Gustave Courbet und der Blick der Verzweifelten

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Gustave Courbet und der Blick der Verzweifelten
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Bernd Schuchter

Gustave
Courbet

und der Blick der Verzweifelten


Die Arbeit an diesem Buch wurde mit einem Projektstipendium für Literatur des Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2021

© 2021 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverbild: Selbstporträt von Gustave Courbet/Gemeinfrei

Illustration Vor- und Nachsatz: © L’illustration journal universel n° 1474.

Paris sous la Commune : démolition de la colonne Vendôme, le premier tour de cabestan 1871

ISBN 978-3-99200-299-3

eISBN 978-3-99200-300-6

Für meinen Vater (1942–2020)

„Die wahre Freiheit des Menschen besteht darin, wider besseres Wissen das Falsche zu tun.“

Anonymus

Inhalt

Kapitel I

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

I

Trübes Licht scheint matt auf den Place Vendôme, zäher feiner Regen macht eine traurige Stimmung. Auf den Dächern der umliegenden, prachtvollen Häuser sitzen die Amseln in Grüppchen und mummen sich in ihr Gefieder. Nur manchmal plustert sich ein Männchen in einer plötzlichen Aufwallung von Gefühlen auf, von Revierkämpfen getrieben, um einen vermeintlichen Rivalen ein paar Meter weiterzuscheuchen. Dann ist alles wieder still. Der zähe Regen schluckt auch die Natur. Es ist ein Innehalten, ein Zögern, ehe die Welt sich wieder weiterdrehen würde. Noch schläft dieser Morgen und mit ihm die merle noir.

Zu ihren Füßen und begleitet vom Blinzeln der Gleichgültigen holpern nun ein paar Fuhrwerke heran, die Männer auf den Böcken ziehen ihre breitkrempigen Hüte ein wenig tiefer ins Gesicht. Sie umkurven die steinernen Barrikaden an der Ausfallstraße, die zum Platz führt. Es sind keine schnell errichteten, provisorischen Bollwerke wie noch in der großen Revolution von 1789, als die Handwerker und Tagelöhner, die Wäscherinnen und Gerber in großer Hast und ergriffen von ihrer eigenen revolutionären Erregung in großer Eile Stühle und Tische der angrenzenden Spelunken, Truhen, Zäune, Bänke und was auch immer sie greifen konnten, anhäuften, um in den folgenden Straßenkämpfen den berittenen Soldaten des Königs mit ihren Bajonetten und Säbeln nicht gänzlich hilflos ausgeliefert zu sein.

Nun, rund achtzig Jahre nach der wohl größten Umwälzung der jüngeren Geschichte, achten die Enkelsenkel der Revolutionäre auf mehr Sicherheit, sofern davon in Revolutionswirren je die Rede sein kann. Schon wieder muss sich der dritte Stand – die Armen und immer noch Besitzlosen, die Hungernden und Leidenden – gegen die Herrschaft der Besitzenden – den wiedererstarkten Adel ebenso wie den Klerus und das im Ancien Régime reüssierende Bürgertum – wehren, auf die Straßen gehen, Widerstand leisten. Die Barrikaden sind aus Stein, die Ziegel akkurat mehr als mannshoch geschlichtet. An den Rändern stehen künstliche Straßenbeleuchtungen, neumodische Laternen, die einen Häuserkampf wohl notfalls auch nachts erlauben würden. Davor stehen mehrere kleine Gewehrpyramiden griffbereit, denn wer weiß schon, wann der Feind vorhat, seinen Schlag zu führen. Auf einer Fotografie der Zeit ist das alles gut zu erkennen. Aufgenommen von einem erhöhten Standpunkt von einem der umliegenden Häuser aus erkennt man vereinzelt Menschen, die sich wohl kaum als Revolutionäre erkennen würden. Müde und zerlumpt sitzen oder stehen sie herum, ein Mann ist wegen der mangelnden Belichtung ohnehin nur verwaschen zu erkennen. Es ist nicht viel Betrieb an diesem Morgen oder Abend und der leichte, aber ausdauernde Regen mag sein Übriges dazu tun, die Szene ist seltsam still. Dabei wurde in den Minuten zuvor, vielleicht vor ein paar Stunden, hier auf dem Place Vendôme Geschichte geschrieben.

