Czytaj książkę: «Uwe Johnson»
BERND NEUMANN
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UWE JOHNSON
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CEP Europäische Verlagsanstalt
© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2014
eISBN 978-3-86393-504-7
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DAS BUCH
Bernd Neumann legte 1996 nach jahrelangen Recherchen eine detaillierte, äußerst materialreiche und fundierte Biografie des Schriftstellers Uwe Johnson vor. Sie erregte seinerzeit große Aufmerksamkeit und sorgte für kontroverse Diskussionen. 2014 im Juli wäre Johnsons 80. Geburtstag gewesen und im Februar ist sein 30. Todestag. Ein Anlass, sich mit Werk und Leben, des »Dichters der beiden Deutschland«, ein Kennwort, welches die Literaturkritik für ihn geprägt hat, erneut auseinanderzusetzen.
DER AUTOR
Bernd Neumann, Germanist und Professor an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität Norwegen in Trondheim. Zahlreiche literaturwissenschaftliche Veröffentlichungen.
INHALT
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Vorwort
I. ÜBER DIE BALTISCHE SEE AN DIE NEBEL UND DIE MÜRITZ
Erstes Kapitel Schwedische Vorväter. Aus dem schwedischen Ljuder nach Anklam in Pommern. Ein Vorspiel im 19. Jahrhundert
Zweites Kapitel Die Eltern und die »Deutsche Heimschule«
Drittes Kapitel Jugend und Schulbesuch in Recknitz und Güstrow. Der Abiturient
II. VON WARNOW UND PLEISSE BIS AN DIE SPREE
Erstes Kapitel Eine Aufnahmearbeit und ein lyrisches Intermezzo
Zweites Kapitel Studium in Rostock. Uwe Johnsons »Gute Mutter« und eine erste Liebe
Drittes Kapitel Ingrid Babendererde. Überlegungen zum biographischen Hintergrund
Viertes Kapitel Leipzig oder Die Schule der Modernität
Fünftes Kapitel Versuche, Ingrid Babendererde zu publizieren. Freundschaft mit Hans Mayer und Begegnung mit Peter Suhrkamp
Sechstes Kapitel »Freier« Lektoratsmitarbeiter. Uwe Johnsons Verlagsgutachten. Versuche, eine feste Anstellung zu finden
Siebentes Kapitel Eine Liebe in Leipzig und ein Freundeskreis
Achtes Kapitel »Ursprünge« der Mutmassungen aus dem Freundeskreis
Neuntes Kapitel Mutmassungen über Jakob. Überlegungen zum näheren Verständnis des Romans
III. AN SPREE UND HAVEL
Erstes Kapitel Ein Umzug im Jahr 1959. Johnson in Westberlin – Erste Begegnung mit Peter Suhrkamps Nachfolger
Zweites Kapitel Reise in die USA, 1961. Treffen mit Faulkner. Die Errichtung der Mauer. Freundschaft mit Günter Grass
Drittes Kapitel »Ursprünge« des Dritten Buches
Viertes Kapitel Die Kesten-Affäre
Fünftes Kapitel Prag-Aufenthalt und Flucht von Elisabeth Schmidt
Sechstes Kapitel Hochzeit und Rom-Aufenthalt
Siebentes Kapitel Gulliver oder »Vom Minimum an Solidarität«
Achtes Kapitel 1963. Tod der Mutter. Johnson und die Gruppe 47. Karsch, und andere Prosa. Rudolf Augstein
Neuntes Kapitel Uwe Johnson als Karsch: Die »journalistischen Jahre« 1964 und 1965. Boykott der Berliner Stadtbahn und Zwei Ansichten
Zehntes Kapitel Zwei Ansichten. Überlegungen für ein näheres Verständnis des Romans
IV. ZU DEN UFERN VON HUDSON UND HACKENSACK UND ZURÜCK
Erstes Kapitel Die zweite USA-Reise, 1965. Helen Wolff. Me-ti erscheint
Zweites Kapitel 1966 – Aufbruch zu neuen Flüssen
Drittes Kapitel Konkretisierung eines Lebenswerks – Aus dem Leben der Gesine Cresspahl
Viertes Kapitel Die Niederschrift der Jahrestage
Fünftes Kapitel 1970. Der erste Band der Jahrestage erscheint. Johnsons Römischer Sommer. Der Büchner-Preis
Sechstes Kapitel Eine neue Romantheorie und fortgesetztes Arbeiten an der »Geburt der DDR aus dem Schoße der Roten Armee«
