Czytaj książkę: «Joseph Roth - Letzter Donauwalzer»

Czcionka:

Bernd Oei

Joseph Roth: Letzter Donauwalzer

Grenzgänger zwischen Philosophie und Poesie, Nr. 4

Bernd Oei

Joseph Roth

Letzter Donauwalzer

Literaturwissenschaft

Impressum

Text: © 2021 Bernd Oei

Umschlag: © 2021 Belinda Helmert

Verantwortlich

für den Inhalt: Bernd Oei

Malerstr. 63

28207 Bermen

kontakt@berndoei.de

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Verbrannte Freiheit ist wie Alkohol 5

1. Zeitgeist und Biografie 11

2. Erzählungen 33

2. 1. Der blinde Spiegel 33

2. 2. Stationschef Fallmerayer 38

2. 3. Triumph der Schönheit 41

2. 4. Die Büste des Kaisers 44

2. 5. Der Leviathan 48

2. 6. Die Legende vom heiligen Trinker 54

3. Frühe Romane (vor 1930) 60

3. 1. Das Spinnennetz 60

3. 2. Hotel Savoy 70

3. 4. Die Flucht ohne Ende 106

3. 5. Rechts und Links 121

3. 6. Der stumme Prophet 136

4. Späte Romane (nach 1930) 157

4. 1. Hiob 157

4. 2 . Radetzkymarsch 176

4. 3. Tarabas: Ein Gast auf dieser Erde 201

4. 4. Beichte eines Mörders 216

4. 5. Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters 235

4. 6. Die Kapuzinergruft 255

4. 7. Die Geschichte von der 1002. Nacht 275

Epilog: Der Himmel brennt 300

Prolog: Verbrannte Freiheit ist wie Alkohol

Fortschreitender Untergang. Die bittere Kunst des Abschiednehmens. Gekannt haben ihn viele, bewundert manche, wirklich geliebt haben ihn nur wenige. Stefan Zweig gehört zu ihnen. Er wirft Rosen auf sein Grab in 1, 5 km südöstlich von Paris, der Stadt seiner letzten Zuflucht1 und verfasst einen Nachruf, der Zeugnis von Betroffenheit und liebevollem Verständnis für sein Werk ablegt. Roth ist am 23. Mai 1939 zusammengebrochen, als er vom Suizid von Ernst Toller, einem seiner Leidensgenossen, im amerikanischen Exil erfährt. Viele bringen sich damals aus Verzweiflung über den unaufhaltsamen Erfolg der Faschisten um. Roth trinkt sich langsam zu Tode. In wenigen Jahren altert er so rasch, dass ihn selbst Bekannte für seinen Vater halten. Ohne Hochprozentiges kann er nicht schreiben und ohne zu schreiben nicht leben. Als man ihn in Spital Necker bringt, um eine Lungenentzündung zu diagnostizieren, ahnt man nicht, wer er ist oder was er ist: der abrupte Entzug, begleitet von Delirium Tremens, besorgt den Rest; Joseph Roth stirbt mit 44 Jahren an trunken-gebrochenem Herzen.

Am 30. Mai, dem Tag seiner Beerdigung, regnet es. Anders als beim Kaiser: „An jenen Sommermorgen regnete es grundsätzlich nicht und oft leiteten sie einen Sonntag ein.“2 Es ist auch kein Sonntag, sondern Dienstag.

Zweig, ein anderer Grenzgänger ahnt, dass er Roth bald nachfolgt. Er spricht von einem Menschen, der ein „getretenes Herz“ hat, das nicht abzustumpfen will. Menschen mit Karamasowischen Blut in den Adern – Roth stammt aus Galizien – trinken sich zu Tode. Ihre Frauen werden wahnsinnig oder schizophren. „Roth kann man nicht helfen. Seine Narrheit ist ein Faß ohne Boden.“3

Der staatenlose, von der Gestapo gesuchte Roth bleibt Österreicher, das heißt ohne Nationalität, denn die Habsburger Donaumonarchie war ein Reich, ein Vielvölkerstaat, ein europäisches Haus. Er identifiziert sich mit einem seiner berühmtesten Reportagen Juden auf Wanderschaft. Heimat kennt keinen Ort oder Platz, nur Verbundenheit mit der k. u. k. Monarchie und die gibt es schon lange nicht mehr. Er hat nicht nur einen Krieg, sondern eine Welt verloren. Zerrissenheit ist sein zweites Ich. Zuletzt lebt er als Schriftsteller isoliert, von finanziellen Zuwendungen Zweigs abhängig.