Alles begann mit ganz profanen Handgriffen, denn selbst die Weltgeschichte muss so organisiert werden, dass sie Sinn ergibt. Am frühen Morgen bis in den Vormittag hinein klappern die Fuhrwerke der Pferdedroschker und karren Stroh und Mist heran, mit denen der Platz um die Colonne ausgestreut wird. Man will die Pflastersteine nicht beschädigen, was der unregelmäßige Sturz des Bauwerks unweigerlich verursachen würde. Es gilt, behutsam und überlegt vorzugehen, auch wenn die Zeiten nicht danach sind. Die Kommune von Paris hält sich in diesen Tagen nicht mit Halbwahrheiten, nicht mit Zaudern auf. Die revolutionäre Raserei, die die Kommunarden in den Wirren des deutsch-französischen Krieges nach der Niederlage der französischen Truppen bei Sedan in Paris an die Macht gespült hat, ist noch nicht abgeebbt. Dabei ist diese Utopie einer gerechten Gesellschaft, wie die Kommunarden ihre vorläufige wie kurzweilige Herrschaft sehen, von allen Seiten bedroht. Rechts der Seine belagern deutsche Truppen die Stadt, links davon haben die verbliebenen französischen Regierungstruppen die ehemaligen preußischen Stellungen übernommen. Die Regierung selbst tagt in Versailles, außerhalb von Paris. Die Zeit vom 18. März bis zum 28. Mai 1871, als die blutige Maiwoche endgültig alle Hoffnungen auf die utopistische Umwälzung aller Verhältnisse im Sinne der Rechtlosen der Gesellschaft zunichte macht und in einem finalen Akt die letzten 147 Kommunarden an der Mur des Fédérés, der Mauer der Kommune, am Friedhof Père Lachaise erschossen werden, scheint wie ein letztes Aufflackern eines lang gehegten Traumes.

Der Traum von der Revolution wurde von den Mittellosen, den Abgehängten, den Armen und Benachteiligten dieses Jahrhunderts alle paar Jahre wieder und neu geträumt. Die Revolution aller Revolutionen, jene von 1789, aber auch das erfolgreichere Vorbild der amerikanischen Revolution, die immerhin zur ersten westlichen Demokratie geführt hat, tragen die Menschen jahrelang in ihren Herzen. Allen Repressionen, allem Mangel, aller restaurativen Kraft reaktionärer Kreise zum Trotz. Das nachnapoleonische Europa, das die alten Eliten nach 1815 nach den Plänen des österreichischen Kanzlers Fürst von Metternich errichtet haben, schien immer wieder einmal zu wanken. In Frankreich etwa 1830, als sich erstmals die Massen erhoben, bezaubernd in Szene gesetzt von Courbets Zeitgenossen Eugène Delacroix in seinem Gemälde Die Freiheit führt das Volk, das die barbusige Göttin mit der Tricolore zeigt. Das war in den Wirren von 1848 so, als das alte Europa in heftigen Barrikadenkämpfen unterzugehen drohte, ehe – nachdem sich der Pulverdampf der Gewehre langsam verzogen hatte – wieder die alten Herrscher in Amt und Ehren waren. Und dennoch. Die Wut des kleinen Mannes war wie das Glimmen einer Esse, die nur eines kleinen Lufthauchs bedurfte, um sich wieder neu zu entzünden. Zu groß waren die Nöte dieser Jahre, für die kleinen Handwerker wie die Kleinbauern, die Tagelöhner, die Wäscherinnen, die Dirnen wie die Blumenmädchen, die Zuwärterinnen und Dienstmägde, die Kürschner, Zimmerer, Tischler, die kleinen Wirte und die einfachen Soldaten, geschweige denn für das Heer der Invaliden, die wie ein steter Strom von den Schlachtfeldern Europas mit verstümmelten Beinen, Armen, Köpfen in die Elendsviertel der Städte brandeten.