Siebentes Kapitel Der Tod von Ingeborg Bachmann und eine Reise nach Klagenfurt
V. AN DER THEMSE, WO SIE ZUR NORDSEE WIRD
Erstes Kapitel 1974. Vorbereitungen zur Übersiedlung nach Sheerness-on-Sea. Die Krise
Zweites Kapitel Therapieversuche, Versöhnungsbestrebungen
Drittes Kapitel Selbsttherapie durch Öffentlichmachung der Krise. Thomas-Mann-Preis und Frankfurter Vorlesungen
Viertes Kapitel 1980: Noch einmal Auseinandersetzung mit Martin Walser. Bruch mit Manfred Bierwisch
VI. DIE VOLLENDUNG DER JAHRESTAGE ODER DIE VEREINIGUNG ALLEN WASSERS
Erstes Kapitel Skizze Eines Verunglückten. Noch einmal New York
Zweites Kapitel Jahrestage I–IV. Überlegungen zu einem näheren Verständnis des Romans
Drittes Kapitel Jahrestage, letzter Band. Eine letzte Liebe und ein letzter Blick über das Wasser von Sheerness gen Mecklenburg
Dank
ANHANG
Bibliographie
Daß das Gedächtnis das Vergangene
doch fassen könnte in die Formen,
mit denen wir die Wirklichkeit einteilen.
Uwe Johnson, Jahrestage
VORWORT ZUR NEUAUFLAGE
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Uwe Johnson, der «Dichter der beiden Deutschland», so lautete das Kennwort, das die Literaturkritik für ihn geprägt hatte (und das er nicht sonderlich goutierte), ist lediglich ein halbes Jahrhundert alt geworden. Er kam am 20. Juli 1934 im (damals noch deutschen, heute polnischen) Cammin in Pommern zur Welt, nicht weit von den Ufern der Dievenow entfernt, die sich bei Cammin bereits zum Bodden erweitert, und starb dann in der Nacht vom 23. zum 24. Februar 1984 in seinem Reihenhaus im englischen Sheerness-on-Sea an den Ufern der Themse, die dort bereits in die Weite der Nordsee übergeht. Wie die Weite des Wassers im Zusammenspiel mit den zuweilen nicht weniger reiβenden Strömungen der gesellschaftlich-politischen Entwicklung das Leben und vor allem das Schreiben eines Autors bestimmten, der aus der DDR nach Westberlin, von da nach New York und dann nach Sheerness zog, ist u.a., Gegenstand der nachstehenden Biographie. Sie erschien erstmals vor zwanzig Jahren, im gleichen Verlag, der nun diese Neuausgabe anlässlich des im Jahr 2014 anstehenden 80. Geburts- und 30. Todestages des bedeutenden Schriftstellers Uwe Johnson herausgibt.
Das Vergehen der Zeit erlaubt eine Neueinschätzung aus gewachsenem Abstand und mit gröβerer Objektivität. Uwe Johnsons Werk (und er hat ein Werk hinterlassen, so früh er verstorben ist) handelte nahezu durchgehend von der problematischen „Heimat“ Mecklenburg und von der Zeit unter der Herrschaft des „Dritten Reichs“ und danach in der DDR, der inzwischen ebenfalls verstorbenen „Deutschen Demokratischen Republik“. Hier war Johnson aufgewachsen, und nachdem er Literatur und deren Geschichte in Rostock und vor allem in Leipzig studiert hatte, musste er die DDR verlassen, um als Autor leben zu können. Wie sie den Literaturstudenten geprägt hat, in verblüffender Widersprüchlichkeit zu orthodoxem Marxismus und mit Ausblicken in die neueste, „dekadente“ westliche Literatur vor allem im Leipzig Hans Mayers, geht nicht nur aus der neu aufgelegten Biographie, sondern auch aus Johnsons Klausuren und Verlagsgutachten hervor, die 1992 in zwei Bänden bei Suhrkamp, Johnsons Verlag, erschienen sind. Jeder kundige Rückblick von der Warte neuester Jetztzeit bestätigt die Langzeitwirkung von Johnsons Lebensthema geradezu verblüffend: „Der Untergang der DDR war das Beste, was der deutschen Literatur passieren konnte. Immer wieder beschäftigen sich Romanciers mit den privaten Wirklichkeiten im real existiert habenden Sozialismus …„ (Felicitas von Lovenberg, FAZ, 29.VI.2013). Manche Namen sind im hier gegebenen Kontext eher