Sein weitblickender und tiefer Sinn, vor allem der politische Sachverstand, wird erst nach seinem Tod entdeckt, obschon sein Sprachgenie schon zu Lebzeiten Legende ist. Erfüllt von Frömmigkeit, der nichts Moralisierendes anhaftet. „Keine menschliche Tugend hat in dieser Welt Bestand, außer einer einzigen: der echten Frömmigkeit. Der Glaube kann uns nicht enttäuschen, da er uns nichts auf Erden verspricht. Der wahre Gläubige enttäuscht uns nicht, weil er auf Erden keinen Vorteil sucht.“4

Das Leben in Agonie. Er sieht die Apokalypse als einer der ersten voraus, nachdem er bereits als junger Schriftsteller, als Journalist und Korrespondent der Frankfurter Zeitung (FZ) ganz Europa gesehen hat. Sein Landsmann, geborener Schicklgruber aus Braunau, ist fünf Jahre vor ihm geboren. Roth hat in dem Führer, diesem Messias der Verblendeten stets den leibhaftigen Satan gesehen und ist an dem Zuspruch, den er aus aller Welt erhält, zerbrochen. Drei Jahre nach seiner Emigration 1933 mental ausgebrannt, wie tot: „Es gibt für mich...kein Thema, das mir gestatten würde, einen Artikel mit einem Mindestmaß von Zuversicht zu schließen… Nun, an diesen Rest des europäischen Gewissens glaube ich nicht.“5

In Roth begegnen wir einem Autor, der seine Gabe Gottes uneigennützig in den Dienst der Menschen stellt. „Durch den Humanismus über den Nationalismus in die Bestialität.“6 Am Ende, das schon sehr zeitig bei ihm beginnt, sieht Roth keinen Sinn mehr in seiner Leidenschaft für das Menschliche im Menschen. Schon lange haben sich seine Figuren, die Trottas voran, resignativ ergeben und ihren Platz in der Kapuzinergruft eingenommen.

Der verbrannte Himmel. Titel meiner ersten Studie zu Roth., dem hoffnungslosen Trinker und Alkohol wirkt wie Feuer. Die tragische Erkenntnis Celans, gleichfalls aus der Bukowina7 stammend: Manchmal ist Überleben schlimmer als Totsein. Beide sind Vertriebene, jüdische Migranten aus dem orthodox chassidisch geprägten Osteuropa, die im Westjudentum nur Fremdheit erblicken. Celan, eine Generation nach Roth, wird Zeitzeuge des Holocausts, den Roth lange vor der Bücherverbrennung voraussieht.

Er muss erleben, wofür Worte fehlen und worüber doch nicht geschwiegen werden darf. Was könnte Roths selbstzerstörerische Ader charakteristischer beschreiben als seine Aussage: „Verbrannte Freiheit - Dichtung ist wie Alkohol.“ Längst ist die Poesie von der Wirklichkeit eingeholt worden, selbst die kräftigen Farben in Roths schillernder Sprachsymbolik übermalt vom Blut der Opfer einer Gewaltorgie ohne Beispiel, für die jene Metapher vom „taumelnden Kontinent“ (Philipp Blom) noch euphemistisch klingt. „Vielleicht haben wir diese Bastion nur so lange zu halten, bis ... das deutsche Volk und eine Literatur wieder frei ist und abermals einer schöpferischen Einheit dem Geiste dient.“8