Gerade die ehemaligen Soldaten waren eine beständige Sorge der Machthaber, denn wie leicht konnten sich die Entrechteten und Benachteiligten, die von der Nation so vernachlässigt worden waren, mit den anderen Vernachlässigten der Gesellschaft solidarisieren. Nichts leichter, als sich über Nacht mit Knüppeln und Messern zu bewaffnen und als Masse vor ein Palais, ein Stadthaus zu ziehen, um seine Forderungen nach einem besseren Leben mit kehligen Stimmen, trunken vom billigen Schnaps aus den Schenken, dem Leben trotzig ins Gesicht zu brüllen. Die kurzlebigen Aufstände von 1830 und 1848 waren den Eliten Warnung genug, weswegen die Veteranen elegant entsorgt wurden.

Das klosterähnlich organisierte Hôtel des Invalides bestand bereits seit der Herrschaft von Louis XIV., der die in ihren Ausmaßen gewaltige militärhistorische Gedächtnisstätte mit einem riesigen zentralen Innenhof gestalten ließ, der von vier Nebenhöfen mit Wohntrakten umschlossen war. Hier sollten die Gebrechlichen und Beschädigten ein geregeltes Leben führen, mit regelmäßigen Gottesdiensten, unterbrochen nur von einfachen handwerklichen Arbeiten in einer Manufaktur. Das war auf den ersten Blick durchaus humanistisch gedacht, denn wem gebührte eher die Ehre, als den zahllosen namenlosen Soldaten, die ebenjene Ehre Frankreichs über Jahre auf den Schlachtfeldern Europas verteidigt hatten. Der weitaus pragmatischere Grund bestand aber darin, dass beschäftigungslose, aber im Gebrauch von Waffen geschulte Männer eine Gefahr darstellten, sich zu marodierenden Banden zusammenzurotten und so ihre Umgebung zu terrorisieren. Eine zwiespältige Angelegenheit.

 

Das Hôtel des Invalides wirkt wie ein Mausoleum des Krieges, starr; trotzig und unmäßig in seinen Ausmaßen, wie auch der ewig kriegerische Mensch starrköpfig, trotzig und unmäßig zu sein scheint. Das Gebäude strotzt vor Reliquien dieser Unmäßigkeit. Die Esplanade, den Vorplatz, säumen unzählige Kanonenrohre vergangener Siege, der Haupteingang wird von Kriegerstatuen nach antikem Vorbild geschmückt. Das Gebäude ist durch und durch symmetrisch aufgebaut, um auch im Ästhetischen den Eindruck militärischer Strenge und Disziplin zu vermitteln. Nichts ist für Herrscher wichtiger als Macht, die nur durch die vollkommene Unterwerfung der eigenen Untergebenen zu erhalten ist. Soldaten haben nicht zu murren oder zu denken, sie haben zu gehorchen. Ihnen bleibt immerhin noch die Ehre, wie man an der Beflaggung in der Kathedrale sehen kann. In klösterlicher Demut können die verkrüppelten Soldaten dann während der Messe oder des stillen Gebets zu ihren Köpfen die vielen erbeuteten Fahnen der feindlichen Regimenter vergessener Schlachten bewundern, Zeugen der eigenen, heroischen Vergangenheit. Auch ihr gnadenloser Gott, der die Männer, ohne sie zu bemitleiden, für die Ehre Frankreichs zu Krüppeln gemacht hat, verlangt bedingungslose Demut, ebenso wie ihre Generäle und der König, der sein wohltemperiertes Schlafgemach im fernen Versailles nicht verlassen muss, um seine Regimenter und Bataillone an den wechselnden Fronten zu verschieben.