zufällige – nicht aber der andere und eine Name, der in diesen Zusammenhang gehört, nämlich der des Uwe-Johnson-Preisträgers Uwe Tellkamp. Dessen monumentaler „Turm“ aus dem Jahr 2008 steht als ein literaturgeschichtlicher Meilenstein des deutsch-deutschen Romans allerdings in Johnsons Nachfolge, ein Gegenentwurf zu Günter Grass` völlig und grotesk missglücktem „Weiten Feld“. Tellkamp hat letzteres selbst so gesehen. Der Rückblick von heute aus erkennt zudem die gesellschaftskritische Linie, die, ausgehend von der Schilderung der DDR, wie sie seit Uwe Johnsons ebenfalls monumentalen vierbändigen „Jahrestagen“ vorliegt, bis zu dem Jüngeren sich erstreckt. Wie wiederum die „Jahrestage“ durch die Begegnung mit Hannah Arendt in New York und aus deren Totalitarismustheorie heraus modelliert wurden, ist in der nachstehenden Biographie nachzulesen. Ebenso, dass an Johnsons Abschlusswerk der Jahrhundertschriftsteller Thomas Mann mit seinem deutsch-repräsentativen Literaturbegriff Pate gestanden hat, - eine Nähe, die sich bei Tellkamp stilistisch unübersehbar kundtut. Es offenbaren sich literaturgeschichtliche Wirkungslinien.
Von eigener Ironie erscheint hierbei, dass Tellkamps Roman für viele auch ein Schlüsselroman ist – wobei die aus den „Vorbildern“ Stefan Hermlin und Peter Hacks komponierte Figur des „Eduard Eschschloraque“ nicht nur als ein „sprechender Name“ wiederum in der Thomas-Mann-Nachfolge vor uns steht, sondern mit Hermlin auch einen Akteur bezeichnet, der zum Zustandekommen der Johnson-Biographie einiges beigetragen hatte. Er hat dies zwar im Bewusstsein getan, es ginge um die Rekonstruktion der Geschichte eines im „unmenschlichen Westen“ letztlich unheilbar Gestrandeten – das ändert aber nichts an der kollegialen Dimension von Hermlins Hilfestellung, wenn er wesentliches Material aus dem Leipziger Universitätsarchiv ans Licht zu befördern vermochte. Hier hatte einer Einfluss im alten und ganz gewiss eher „zentralistischen“ als „demokratischen“ System der DDR. Doch „Eschschloraque“ nutzte seinen damaligen Einfluss im Interesse eines „Republikflüchtlings“. In der Kurt-Fischer-Straβe erkundigte sich Stefan Hermlin damals nach Reisezielen und Reisezeiten des präsumptiven Johnson-Biographen; griff, im Beisein von Besucher und Ehefrau, zum Telefon und bestellte doch tatsächlich „allzeit offene Türen“ für den „Kollegen aus Norwegen“. Der enge Gefährte Erich Honeckers, mit dem er während des „Dritten Reichs“ gemeinsam inhaftiert war, handelte in der gleichen Gespaltenheit, einer Doppelheit aus Humanismus und Repression, die auch Tellkamps „Turm“ in seiner Nachfolge der DDR-Darstellung im Kielwasser der „Jahrestage“ kennzeichnet, - wobei beiden, Johnson wie Tellkamp, die gleiche objektive Distanz zu Grass` Geschichtsklitterung der DDR als einer „kommoden Diktatur“ in seinem „Fonty“-Roman zu eigen ist. Doch immer schon hatte Johnson, und das ist hier nachzutragen, mit groβer Hellsichtigkeit in Grass keineswegs einen wahren Freund erblickt (wenn einer diesen Titel zeitweilig hätte beanspruchen dürfen, so wäre das gewiss Martin Walser gewesen). Sondern er hat ihn als einflussreichen (weshalb die nachstehend zitierte Eintragung nur ins abgeschirmte „Merkbuch“ gelangte) Bekannten aufgefasst, der für ihn offenbar weniger ein Schriftsteller-Kollege, als vielmehr der gewiefteste aller literarischen public-relations-Fachmänner der damaligen westlichen Republik gewesen ist – und das lange bevor dieser „Moralist“ dann daranging, die über Jahrzehnte verschwiegene eigene SS-Zugehörigkeit publizistisch als das Häuten der Zwiebel zu vermarkten.