Roths Geburtsort Brody9 bildet den Inbegriff eines völkischen Schmelztiegels, der um die Jahrhundertwende aufgrund der revolutionären Gärung und der nationalen Identitätssuche in ein Pulverfass umschlägt. Die europäische Frage entschied sich zweimal in Österreich: zunächst durch die Geburt der deutschen Nation unter Bismarck10 und ein zweites Mal durch die Wahl eines Weltvernichters, der vom deutschen Unvermögen zur Demokratie profitierte. Roth personifiziert den traumatischen Versuch, sich als Europäer zu behaupten. „Das Faktum der Liebe“, schreibt Zweig, „wird niemals wegzulügen sein aus dieser Welt“, doch es sollte sich dem Barbarismus als nicht gewachsen erweisen.

Für Roth gilt: seine Träume implodieren, weil die Sehnsucht explodiert; jenes unstillbare Verlangen nach Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit inmitten der Aufrüstung, des Hasses und der Chauvinismen, das keinen Platz lässt für Kosmopoliten. Kaum ein Schriftsteller personifiziert den Untergang seiner Zeit, die metaphysische Obdachlosigkeit mehr als Roth.

Zweig nennt ihn treffend einen „armen Verschwender“, nach einem Roman von Ernst Weiß (1936)11. Roth verschwendet sein Talent an alle, seine Solidarität kennt keine geographischen oder politischen Grenzen.

Die Agonie setzt bereits in Wien ein. Angesichts der Beerdigung des Kaisers „...ergriff mich die Zeremonie, mit der die Majestät und das war Österreich-Ungarn zu Grabe getragen wurde. Die Sinnlosigkeit seiner letzten Jahre erkannte ich klar, aber nicht zu leugnen war, daß eben diese Sinnlosigkeit ein Stück meiner Kindheit bedeutete. Die alte Sonne der Habsburger erlosch, aber es war eine Sonne gewesen.12

Die Sonne ging unterim Reich der Donau; dabei verlor der Mensch Wärme und Licht. Er büßte Resilienz ein, der jeder bedarf, um schwere Krisen zu überstehen. Kritiker, die Roth einen rückwärtsgewandten Utopismus vorwerfen, lässt sich entgegnen: er erkennt in der Vergangenheit, keineswegs nostalgisch verklärt, das kleinere Übel gegenüber der Zerstörung durch Faschisten, Stalinisten und Nihilisten. Er erkennt, dass zu einem guten Orchester nicht die elf besten Geiger taugen, wenn der Klavierspieler fehlt und dass ein guter Dirigent unverzichtbar bleibt. Roths Restauration ist eine konservative Haltung bezogen auf die guten Seiten, die das Vielvölkerreich besaß. Er durchlebt Ideale, Ideen Sprachen auf seinen Reisen und Reportagen durch ganz Europa. Niemals verklärt er Unrecht oder Rückständigkeit, doch ein Dreivierteltakt bleibt ein Dreiviertel, wenn schon das Ganze nicht zu haben ist.

Walzer leitet sich von der Wanderschaft ab, so walzt sich Roth durch sein dreiviertel Leben, das restliche Viertel genehmigt er sich im Café. Mitte des 18. Jahrhunderts, am Hofe Maria Theresias in Schönbrunn, entsteht der Gesellschaftstanz, der sogar in Paris Mode macht. Man dreht sich halt gern im Kreis.

Die Donau ist ein Fluss von fast 3000 km Länge, die heute durch zehn Länder fließt und zudem die älteste Handelsroute Europas. Bei Schloss Greinburg in Oberösterreich misst sie annähernd 20 m und bei Budapest weitet sich das blaue Band auf einen halben Kilometer.