Gerade einer jener Generäle, der das Schicksal so vieler Soldaten maßgeblich bestimmte und dessen Erbe Frankreich in diesen Jahren immer noch umtreibt, fand seine letzte Ruhestätte sinnigerweise genau hier, im Hôtel des Invalides, diesem stummen Zeugen der großen Schrecken des Krieges. Napoleon Bonaparte, der vom General zum Kaiser aufgestiegen war und mit seinem kriegerischen Elan die Ordnung Europas im nachrevolutionären Frankreich und der Welt so nachhaltig verändert hatte. Die Nachwehen dieses Furors halten Frankreich an diesem 16. Mai des Jahres 1871 noch immer im Griff. Es war gerade Charles Louis Napoléon Bonaparte gewesen, der als Napoleon III. seit 1851 nach einem Staatsstreich ein autoritäres Empire nach dem Vorbild seines berühmten Onkels errichtet hatte, der Frankreich in diesen unseligen Krieg mit Preußen geführt hatte. Seit der Niederlage bei der Schlacht von Sedan am 1. September 1870 war der letzte Kaiser der Franzosen von den Preußen unter Arrest gestellt worden. Drei Tage später wurde in Paris die Dritte Republik ausgerufen, Napoleon nach Schloss Wilhelmshöhe bei Kassel verbracht, wo er bis zu seiner Verbannung nach England am 19. März 1871 inhaftiert blieb. Am Vortag hatte die kurze Episode der Pariser Kommune gerade erst begonnen. Noch träumte Napoleon III. in seinen durch Blasensteine vergällten Nächten von der Wiedererrichtung seines Empire. Wie einst Napoleon Bonaparte wollte er nach dem Vorbild der Herrschaft der Hundert Tage wieder in Frankreich landen und die Macht noch einmal übernehmen. Es sollte nicht mehr dazu kommen; er starb knapp eineinhalb Jahre später im englischen Exil an ebenjenen Blasensteinen, da der die Operation durchführende Arzt nicht ganz firm in der Verwendung des damals neuartigen Chloroforms war. Das Ende, selbst das eines Kaisers, kann oft profan sein.

Im Hôtel des Invalides jedenfalls gedachte man damals noch immer des unvergleichlich größeren Ruhms von Napoleon I. Neben seinem Grabmal befand sich auch eine von Charles Émile Seurre gestaltete Bronzestatue Napoleons, im Zentralbogen der oberen Galerie auf der Südseite des Ehrenhofs, des Cour d’Honneur. Aber das Andenken an den kleinen Korsen schien in diesen Jahren schon zu bröckeln, nannte man die Bronzestatue doch im Volksmund nur spöttisch Le Petit Caporal.

Diese Bronzestatuen, diese Reiterstandbilder, diese mächtigen Prunkbauten nach antikem Vorbild mit attischen Säulen oder ganz im Stil der Renaissance, nach humanistischem Vorbild, mit der Sehnsucht nach dem Ruhm einstiger Größe in der Nachfolge römischer Kaiser: Sie alle zeugen von der machiavellistischen Großmannssucht der jeweiligen Herrscher, die ihr Machtstreben auf dem Rücken der Ausgebeuteten und Entrechteten ausüben, auf den Schultern des gerade galoppierend entstehenden Proletariats abladen, das, von der Last erdrückt, nur gebeugt und verhutzelt einherschreiten kann wie die verkrüppelten Soldaten des Hôtel des Invalides. Ausdruck der Macht ist auch die Colonne Vendôme, dieser Koloss einer Säule, errichtet nach dem Vorbild der Trajanssäule des gleichnamigen römischen Kaisers in Rom, der sich schier unglaubliche 44 Meter in den Himmel schraubt, Phallussymbol der Herrschaft Napoleons, bekränzt von einer Bronzestatue des Korsen, ebenjener von Charles Émile Seurre gestalteten Statue, die später in den Cour d’honneur des Hôtel des Invalides verbracht werden sollte. Le Petit Caporal thronte erst seit 1833 auf der Colonne Vendôme, nachdem eine von Antoine-Denis Chaudet geschaffene Bronze 1814 entfernt und vier Jahre später schließlich eingeschmolzen worden war. Ausgerechnet Bonapartes Neffe Napoleon III. ließ den kleinen Korporal entfernen und durch eine Kopie der ursprünglichen Statue ersetzen. So wiederholt sich Geschichte immer zweimal, wie Karl Marx – im Übrigen bezogen auf das Machtstreben der Bonapartisten – in diesen Jahren in seiner Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte notieren wird. Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.