Johnsons in manchen Interviews geäuβerte Reserve gegen das kollektive Arbeiten der Schriftsteller und wohl auch gegen deren Verbände (so etwa im Gespräch mit Inge Dannemann, „Die Glocke“, Nr. 9, 1969) hatte offenbar eine ganz kräftige und bestimmende Wurzel in Johnsons Verhältnis zu Günter Grass. Im Zusammenhang mit der Frage nach Schriftsteller-Zusammenschlüssen wie etwa die „Gruppe 47“ lehnte Johnson nicht nur das damalige illusorisch-revolutionäre Wortgebaren des SDS ab, sondern wünschte sich, so im Interview, auch das Eintrittsgeld für Grass` Wahlveranstaltungen zurück, nachdem damals die vom Freund Grass gepriesene SPD ein Bündnis mit der CDU unter dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Kiesinger eingegangen war. Dazu stimmt weiterhin, dass sich Johnson in einer Notiz in seinem „Merkbuch“ Grass` Auftritt aus dem Jahr 1965 wie folgt notiert hatte: „Gegen 1.30 das Erste Programm des Westdeutschen Fernsehens aus dem Palais Schaumburg. Der Kommentator Müggenburg sprach mit einem Individuum in zerknautschter Kleidung, das stier vor sich blickend nach Art der Betrunkenen seinen Aufenthalt beim Gegner so erklärte: Günter Grass: Günter Grass wolle dem Bundeskanzler, dessen Sieg inzwischen unzweifelhaft geworden war, fragen, wer ihm denn das Haus angezündet habe. Brachte auch etwas Träumerisches vor in Beziehung zum Reichstagsbrand … Am Ende machte GG das dumme Mundwinkelgrinsen eines, der sich sicher ist, es wieder prima hingekriegt zu haben. Es war schwer anzusehen. Einmal weil GG vor aller politisch interessierten Öffentlichkeit die Reputation verlor, zum anderen wegen des beförderten Vorurteils Schriftsteller sind eben solche, die tun so was und wenn die Zuschauer immer noch warten auf seine welthistorische Auseinandersetzung mit dem siegreichen Gegner, hat der Schriftsteller das Haus längst verlassen, klammheimlich.“
Uwe Johnson war auf beiden Seiten des zweigeteilten Deutschland eine wohlbekannte Gröβe. Der Professor Hans Mayer hat, nachdem auch er den Staat wechseln musste, zum Andenken seines ehemaligen Leipziger Schülers im „Westen“ das Seine beigetragen. In der vorgelegten Neuauflage der Johnson-Biographie spiegelt sich denn auch das fortgesetzte Interesse an einem Autor, der bis heute als der bedeutendste Autor der beiden Deutschland begriffen werden muss. Im Jubiläumsjahr wird ein umfangreiches Buch wieder vorgelegt, dessen „Seele“ darin bestehen mag, dass es ausführlich dokumentiert. Dass es zusammenfasst, was einst an nachgelassenem Material im Frankfurter Suhrkamp-Verlag und im dortigen Archiv örtlich vereint lag, zu Zeiten, als der Verlag noch der des Siegfried Unseld gewesen ist, dessen Verlegerfreundschaft mit dem Autor Johnson diese Biographie an zentraler Stelle beschreibt. Hier haben sich Veränderungen ergeben. Inzwischen liegt das Material an anderen Orten, nachdem der Verlag vor seinem Umzug nach Berlin die nachgelassenen Papiere Johnsons nicht, wie es einzig angezeigt gewesen wäre, dem Literaturarchiv in Marbach vermacht hat. Das Archivmaterial (das Siegfried Unseld einst vom Autor Johnson als Erbe übermacht worden ist!) ging vielmehr in Privatbesitz über und von dort an das heutige Johnson-Archiv an der Universität Rostock.