Die Dialektik des Fortschritts: Fortgeschritten ist nur der Untergang, den die Donaumonarchie tänzerisch zelebriert. Zweig würdigt in Joseph Roth den Kronzeugen des Verfalls, das mehr war als ein Reich, eine Religion. Bezeugen lässt sich nur die Gegenwart in der Gestalt der Vergangenheit. Zu Roths Generation gehören neben Stefan Zweig (1881-1942) Robert Musil (1880-1942), Franz Werfel (1890-1945), Franz Kafka (1883-1924) – Erwähnung finden hier nur die in der „Grenzgänger“- Reihe berücksichtigten österreichischen Autoren – und die etwas ältere Generation um Arthur Schnitzler (1862-1931), Hugo von Hofmannsthal (1874-1929), Rainer Maria Rilke (1875-1926), sowie die nachfolgende um Georg Trakl (1887-1914), Heimito von Doderer (1896-1966) und Hermann Kesten (1900-1996). Sie alle gehören zur Wiener Moderne (Rilke, Werfel, Kisch und Kafka wuchsen in Prag auf) neben Bahr, Behr-Hofmann, Kraus, Friedell, Polgar, Meyrink, Salten: bei allen Unterschieden sind sie sich des Untergangs bewusst, Gegner der Nationalsozialisten und müssen ins Exil, sofern sie nicht die Gnade des rechtzeitigen Todes ereilt.

Wien bildet neben Paris das künstlerische Epizentrum der Jahrhundertwende; die Donaumonarchie ist reich an literarischen Blüten. Wer sich auf der Flucht vor dem KZ nicht umbringt wie Benjamin oder an Herzversagen stirbt wie Schickele, überlebt selten die Überlebensschuld im Exil.

Die folgende Monografie, eine modifizierte, überarbeitete und erweiterte Fassung von Der verbrannte Himmel, stellt nicht mehr das journalistische Werk Roths vor,13 sondern konzentriert sich auf die Prosa. Häufig wird von drei Phasen gesprochen, die zeitlich nicht klar voneinander abgrenzbar sind: der rote Joseph gehört zur sozialistischen Phase der Rebellion14, an die Roth nur bis zu seiner Reise durch das stalinistische Russland glaubt. Ihr folgt eine jüdische Identitätsbestimmung, die mit seiner Reportage Juden auf Wanderschaft ab 1925 einsetzt.15 Die letzte Periode gilt als restaurativ an, in der die Habsburger Donaumonarchie zu Grabe getragen wird.16 Jedem Werk wird eine Komparatistik an die Seite gestellt, um Verbindungen, Analogien und Differenzen zu Schriftstellern seiner Zeit herzustellen. Roth einer Philosophie zuzuordnen ist schwieriger. Zwar studiert er das Fach neben Germanistik vor Kriegsausbruch in Wien und sein Denken lässt sich dem Determinismus zuordnen: „Sein Geschichtsentwurf, in dem eine Generationskette an das Haus Habsburg gebunden wird, entstammt der pessimistischen Kulturphilosophie, die in Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ gipfelte.“17

Fritz Hackert, Herausgeber der Gesamtausgabe, nennt die Utopie Roths eine geografisch-politische; da er ortlos bleibt, muss auch ein Bekenntnis zu einem bestimmten Philosophen fehlen. Eine Mischung aus jüdischer Gnosis, Skeptizismus und platonischer Mystik führt zur „Möglichkeit des Möglichen“. Schuldlose Schuld ist das zentrale Motiv.

Joseph Roth schreibt nicht nur zwischen den Zeilen, sondern sitzt auch zwischen den Stühlen. Er beherrscht sechs Sprachen, die im Vielvölkerreich gesprochen werden, aber sein poetisches Deutsch wollen zu Lebzeiten immer weniger lesen. Der Zeitgeist ist progressiv ausgerichtet, blickt nur ungern weh- und reumütig zurück. Dennoch richtet sich Roth, selten im Zorn, gegen die Zeit der Neuen Sachlichkeit, gegen den Expressionismus: er vertritt den kleinen Mann, der er selbst nie sein will, schwimmt gegen den Strom, die Masse, den Niedergang der Kultur. In viele Figuren schreibt er sich ein, ohne in ihnen aufzugehen. Trotz aller Empathie wahrt er eine ironische Distanz. „Es kommt nicht darauf an, zu dichten. Das Wichtigste ist das Beobachtete."18

Die Adressen, unter denen Roth in Wien logierte, sind sämtlich vom Krieg oder architektonischen Umbaumaßnahmen zerstört, fast so, als wollte die Moderne diesen Erzähler auslöschen. Als er Wien nicht mehr betreten kann, wird es zum Schauplatz seiner Romane. Eine Figur, die sein Schicksal vorwegnimmt ist Major Taittinger. Für ihn gibt es nur eine Heimat: die Armee.