Marx ließ die Machtergreifung Napoleons III. noch Jahre nicht los, zwei Jahre vor den Ereignissen am Place Vendôme erschien die zweite Auflage seiner Schrift, die mit geradezu hellseherischen Worten schließt. Von den widersprechenden Forderungen dieser Situation gejagt, zugleich wie ein Taschenspieler in der Notwendigkeit, durch beständige Überraschung die Augen des Publikums auf sich als den Ersatzmann Napoleons gerichtet zu halten, also jeden Tag einen Staatsstreich en miniature zu verrichten, bringt Bonaparte die ganze bürgerliche Wirtschaft in Wirrwarr, tastet alles an, was der Revolution von 1848 unantastbar schien, macht die einen revolutionsgeduldig, die andern revolutionslustig und erzeugt die Anarchie selbst im Namen der Ordnung, während er zugleich der ganzen Staatsmaschine den Heiligenschein abstreift, sie profaniert, sie zugleich ekelhaft und lächerlich macht. Den Kultus des heiligen Rocks zu Trier wiederholt er zu Paris im Kultus des napoleonischen Kaisermantels. Aber wenn der Kaisermantel endlich auf die Schultern des Louis Bonaparte fällt, wird das eherne Standbild Napoleons von der Höhe der Vendôme-Säule herabstürzen.

An all das muss an diesem 16. Mai 1871 ein nicht mehr ganz junger Mann denken, der gedankenverloren den Kommunarden dabei zusieht, wie sie den Platz rund um die Colonne Vendôme mit Stroh und Mist auslegen. Alles entsteht, um wieder zu vergehen, Menschen wie Ereignisse, Tiere, Bäche, Steine, alles nur singuläre Dinge ohne metaphysischen Mehrwert, bloße Materie. Jedes Ding hat seine Freiheit, seinen Individualismus. Deswegen Schluss mit dem ewigen Machtstreben der alten Eliten, deren Symbol diese ästhetisch wie moralisch scheußlichen Säulen und Bronzen sind, Schluss mit diesen Bonapartisten und ein Lob auf die Kommunarden, die mittlerweile die Weisheit von Proudhon auf den Lippen führen. Eigentum ist Diebstahl. Her mit der Kommune, eine Gemeinschaft Gleicher unter Gleichen, das ist die Utopie. Es lebe die Anarchie, die Herrschaftslosigkeit, denn zu lange sind wir nur beherrscht worden. Jetzt soll niemand mehr herrschen.