Insofern hat die breite „dokumentarische“ Anlage der Biographie, ursprünglich zahlreichen noch nicht publizierten Briefwechseln geschuldet, nun einen zusätzlichen Sinn erlangt: In ihr gelangt zur Zusammenschau, was inzwischen verstreut aufbewahrt liegt. Und noch aus anderen Gründen scheint die „dokumentarische“ und „archivalische“ Grundanlage an ihrem rechten Platz. Sie passt nämlich in eine neue Zeit, die, wenn der in Pittsburgh lehrende Literaturwissenschaftler und Ideenhistoriker Jeffrey Williams Recht hat, das Archiv als heuristisches Prinzip neu entdeckt hat. Das geschah, so vermutet es Williams nicht ohne Gründe, nachdem die Ära der „Theorie“ in ihren Erscheinungsformen als „Postmoderne“ und als „Poststrukturalismus“ mitsamt von deren zentralem „Dekonstruktions“-Prinzip gründlich kollabiert ist. Nun aber könne, so meint Williams, die Ära des Archivs, des durch aufbewahrte und berücksichtigte Belege Verbürgten, in der Literaturwissenschaft erneut beginnen. Dies gehe mit einer Neuentdeckung und geradezu Emphatisierung der philologischen Arbeit am konkreten Material Hand in Hand, die auch die Texttreue als dominante Auslegungsinstanz neu konstituiert habe. Das Verlangen nach dem Konkreten und Anschaulichen ergänze sich mit einer erneut durchgesetzten Hochschätzung von Erinnerungsarbeit und Erinnerungskultur im Gefolge der Theoriebildung von Jan und Aleida Assmann. Nun würde von einer am Spekulativ-„Theoretischen“ gründlich irregewordenen Generation das Nachgelassen-Konkrete im Rahmen von Biographien, als Geschichten über geschriebenes Leben, bevorzugt; ein Paradigma, das schon einmal seine Konjunktur besessen hat. Nämlich zu Zeiten des bedeutenden Präzeptors einer selbstreflektierten „Geisteswissenschaft“ Wilhelm Dilthey, der von der „unberechenbar wertvollen Bereicherung“ sprach, die man durch die Dichternachlässe und die Tage- und Merkbücher als Bausteine späterer Biographien besäβe. Einzig hier zeige sich noch die „pulsierende Handschrift des Dichters“, wie sie andererseits vor allem durch dessen Biographie zu bewahren sei.
„In der heutigen Rede vom `kulturellen Gedächtnis` … bleiben Goethes und Diltheys Ansprüche unausgesprochen bestehen“ (FAZ, 7.VIII. 2013, „Zerstörerische Mäuse und unwürdige Verwandte“). In diesem Sinne dient die dokumentarische Grundanlage dieser Biographie dem „kulturellen Gedächtnis“ des einst als „deutsch-deutschen Schriftsteller“ annoncierten Uwe Johnson. Der Autor wird kontextuell, immer in strengem Zusammenhang mit seiner Zeit und seinen Texten, vorgestellt. Dem kommt zugute, dass Johnson, wie alle Autoren der Moderne, im Stande eines zunehmenden Nachlassbewusstseins gearbeitet und gelebt hat. Dies sprach sich nicht nur in der Ernennung des Verlegers Siegfried Unseld zum Erben aus, sondern auch in der Entscheidung dieses Erben, dem Biographen Zugang zu allen Materialien, ungefiltert, zu gewähren. Das war auch eine Entscheidung gegen das Vergehen der Zeit, wie es ganz generell, als zentrales Movens, in der Epik des Uwe Johnson zugegen ist. Das gleiche Vergehen der Zeit bewirkt heute das Entstehen von Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit durch Nichtwiederholbarkeit: Viele von denen, die seinerzeit zu Konzentration und faktischer Fülle in dieser Biographie beigetragen haben, mit Auskünften über den Schüler, Studenten und Autor Uwe Johnson, sind nicht mehr am Leben. Sie sind dennoch unvermindert gegenwärtig dadurch, dass sie eine dauernde Erinnerungsarbeit möglich machten, die dem gesammelten Gedächtnis des Erinnerungsschriftsteller Uwe Johnson dient, - es für die Zukunft am Leben zu hält.