Ein dummer Zufall der Geschichte hat ihn in Ungnade fallen lassen, weil er Zeuge an einem Ereignis ist, das man gerne verschweigen möchte. In der modernen Zeit findet er sich nicht zurecht. Als man sein Gesuch ablehnt, in die Armee zurückzukehren, erschießt er sich. Roth hat sich Schluck um Schluck erschossen, oder wie er selbst sagt, „verbrannt“.

Sein letzter Roman endet mit einer für Roth typischen Prophezeiung, die zugleich eine nüchterne Bestandsaufnahme ist, zu der er sich als Chronist seiner Zeit verpflichtet sieht: „Ich könnte vielleicht Puppen herstellen, die Herz, Gewissen, Leidenschaft, Gefühl, Sittlichkeit haben. Aber nach dergleichen fragt in der ganzen Welt niemand. Sie wollen nur Kuriositäten in der Welt; sie wollen Ungeheuer. Ungeheuer wollen sie!“19

Vor dem österreichischen Ungeheuer, das Deutschland und Österreich in den Zweiten Weltkrieg führt und Menschen, das sich wie Marionetten instrumentalisieren lässt, kapituliert Roth.

1. Zeitgeist und Biografie

Der letzte Donauwalzer. Der Radetzkymarsch fällt mit der Machtergreifung und Bücherverbrennung fast zusammen. Jener Satz, den er Trotta im Radetzkymarsch in den Mund legt: „Ich glaube nicht, daß ich irgendwo glücklich sein kann“ kennzeichnet die Weltuntergangsstimmung, die leitmotivisch Roths Werk durchzieht. Angesichts des vorherrschenden Optimismus und der Aufbruchsstimmung wirken seine Titel Die Flucht ohne Ende oder Das falsche Gewicht aussagekräftig wie eine Abbreviatur seiner Artikel. „Roths Helden haben all etwas gemeinsam: die Erfahrung einer gewandelten Welt; sie leben in der Spannung zur Bewahrung ihrer Identität. Entweder haben sie ihre unschuldige Identität verloren oder sie haben sie als schon immer bedrohte bewahrt.“20

Ein Traditionalist ist der galizische Sohn einer chassidischen Kaufmannsfamilie zweifellos. Die Symbolik des Geigenklangs, Inbegriff tragisch-komischer jiddischer Musik, taucht immer wieder in seiner Prosa auf. Hoch die Geige lautet Metapher und Gruß für das Glück, Nieder die Geige für Pech und Unglück. Und so hängen die Geigen tief mit den Jahren, immer tiefer.

Trotz seiner konservativen Ansichten ist der Schriftsteller, besonders als Journalist, auch immer Revolutionär und Reaktionär zugleich. Vor allem die Art seines Schreibens bleibt mit ihrem leicht märchenhaften Unterton der Moderne fern, die er doch auf seine Weise prägt, u. a. durch den investigativen Journalismus und die Neue Sachlichkeit, in dem er in einem seiner Artikel, nicht frei von Sarkasmus, lediglich Preise für die diversen Artikel nennt.