Bei diesen Gedanken musste der Mann verächtlich ausspucken und verfluchte seine trockene Kehle, eine Folge seiner immensurablen Trunksucht, die ihm nachgesagt wurde. Vielleicht kam das staubige Gefühl am Gaumen auch von seiner Vorliebe für den Tabakkonsum, das war möglich. Sein leicht aufgedunsener und untersetzter Körper, die Ringe unter den übernächtigen Augen sprachen eher für Ersteres. Er kramte bedächtig in seinen Taschen und stopfte sich die für ihn so markante Pfeife, mit der er sich schon in seinem bekannten Selbstbildnis dargestellt hatte. Damals hatte er sich beim Haschischrauchen porträtiert, was keinen geringen Skandal ausgelöst hatte. Aber als Maler wusste er sich zu inszenieren, denn je mehr Aufmerksamkeit man in der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen vermochte, umso mehr würde man als Künstler wahrgenommen. Auch die Preise seiner Bilder würden im Gleichschritt mit seinem Ruhm steigen. Das hatte er sich von einem seiner Freunde aus der Brasserie Andler, dem Tempel des Realismus, abschauen können, der ein Meister der Selbstinszenierung war: dem Dichter Charles Baudelaire. Aber auch die anderen Bekannten aus dem Andler, wie der Dichterfreund Jules Champfleury oder der Sozialtheoretiker Pierre-Joseph Proudhon, huldigten dem Realismus wie der mittlerweile berühmte, von zahlreichen Skandalen umwitterte Mann mittleren Alters, der sich an diesem regnerischen Vormittag 1871 bedächtig seine Pfeife stopfte. Sein Name war Jean Désiré Gustave Courbet und sein Ruhm reichte über die Barrikaden des Place Vendôme weit hinaus. Courbet ist an diesem Vormittag des 16. Mai 1871 nicht ganz 52 Jahre alt und steht auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Die Kommune hat ihn zum Beauftragten für Kunstangelegenheiten ernannt und mit dem ihm eigenen Eifer hat er die Demontage der Colonne Vendôme vorangetrieben, diesem Symbol des Machtstrebens der Bonapartisten als Vertreter des verhassten Empire. Heute nun ist es soweit, nur ein wenig Stroh hier, ein wenig Mist da, dann kann sich der Petit Caporal auf dem Untergrund ausruhen, der ihm eigentlich gebühren würde, auf dem Misthaufen der Geschichte.

Plötzlich flattern die Vögel auf und Courbet folgt gedankenverloren ihrem Formationsflug über den Platz. Er bewundert ihre synchronen Bewegungen, ohne sie ganz zu verstehen. Die Stare nutzen den gemeinsamen Flug etwa, um weit übermächtigere Beutegreifer zu verwirren und abzuschütteln. Courbet weiß auch nicht, dass die Betriebsamkeit der Vögel ihrem unersättlichen Hunger geschuldet ist, denn ihr Atmungssystem, ihre Herz-Lungen-Luftsack-Maschine, durch die die Luft anders als bei den Säugetieren hindurchströmt, ermöglicht ihnen erst zu fliegen. Die Atmung wiederum ist Voraussetzung ihres beschleunigten Stoffwechsels und lässt das Herz etwa bei Spatzen bis zu 800 Mal pro Minute schlagen und die Körpertemperatur auf 42 Grad steigen, dicht an die Todesgrenze, daher auch ihr ständiger Hunger nach Nahrung. Alle Vögel haben Federn und zahnlose Schnäbel, denkt Courbet. Sie können nicht beißen, sondern nur reißen; nicht kauen, nur schlucken. Den Rest übernehmen kleine Steinchen, die anstelle der Zähne die Nahrung mithilfe der Magenwände zerkleinern.

Nun erkennt Courbet, dass er sich geirrt hat. Es sind Tauben, die den Place Vendôme umschwirren, ihre runden Bäuche machen sie zu eleganten Fliegern. Ihrem üblen Ruf als Ratten der Lüfte kann Courbet nicht viel abgewinnen. Nach einer Weile lassen sich die Vögel wieder auf den Simsen der umliegenden Häuser nieder und harren der Dinge. Auch die Kommunarden sind nun bereit. Ein Gerüst wird hastig errichtet, mehrere grobe Seile und eine Winde herbeigeschafft, der Platz füllt sich langsam mit Schaulustigen. Es lockert auf und die Sonne kommt hinter den Wolken hervor. Courbet beginnt zu schwitzen und öffnet seinen halblangen Mantel. In der Ferne hört man das Läuten einer Kirchenglocke. Totengeläut.