Trondheim, im September 2013
VORWORT
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»MAN HAT KEIN ANDERES MATERIAL
ALS SEINE ERFAHRUNG«
Plutarchs Parallelbiographien machten den Philosophen zum meistgelesenen Autor der Antike. Für ihn war das Genre der Biographie Teil der Geschichtsschreibung, nicht der Literatur. Er band die 22 Biographie-Paare je eines römischen und eines griechischen Staatsmannes oder Feldherren zusammen, um Austausch und Anerkennung zwischen den beiden dominierenden Kulturen des Abendlandes zu erzielen. Es faszinierte – und fasziniert noch heute – die Konfrontation zweier Kulturen, auch die wechselseitige Transformation von Geist in Macht und von Praxis in Theorie.
Uwe Johnsons literarische Biographie fügt sich, so gesehen, ein in eine lange Tradition: Erscheint sie doch, spätestens mit den Jahrestagen, ihrerseits als beschreibende Durchdringung von Alter und Neuer Welt, Güstrow und New York, von norddeutscher Seelentiefe und dem Pragmatismus des »American Way of Life«, Gesine Cresspahl und Dietrich Erichson, genannt D. E. Vom noch pantheistisch angelegten Erstling Ingrid Babendererde zum modernen Großstadtepos der Jahrestage – Johnsons Werk ist immer auch eine Konfrontation der Epochen deutscher Geschichte und eine Parabel der Entwicklung beider deutscher Nachkriegsstaaten.
Johnson selbst hat sich in der »biographischen Frage« keineswegs konsequent geäußert oder verhalten. Erst spät begann er, nach ablehnenden Äußerungen noch in den Begleitumständen, im vierten Band der Jahrestage und in der Skizze eines Verunglückten ein Stück weit in eigener biographischer Sache zu schreiben, verkörpert in der Figur des Schülers Lockenvitz und der des Joachim de Catt als archetypischen Opfern beider deutscher Totalitarismen dieses Jahrhunderts.
Als absehbar wurde, daß er sein Werk vollenden würde, schrieb Uwe Johnson von Sheerness aus in Briefen an seinen Verleger sogar Prinzipielles über die Wünschbarkeit von Biographien.
»Dabei fiel mir auf, dass sie für die deutschsprachige Gegend fehlen, diese umfangreichen Biographien angelsächsischer Art, in denen das Nachweisbare stimmt und das Zweifelhafte dem Entschluss des Lesers überlassen wird. Du hast mir einmal ein Muster für diese Art des Lebensberichtes geschenkt: das Buch von Ellmann über Joyce.
Etwas von dieser Art wünschte ich mir im Grunde auch über Benn, Brecht, Hesse, Musil, Rilke, Schmidt. Es ist wahr, noch versteht sich im Deutschen kaum jemand auf solche positivistische Biographie. Aber vielleicht kann man sie bei uns vorbereiten, indem man zunächst solche Bücher in deutscher Sprache vorstellt wie das von Bair über Beckett, Turnbull über Fitzgerald, Blotner über Faulkner, Baker über Hemingway.«
Biographien also akzeptierte, ja wünschte Uwe Johnson bei Erfüllung ganz bestimmter Voraussetzungen nicht zuletzt formal-ästhetischer Art.
Im Vorfeld des letzten Paradigmenwechsels, »Postmoderne« genannt, hat sich biographisch und autobiographisch durchgesetzt, was in Ansätzen und bedingt durch den Zerfall einer großen, als trügerisch anerkannten Ideologie bereits seit dem verlorenen Krieg zu erkennen war: ein Erzählen, das »existentialistisch« zurückfiel auf das eigene Leben als die letzte, die einzige Gewißheit. Einen Höhepunkt hat diese Entwicklung im Lebens-Schreiben des bedeutendsten Schriftsteller-Freundes, den Uwe Johnson besessen hat: im Werk Max Frischs.
Wie die traditionelle, widerspiegelnde Selbstbiographie nach dem Muster von Goethes Dichtung und Wahrheit von der modernen, sich Leben überhaupt erst erschreibenden Selbstbiographie abgelöst wurde, so setzt sich diese Form des Romans durch: nicht als Spiegelung gelebten Lebens, sondern als dessen Korrektiv, als dessen Umschreibung in durchaus prometheischem Sinn, als – wie Jean Paul es genannt hat – »Konjektural-Biographie« faktisch gelebten Lebens.