Zwischen Belletristik, Feuilleton und Glosse bewegen sich seine Werke, so dass Roman und Chronik ineinander fließen. „Ein ganzes Leben lang schleppte Roth die Psyche und das Leid seiner Kindheit mit sich herum.“

Das Unglück beginnt früh: Der Vater, offenbar schizophren, kehrt von einer Geschäftsreise nicht zurück. Für die Mutter heißt das, sie darf nie wieder heiraten, denn Verschollene sind nicht tot. Die Familie verarmt rasch. Sein Geburtshaus in Brody liegt nahe der Eisenbahnstrecke, die Symbolik für einen Nomaden, der lebenslang auf Reisen ist und aus Koffern lebt. Ein Weltbürger, der stolz von sich behauptet: „Seit meinem 18. Lebensjahr habe ich in keiner Privatwohnung mehr gelebt … alles, was ich besitze, sind drei Koffer“. Allerdings lebt er zwischenzeitlich auf der Erfolgsspur und in mondänen Hotels und kann sich eine Übernachtung leisten, die den Monatslohn eines Tagelöhners verschlingt. Er ist ein Genussmensch und keinesfalls Minimalist. In jungen Jahren sind ihm Dandy-Allüren nicht abzusprechen. Den Vater und auch Teile seiner Herkunft wird er mystifizieren, somit ist ihm auch das Märchen beinahe in die Wiege gelegt, denn er hat ihn nie kennengelernt. Er ist arm, aber nicht so arm, wie er es glauben machen möchte, immerhin besucht er das Gymnasium und nimmt privaten Violinen-Unterricht. Vielleicht ersetzt er den Vater durch die Hingabe an das Vaterland, das er gleichfalls verliert. Und die Mutter mit seiner Frau, die früh an Schizophrenie erkrankt und damit auch verloren ist.

Roths Romane sind geprägt von der kräftigen farbintensiven Schilderung einer als urwüchsig und vital erlebter Landschaft. Da Natur vom steten Wandel lebt, muss er, der das genaue Beobachten liebt, in ihr ein Gleichnis auf die Gesellschaft erkennen. Von der Mutter Munik statt Moses genannt, will er die Welt verändern. Er stammt aus einer galizischen Provinz, in der Juden am Rande der Donaumonarchie gettoisiert werden, wächst mit sechs Sprachen (deutsch, jiddisch, polnisch, ukrainisch, russisch, tschechisch) auf, die er in seinem Fragment gebliebenen Roman „Erdbeeren“ lebhaft schildert. Für die Matura lernt er französisch hinzu, eine Sprache, die es ihm nicht nur erlaubt, Flaubert im Original zu lesen, sondern auch im Pariser Exil zurechtzukommen.

In jungen Jahren will er das orthodoxe Judentum vergessen, bekennt sich zum Deutschnationalismus und bald darauf zum Liberalismus. Eine wirkliche Prägung aber erfährt er in seinem sozialen Engagement während und nach den Kriegsjahren, als er Zeuge des Zusammenbruches wird, die vielen traumatisierten Kriegsheimkehrer, die Verlierer und den Bodensatz der Gesellschaft kennenlernt. Die politischen Strömungen wechseln, Ideen kommen und gehen. Er erhofft sich Freiheit von der russischen Revolution, die ausbleibt und sogar in ihr Gegenteil pervertiert, Tyrannei und Massenmord zeitigt.

Seine soziale Gesinnung bleibt eine Kontinuität trotz der Annäherung an die Monarchie. Widersprüchlichkeit ist ein Merkmal des Grenzgängers und manchmal ein Zeichen von Intelligenz, die jeder Einseitigkeit oder Eindeutigkeit misstraut. In dem kleinen Österreich, das bald Anschluss an Deutschland sucht, fühlt er sich eingezwängt: „Die Strahlen der habsburgischen Sonne reichten nach dem Osten bis zur Grenze des russischen Zaren.“21

Galizien, die waldreiche Bukowina, das sumpfige Ruthenien, am Fuße der Karpaten, mit der alten Universitätsstadt Lemberg, das ist der Beginn. Roth studiert mit polnisch als Unterrichtssprache.22„Mit wissenschaftlicher Sorgfalt die Grazie des Schriftstellers nähren“ formuliert der geistige Grenzgänger seinen Anspruch.