So eine gewaltige Demontage muss gut geplant werden. Courbet hatte vor allem aus ästhetischen Gründen den Abriss der Säule gefordert, schließlich war sie ihm in den letzten Jahren ein täglicher Dorn im Auge gewesen, er wohnte ganz in der Nähe des Place Vendôme. Stolz steht die Colonne auf einem mächtigen Sockel. Die Säule selbst besteht aus 98 Steintrommeln, die mit einem Bronzerelief nach Zeichnungen von Pierre Bergeret verkleidet sind und von verschiedenen Künstlern ausgeführt wurden. Gezeigt werden Schlachtenszenen, Triumphe Napoleons, ganz in der Tradition Trajans, der für seine Siegessäule Szenen aus seinem erfolgreichen Feldzug gegen die Daker verewigen ließ. In genau diese Tradition wollte sich auch Napoleon Bonaparte stellen, denn immer ist das Spiel um die Macht auch ein Ringen um die Vorherrschaft, um Symbole und Bilder, die diese Macht repräsentieren. Nur so ist zu verstehen, dass Napoleon so viele Serien an Münzen mit seinem Konterfei nach antikem Vorbild, im Profil und ganz nach der Art der römischen Cäsaren, in Umlauf gebracht hat. Er, der legitime Nachfahre Trajans, wird so selbst mythologisch überhöht und begründet seine Allmachtsansprüche, die ein einfacher General des Direktoriums, ein späterer Konsul, ansonsten niemals stellen dürfte. Dafür folgten ihm die Massen, dafür liebten ihn die Franzosen, denn Napoleon war es, der diesem in den Revolutionswirren zerschundenen Land wieder eine Ahnung von Größe und Ehre vermitteln konnte, die einer ganzen Nation die Brust vor Stolz nur so schwellen ließ. Courbet wendet sich von diesem Gedanken angewidert ab. Keine Herrschaft, endlich keine Herrschaft mehr, egal von wem.

 

Die Szenen auf dem Relief der Colonne huldigen den militärischen Erfolgen des kleinen Korsen im österreichisch-russischen Krieg von 1805, die Bronzereliefs wurden aus 133 erbeuteten Kanonen aus der Schlacht von Austerlitz gegossen, Napoleons wohl größtem Sieg als Feldherr der französischen Revolutionstruppen, als der Korse die Armeen des österreichischen Kaisers und des russischen Zaren mithilfe der Sonne von Austerlitz vernichtend schlug. Das Reliefband, das sich schneckenartig emporwindet, besteht aus 425 bronzenen Platten und hat eine Länge von schier unglaublichen 280 Metern. Vorerst wird sie unter den argwöhnischen Augen Courbets nach und nach demontiert und an einen sicheren Ort verbracht werden. Später konnte immer noch entschieden werden, wie mit den Reliefs zu verfahren wäre.

Nun wird die Säule in mehrere Stücke zersägt, eine anstrengende, langwierige Arbeit, die sich eine Zeitlang hinzog. Unterdessen füllt sich der Place Vendôme mit noch mehr Schaulustigen, die sich unter Johlen und Schreien auf das große Ereignis einzustimmen versuchen. Weinflaschen und Schnapsgläser werden herumgereicht, Wäscherinnen machen schmutzige Witze auf Kosten der Bonapartisten im Speziellen und der Monarchisten im Allgemeinen. Straßenjungen in zerrissenen Kitteln halten Maulaffen feil und sind sich dennoch bewusst, einem bedeutenden Moment beizuwohnen. Handwerker und Arbeiter in der zerschlissenen Uniform der Nationalgardisten rauchen und spucken abwechselnd aus, das alles mit einer geradezu gravitätischen Gleichmütigkeit. Dann geht ein Raunen durch die Menge; die langen, groben Seile werden an der Säule angelegt. Nun kann es nicht mehr lange dauern, bis dieses verdammte Symbol der reaktionären Herrschaft im Staub der Geschichte liegt. Courbet sieht kurz auf und wechselt ein paar Worte mit einem kräftigen, jungen Mann, dem der Schweiß von den Schläfen rinnt. Er ist es gewesen, der als Erster bis ganz nach oben auf die Plattform geklettert ist und das erste Sägen der Blöcke übernommen hat. Courbet bekommt ein verständnisvolles Nicken auf seine Frage, die im Johlen der Menge untergeht. Im Inneren der Säule führt eine Treppe bis ganz nach oben, was die Arbeiten ein wenig einfacher und ein bisschen weniger gefährlich macht. Noch ist keiner der eifrigen Kommunarden zu Schaden gekommen oder abgestürzt. Das wäre auch zu viel der Ehre für den vertriebenen Kaiser gewesen, dass noch in seiner Abwesenheit die Knechte seiner Herrschaft für ihn hätten leiden müssen.