Wer schreibt, verbirgt sich. Schreiben gerät darin zur verweigerten Biographie und die Biographie zum eigentlichen Thema des Schreibens: daß dies streckenweise auch für Uwe Johnson gilt, ist eine der überraschenden Entdeckungen, die macht, wer sich biographisch mit ihm befaßt. Auch in seinem Lehen blieb nach dem Zerfall der Ideologien und Utopien nur das eigene Lehen übrig. Generell: Der Diskurs zwischen Leben und Literatur, wie er im Text erkaltet und sich objektiviert, wird erneut in Gang gesetzt, nun aber mit dem Ausgangspunkt in der Literatur. Immer gilt: Das Spiel darf nicht enden. Auch die »authentische« Biographie schreibt in diesem Sinn keine letzte Wahrheit fest.
Die »Authentizität« der Biographie: ein besonderes Kapitel. – Als der Gradmesser für Authentizität kann nur die möglichst uneingeschränkte Kenntnis allen Materials, auch solchen, das aus Gründen der Diskretion gar nicht veröffentlicht wird, gelten. Daneben steht die Integrität des Verfassers, der sich konsequent zu weigern hat, sein Objekt in eine ideologische Schablone zu pressen, wie immer diese aussehen mag.
Johnson war ein Vertreter jenes melancholischen Erinnerungsverfahrens, das sozusagen unter dem »biographischen Syndrom« leidet: Alles Erlebte erscheint von Anfang an als das imaginierte, vorweggenommene Denk-Mal seiner selbst. Solches prägt bereits das Mecklenburg-Bild der Ingrid Babendererde, die, wie die Biographie nachweisen wird, ihrerseits unter dem Einfluß des Tonio Kröger entstand. Sieht man noch näher hin, entdeckt man, daß die Fragen für einen biographischen Bildnis-Entwurf durchgehend verhandelt werden in Johnsons Werk. Das Dritte Buch über Achim als die »Beschreibung einer Beschreibung« birgt in sich nichts anderes als eine Diskussion der Möglichkeiten von Biographie. Kybernetisches (und marxistisches) Regelkreisdenken wird gegen den Faktor Zufall gestellt. Ähnliches hat später Max Frisch in seinem Stück Biografie unternommen.
»Es machte Spaß, einer bewußten Vergangenheit die tatsächliche zu finden, die Erinnerung einer Person mitzunehmen ins Vergessene, auch sie überrascht zu finden vor sich selbst.« – So in der Reise wegwohin. Und in der Tat war auch Uwe Johnson selbst die Faszination des Biographen alles andere als fremd. Johnson selbst war Biograph, hat, sonst die Höflichkeit in Person, bei der Abfassung der Biographie Margret Boveris, in den Gesprächen mit ihr das inquisitorische Wissen-Wollen und Hinterfragen bis zu aggressiver Unhöflichkeit vorangetrieben. Das Max-Frisch-Lesebuch Stich-Worte geriet ihm zu einer biographischen Skizze dieses für ihn so wichtigen Autors und Freundes – weshalb dieser sich lange gewehrt hat gegen Johnsons Konzept. Auch wollte Uwe Johnson die Biographie des Verlagsgründers Peter Suhrkamp schreiben, da allerdings stand Siegfried Unseld vor. In der Reise nach Klagenfurt reagierte Uwe Johnson auf den Tod der ihm nahestehenden Ingeborg Bachmann mit einer Art Jugend-Biographie der Dichterin, gestützt auf Briefe und Recherchen in Klagenfurt selbst, die geradezu handstreichartig ins Werk gesetzt wurden.
»Für wenn ich tot bin« erzählt Gesine Cresspahl ihrer Tochter Marie ihre eigene und die Geschichte der Familie, ihre eigene und die Geschichte Deutschlands.
Der Tod ist der letzte Anlaß für alles Erzählen – und der erste. Biographie, denkt man über sie nach im Rahmen der lebensphilosophischen Poetik Max Frischs, »besiegelt« das Schicksal eines Menschen. Sie mag sein Leben und Werk haltbar machen, sie schneidet dennoch die Wahl anderer Existenz-Varianten ab. Sie macht, nolens volens, eindeutig; stiftet »Sinn«; versperrt Möglichkeiten und stellt das Leben selbst still. Die Biographie modifiziert notwendig ihren Gegenstand, indem sie das Leben erblickt, wie es nur vom Tode her überblickt werden kann. Der Tod ist unumgänglich der Standpunkt, von dem her der Biograph das Leben angeht – um es unsterblich zu machen. Das macht das Paradoxon des Genres aus.
