möglichen Arbeiten, heftete die Protokolle und Fernschreiben ab, lud Zeugen vor und sorgte für einen reibungslosen Ablauf des Tages. Ich nahm mir vor, ihr bald einmal wieder zu danken und einen Blumenstrauß zu besorgen. Dann griff ich zum Gebäck. Vorsichtshalber nahm ich mir gleich drei der Schokotaler, bevor sie weg waren. Sicher ist sicher.
In erster Linie interessierten mich nun der Stand der Ermittlungen bei unseren in Bearbeitung befindlichen Delikten, die eingeleiteten Maßnahmen und ihre vermutliche Erfolgsaussicht. Nach der Lagebesprechung mit meinen Kollegen beauftragte ich den Arbeitsgruppenleiter Hauptkommissar Helmut H., sich mit der DHG in Verbindung zu setzen. Wenig später war ich in meinem Arbeitszimmer allein.
Es war ein anstrengender Morgen gewesen, und die Kaffeekanne war leer. Ich ging zu Helga und schwatzte ihr die letzte Tasse »Erichs Krönung« aus der Kanne mit dem Blümchendekor ab. Anschließend zog ich mich wieder in mein Büro zurück. Noch immer schwirrten mir zu viele Gedanken durch den Kopf. Ich öffnete das Fenster. »Frische Luft macht den Geist munter«, hat mein Opa immer gesagt, wenn ich als Kind über die Schule stöhnte.
Gegen zehn Uhr stieß jemand mit der Schuhspitze die Tür auf. Ohne den Ankommenden zu sehen, wusste ich: Das konnte nur Helmut H. sein. Jeder hier hatte seine Eigenheiten. Und die von Helmut hieß, ohne anzuklopfen, reinzustürmen.
»Berndt, gibt’s hier Kaffee und ’ne Zigarette?«
»Auf den Kaffee musst du noch ein paar Minuten warten. Helga ist beim Aufbrühen. Rauchen musst du aber woanders. Von mir kannst du keine Zigarette mehr schnorren.«
Erst schaute er mich ungläubig an, dann grinste er so unverschämt, wie es nur Helmut konnte. »Willst du behaupten, dass du nicht mehr rauchst?«, fragte er.
»Richtig, seit ein paar Wochen bin ich erfolgreicher Nichtraucher. Aber das kannst du nicht wissen.« Helmut war einige Wochen in einem Polizeiheim zur Kur gewesen und hatte dadurch meinen grandiosen »Erfolg« verpasst. Er kannte nur meine bisherigen missglückten Versuche, dieses Laster loszuwerden. Trotz regelmäßigen Lauftrainings und Fußballspielens hatte die Zigarette immer wieder gesiegt. Kein Wunder also, dass er mich ungläubig anschaute. Ich glaube, er war sogar ein wenig neidisch auf meinen Erfolg. Denn immerhin hatte er es mindestens so oft erfolglos versucht wie ich.
Erst kam der Kaffeeduft durch die Tür, dann Helga mit zwei Tassen. »Viel Spaß euch beiden«, meinte sie und verschwand.
»Na, was wollen denn die Kollegen der DHG von uns?«, fragte ich Helmut.
»Sie glauben, dass sich eine Einbruchserie entwickeln könnte. Vor drei Wochen hatten sie einen ähnlichen Fall in Treptow. Auch ein Gebäude der Staatlichen Versicherung. Sieht ganz nach einem Einzeltäter aus. Professionelle Anwendung von Werkzeugen beim Eindringen und Öffnen von Kassetten und Stahlblechschränken. Die Aufmerksamkeit der DHG-Kollegen ist bemerkenswert. Da könnte etwas dran sein, Berndt, und wir sollten die Lage im Auge behalten. Noch werden die beiden Einbrüche von den Kollegen in Treptow und Weißensee bearbeitet.«
»Gibt es Täterhinweise?«
»Nein, nicht die geringsten. Ich kann mich in meiner langjährigen Tätigkeit auch nicht an einen einzigen Tatort im Bereich der Staatlichen Versicherung erinnern«, sinnierte Helmut.
»Gut, behalten wir die Lage im Auge. Sollte der Täter noch einmal aktiv werden, schalten wir uns ein. Danke, Helmut!«
Er verließ mein Büro, indem die Tür mit einem Knall zufiel. Wie gesagt: Jeder hat so seine Eigenarten. Und die von Helmut hieß eben auch, die Tür einfach hinter sich ins Schloss fallen zu lassen.
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