In Wien, das er Herbst 1914 erreicht, beginnt er früh mit journalistischen Arbeiten. Da nach dem Krieg die meisten seiner Erzählungen in den Zeitungen vorab gedruckt werden, besteht zwischen den beiden Medien Zeitung und Buch ein intrinsischer Zusammenhang. „Leerlaufende Sehnsüchte und mechanistische Beziehungen“ (Hackert) prägen seine Geschichten. Roths glücklichste Zeit dürften seine Reisen durch Südfrankreich 1925 („Die weißen Städte“) gewesen sein, die er teilweise mit Tucholsky und immer an der Seite seines „Wiener Madls“ „Friedl“23 unternimmt: auf den Fotos sieht man ihn meist lachen.

Spätestens seit seinen Reportagen durch Osteuropa hält er den Kommunismus (korrekter Stalinismus) für keine Alternative zum Aufbau einer menschlicheren Gesellschaft, die sein Ziel ist. Viele Anhänger des historisch dialektischen Materialismus, stellvertretend sei hier nur Walter Benjamin erwähnt, der 1927 Moskau und das Gesicht des Terrors kennenlernt, kehren desillusioniert aus Russland zurück. Aber noch ist das Experiment der Weimarer Republik nicht gescheitert, noch hofft Roth und seine Generation, allen semitischen Anfeindungen (Dolchstoßlegende) zum Trotz. Politische Instabilität ist der Normalzustand. „Rat- und Standortlosigkeit“ erscheinen daher als logische Konsequenz jener geografisch-politisch bedingten Utopie. Fiktionen des Faktischen.24

„Seinen Gott hat er nie vergessen.“25 Roth ist kein Atheist, wenngleich er Gottesdienste meidet. Bis zu seiner letzten Erzählung, Die Legendes vom Heiligen Trinker hält er sich eine Hintertür offen. Er hält es mit Voltaire: wenn es Gott nicht gibt, müsste man ihn erfinden. Denn Roth mag das Chaos nicht, in das er blickt und noch weniger den Teufel, der es entfacht und in dem er jenen Despoten antizipiert, der den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich zwingt. Mehr Gegensatz als das deutsche, so genannte Tausendjährige und das Habsburger Reich kann es nicht geben. Die Frage bleibt, an welchen Gott Roth glauben kann. Während Hackert ihn schlussendlich im Katholizismus verortet, tendiert Sternburg zum Hebräischen Gott der Tora.

In jedem Fall recherchiert Roth genau; vergleichbar mit Kafka begibt er sich spät auf Spuren- und Identitätssuche seiner chassidischen Wurzeln. „Es gibt kein schwereres Los als das eines fremden Ostjuden in Wien“. Leitmotiv seiner Konvertierung ist die Politik und damit der Laizismus. Wissen wollen, weshalb man ausgestoßen ist oder wofür man auf Erden zu büßen hat. Auf der anderen Seite, wiederum Grenzgänger, bleibt Roth ein Verfechter der Monarchie österreichischer Prägung, die zumindest einen Außenstehenden kaum mit dem Judentum vereinbar erscheint. „Seine katholischen Bekenntnisse bleiben - wie so vieles in diesem Leben - augenzwinkerndes Koketterien. Seinen Gott aber hat er nie vergessen, und dass die Menschen nicht mehr gläubig sind, ist für ihn das bedrohlichste Zeichen an der Wand der Moderne.“

Die Generation zwischen den Jahrhunderten spürt, dass ein neues Zeitalter angebrochen ist, geprägt durch neue Ideen und eine Säkularisierung, die den Tod Gottes in sich trägt. Technik und Fortschritt sind auf dem Vormarsch, der Einzelne verschwindet darin. Das alte Europa dankt ab, symbolisch mit dem Untergang der Donaumonarchie. Die Wurzeln ihrer Dekadenz liegen in der gescheiterten Märzrevolution, in der erzkonservativen Unterdrückung dessen, was sich Bahn brechen muss: dem Recht auf Selbstbestimmung der Völker. Jean Bodins Begriff der Souveränität ist über 300 Jahre alt, als Roth geboren wird. Auch Rousseaus Traktat „Über den Ursprung der Ungleichheit der Menschen“26- Roth bezeichnet sich während seiner „roten Phase“ als Rousseauisten bezeichnet - skizziert eine modernere Regierungsform als die der apostolischen Majestät.