Nach erfolgter staatlicher Vereinigung der Deutschen und dem nachfolgenden, jüngsten »deutsch-deutschen Literaturstreit«: Uwe Johnson als der exemplarische und recht eigentlich einzige Autor beider deutscher Staaten? Ein »Sozialist«, wie manche gerade in neuester Zeit zu erkennen meinen, oder nicht doch eher ein marxistisch gebildeter Verfechter liberaler Modernität, wie sie in den Jahrestagen als Resultat auch von Johnsons Liebe zum multikulturellen Leben in New York zum Ausdruck kommt? Uwe Johnson jedenfalls als einer der wenigen Vertreter der DDR-Literatur, der diesem Staat seine diktatorischen Strukturen nicht in der Hoffnung auf die Verwirklichung sozialistischer Utopien nachgesehen hat. Uwe Johnson als einer, der, in seinem Leben wie in seiner Literatur, die Verspätung des »tiefen« (nord)deutschen Gemüts diagnostizierte, der sie schreibend korrigierte, darin ein sich emanzipierender Adept Thomas Manns. Einer aus Güstrow, der Heimatliteratur als Weltliteratur schrieb und der zugleich als einziger deutscher Nachkriegsautor die »westlichen« und die »östlichen« Literaturkonzepte diskursiv verschränkte aus gelebter Sicht. – Der Autor, der wohl unter allen, die seit 1945 geschrieben haben, die gültigste »Archäologie« des deutschen Stalinismus geliefert hat, gehalten im Geist der Hannah Arendtschen Totalitarismustheorie. – Nicht von ungefähr hat in den Jahrestagen die »Gesellschaft zum Studium der DDR« die reale Adresse der jüdischen Philosophin zugeschrieben bekommen.
Uwe Johnson wäre also ein Exempel, an dem die nun wieder neu zu begründende »Nationalliteratur« der Deutschen eine Art Orientierungshilfe finden könnte; um so mehr, als deren wohl erster Auftrag in der Diagnose und der Überwindung einer post festum eingetretenen Spaltung zwischen »Wessis« und »Ossis« liegen muß. Der zu seinen Lebzeiten in beiden Teilen exemplarisch Fremde letztlich als der Sachwalter eines »gemeinsam Nationalen«: in diesem Sinne Uwe Johnson redivivus?
Johnson meinte 1968 in der Realität New Yorks die zukünftige seines Heimatlandes wahrzunehmen – die heutige Entwicklung mit ihrer zentralen Fragestellung nach Möglichkeiten und Grenzen einer multikulturellen Gesellschaft gibt ihm recht. Johnsons Jahrestage müssen neu gelesen, können vielleicht erst heute wirklich verstanden werden.
Und einzig die Biographie vermag zu rekonstruieren, wie dieser Autor sich der Realität angenähert hat, schrittweise und mit spannungsvoller Intensität. Gesine Cresspahl in New York: In der Ausgestaltung dieses literarischen Komplexes manifestiert sich – verflochten mit allen übrigen Topoi des Werkes – auch Uwe Johnsons poetologische Vorstellung von »Autobiographie«. Keinen anderen Ausgangsort konnte dieser literarischbiographische Anamneseprozeß haben als New York, »Heimat der Heimatlosen« und Zentrum der Modernität zugleich. Hier wird, wiederum nicht von ungefähr, unter dem Aspekt der »jüdischen Frage« die Figur Gesine Cresspahl zum »realen« Statthalter, ja: Auftraggeber ihres Autors. Hier nun, in der »jüdischen Stadt« New York, kann das Gespräch zwischen Gesine und dem »Genossen Schriftsteller« stattfinden, mit dem die beiden pragmatisch erkunden, was als existentielle Frage immer noch über allem steht: die Frage nach den Bedingungen eines Schreibens nach Auschwitz.
Auf solche Weise wurde bei Uwe Johnson der immanente biographische Diskurs zu einem repräsentativ literarischen – und umgekehrt. Und alles dies: »Für wenn ich tot bin« – wie Gesine Cresspahl zu Marie, ihrer Tochter, sagt.