Courbet stopft sich seine Pfeife und setzt sie in Brand. Auch hält er eine Weinflasche griffbereit und nimmt von Zeit zu Zeit einen kräftigen Schluck. Langsam bessert sich die kehlige Dürre auf seinem Gaumen, langsam kommt wieder Leben in seine roten Wangen an diesem unseligen wie bedeutungsvollen Tag, den er schon so lange herbeifantasiert hat. Nun aber ist alles real und die Colonne Vendôme ein Ding wie jedes andere, das der Maler wie jeder Mensch nach seiner Wahrnehmung als Individuum empfinden kann. Wissen um zu können, das war mein Streben, denkt Courbet. Imstande zu sein, die Sitten, die Gedanken und das Antlitz meiner Zeit so zu übertragen, wie ich es empfinde, nicht nur ein Maler, sondern auch ein Mensch zu sein, mit einem Wort, lebendige Kunst zu schaffen – das ist mein Ziel. Ein Ziel, zu dem es auch gehören konnte, andere, dem Realismus ferne Kunst zu entfernen, zu zerstören, niederzureißen. Gerade die mythologisch-idealistische Überhöhung der Colonne Vendôme war eine Verhöhnung für jeden echten Republikaner, ein Schlag ins Gesicht jedes wahren Anarchisten, dem die Freiheit von Herrschaft über alles geht, sogar über Leichen.

Courbet schwitzt, aber lächelt. Nun ist es soweit. An die dreißig Männer stellen sich in mehreren Reihen auf, ihre schwieligen Hände ergreifen die groben Seile. Sie warten geduldig auf ein Signal. Im Nachhinein könnte keiner der Augenzeugen mehr sagen, wer dieses wohl gegeben haben mag, aber die Menge setzt sich unter den ohrenbetäubenden Schreien des Volkes in Bewegung. Muskeln werden gespannt, Sehnen gestreckt, Kräfte freigelassen, gemeinsam rücken die Männer der Säule zu Leibe. Ein wenig Sorge bereitet ihnen der massive Sockel aus Porphyr, der in Algajola auf Korsika gewonnen worden war und auf dem die Inschrift noch für ein paar Augenblicke vom untergegangenen Kaiserreich zeugte. Napoleon Imperator Augustus, widmete dieses Denkmal des Kriegs in Deutschland im Jahre 1805, vollendet in drei Monaten unter seiner Führung, gemacht aus vom Feind erbeuteter Bronze, dem Ruhm der Grande Armée.In den Staub mit diesem Andenken, denkt sich Courbet und spuckt aus. Doch dann geschieht das Unerwartete, wie oft der Weltenlauf durch eine profane, kuriose Albernheit aufgehalten wird. Die Seile reißen. Die Säule bleibt stehen. Eilig werden neue, noch stärkere Seile herbeigeschafft und drapiert. Wieder das Raunen in der Menge und wieder das Spannen der Muskeln und das Straffen der Sehnen. Ein Ruck, doch erneut reißen die Seile, als wären die Säule und Napoleon und dieses ganze alte, verrottete Frankreich mit einem unheilvollen Fluch belegt.

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