Bolschewisten führen im kriegsgeschädigten Russland eine Revolution herbei, doch die Sache der Arbeiter, der Rechts- und Besitzlosen vertretende Partei stürzt das Volk in einen Bürgerkrieg und anschließend Tausende in Tod oder Verbannung. Im Westen fühlt sich das Bürgertum, das den Adel zu verdrängen begonnen hat, von beiden Seiten bedroht: von der Despotie als auch der Demokratie. Die Menschlichkeit wird dem ökonomischen Vorteil geopfert.

Sittliche Forderungen, wie sie einst die Religion und im aufgeklärten Vernunftbegriff Kants konstituieren, sehen sich auf dem Müllplatz der Geschichte entsorgt. Alles prostituiert sich. Die Abende werden länger, die Röcke kürzer: „Ich habe wirklich vornehme und in der Tat kurzsichtige Damen gekannt, die eine ganz besondere, nahezu verschämte Art hatten, das Lorgnon zu gebrauchen, so etwa, wie es ihre ganz besondere Art war, die Röcke zu heben.“27

Wissenschaftliche Entdeckungen und technische Neuerungen treiben die Welt in rasender Tollheit voran, doch die soziale Frage und die ethische Entwicklung stagniert, teilweise wird sie rückläufig. Dialektik des Stillstands.

Die Suche der Philosophen nach Weltanschauungen, um den naturwissenschaftlichen Gesetzen metaphysisches (und falsches) Gewicht zu verleihen bleibt vergebens. Nichts ist mehr sicher, selbst die Sprache nicht: „Mein Inneres aber muß ich Ihnen darlegen, eine Sonderbarkeit, eine Unart, wenn Sie wollen eine Krankheit meines Geistes, wenn Sie begreifen sollen, daß mich ein ebensolcher brückenloser Abgrund von den scheinbar vor mir liegenden literarischen Arbeiten trennt, als von denen, die hinter mir sind und die ich, so fremd sprechen sie mich an, mein Eigentum zu nennen zögere.“28

Der Nihilismus - alle Werte gelten nichts oder gleichviel – triumphiert über Konventionen. Eine unüberbrückbare Kluft herrscht zwischen Väter und Söhnen, die Turgenjew nur andeutet, aber nicht in ihrem Ausmaß zu erkennen vermag. Immer mehr Menschen töten im Namen der Freiheit, morden mit guter Absicht, im festen Vertrauen, Gott und Vaterland einen Dienst zu erweisen.

Vordergründig emanzipiert sich der Mensch über den Nihilismus, denn er fördert das Ziel vollständiger Aufklärung und Befreiung aus seiner „selbst verschuldeten Unmündigkeit“, wie Kant formuliert. Die Emanzipation vom tradierten jüdisch - christlichen Gottesbild, die in die Negation Gottes, in Atheismus und, wie Dostojewski zeigt, Fanatismus mündet, hat zur Folge, dass Normen, Werte, ein Sittengesetz neu definiert werden müssen. Humane Evolution tritt an die Stelle technischer Revolution. Pofane Autorität lässt sich durch ethische Postulate kaum restaurieren. Vom Kapitalismus entseelt wird das Ich „entkernt“, die anonyme Gesellschaft, die „Masse Mensch“ siegt. Es verwundert kaum, dass Roth sich mit Ernst Toller intensiv verbunden fühlt und darüber verzweifelt, wie der Riss in einer radikalisierenden Gesellschaft wächst. Im Gestaltungsprinzip Stirb und Werde obsiegt vor allem das Sterben. Im Angesicht des Kahlschlags der Geschichte gilt Kierkegaards Erkenntnis mehr denn ja: Wir können das Leben nur rückwärts verstehen, leben müssen wir es vorwärts.

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