Czytaj książkę: «Im Licht betrachtet»
Bernd Berndsen
IM LICHT BETRACHTET
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2015
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Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Layout Kristina Berndsen
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Auf rauen Wegen zu den Sternen
Wo das Kleine das Allergrößte ist
Performance für alle
Die Letzten können die Ersten sein
Back to the roots
Ausbildung zum kleinen Heimwerker
Unordnung und großes Leid
Ende der Einsamkeit
Im Licht betrachtet
Sinnsammler
Wo man sich bettet, da liegt man
Bildung tut Not
Warten auf
Frauen sind anders. Männer auch
Von Fall zu Fall seh ich den Alten gern
Ihr werdet es erleben
Über den Umgang mit Geschriebenem
Deutschland singt nicht
Mein großer Freund C
Auf rauen Wegen zu den Sternen
Das Brautpaar saß vier Reihen vor mir in der ersten Bank, der Pastor agierte souverän, der Organist fast genauso, die Brautmutter schluchzte diskret in artigen Abständen, es war alles, wie es zu sein hat. Leider ausnahmslos alles, dachte ich. Und da ich die Zeit zum Denken hatte, unterdrückte ich es nicht, sondern machte mir bewusst, dass das Sitzmöbel ein überaus nützliches Produkt menschlicher Kreativität ist, wenn man es den Eigenarten und Bedürfnissen des menschlichen Körpers angepasst hat. Alle Versuche, es umgekehrt zu machen, sind gescheitert. Wo der Körper nicht das ihm Gemäße vorfindet, kommt es stets zu Schmerz und Pein. Betrachtet man aufmerksam die Geschichte der Formen von Stühlen, Sesseln, Sofas, Bänken durch die Jahrhunderte, so führte mein Geist diesen Ansatz fort, fällt auf, dass so manches, ja das meiste geschaffen worden ist unter Umgehung oder gar Missachtung der körperlichen Wünsche. Sogar so mancher Herrscherthron in seiner rechtwinkligen Zuordnung von rundungsfreier Sitzfläche und ebensolcher Rückenlehne lässt erahnen, dass Herrschen eine harte Angelegenheit gewesen sein muss. Besonders die Thronsessel in der Chefetage auf der Iberischen Halbinsel und in den Dependancen Lateinamerikas kümmerten sich nicht um die legitimen Wünsche jener Körperteile, die sich mit dem Möbel zu arrangieren hatten. Die Frage, in welchem Maße der Niedergang der spanischen Weltmacht im 18. Jahrhundert mit misslichen Rücken- und Gefäßmuskelproblemen Philipps II ursächlich in Verbindung stand, harrt noch der wissenschaftlich exakten historisch-orthopädischen Aufarbeitung.
Ich legte eine kurze Denkpause ein, schob meinen rechten Oberschenkel vorsichtig über den linken und nahm den Faden wieder auf. Als ein Beispiel auf anderer sozialer Ebene, dachte ich, bieten sich die engen, kantigen Schulbänke unserer Altvorderen an, die – getreu der Maxime „Für das Leben lernen wir“ – das Ihre dazu beigetragen haben, in lebensnaher Weise darauf vorzubereiten, dass es dem späteren Leben wohl an Freiheit, nicht aber an Härte mangeln werde.
Und mit einem dritten Beispiel veranschaulichte ich mir das Problem: Noch im Kontor der Buddenbrooks zogen es die Buchhalter vor, den Zehnstundenarbeitstag nicht sitzend auf dem Hocker zu bewältigen, sondern stehend zu überstehen. Was ihnen übrigens schon in der Kindheit trotz aller Härte und Konsequenz der Erziehung zugestanden wurde beim Stehen während der Mahlzeiten am elterlichen Tisch.
Heute aber thront die Kanzlerin auf einem ausgetüftelten Bürosessel, verstellbar in Höhe und Neigung und anderem, (ihre Sekretärin dürfte ihr nur um ein Geringes nachstehen), die Schüler nebst –innen räkeln sich auf zum Träumen verleitendem Gestühl, und die Schreiber im Büro stehen ihnen nicht nach – was die Sitzkultur betrifft.
Ganze Kollektive aus den Fachbereichen Architektur, Orthopädie, Design, Tischlerei und Sattlerei widmen ihre Arbeit der kongenialen Entwicklung neuer Erkenntnisse zum Thema Meublement fürs Sitzen und deren sorgfältig präziser Realisierung. So sind in den großen Fußballstadien die kümmerlichen Bänke aus schmalem Brett fürs Hinterteil und schmalerer Latte für den Rücken futuristischen Schalensitzen gewichen, die Lichtspielhäuser brauchen mit ihrer Besesselung nicht die Konkurrenten des Puschenkinos zu fürchten, und da reiht sich wenn auch in einigem Abstand sogar der ICE ein.
Behutsam verschob ich mein Schwergewicht von der einen auf die andere Seite, bevor ich im Geiste formulierte: Nur die Kirche hat einen Sonderweg eingeschlagen, genau gesagt: gar keinen Weg, sondern sie verharrt konsequent im Althergebrachten. Was aber nicht heißt: im Altbewährten. Die Kirchenbank ist, wie sie ist seit Anbeginn der Christenheit. Konsequenter Verzicht auf Armlehnen und Kopfstützen. Das hier und da eingeschnitzte Zierwerk in den seitlichen Begrenzungen am Gang vermag zwar das Auge zu erfreuen, jedoch Steiß und Po den Aufenthalt nicht zu erleichtern. Härte im Material und Reduktion auf das Wesentliche sind hier Markenzeichen. Zwei Bretter in der Zuordnung von genau oder annähernd 90° – unter dem Aspekt der Einfachheit zwar eine bestechende Lösung, aber selbst der schwankende Barhocker oder die rustikale Bank im Biergarten bieten ein Mehr an Kommodität. Wer hier auf die lange Bank geschoben wird, dem dehnt sich die gefühlte Zeit mit schmerzhaft gefühltem Steiß und Rückgrat in zunehmender Tendenz.
Ich versuchte, die Beine zu strecken, die Füße unter meinen Vordermann zu schieben, stieß aber da unten mit dem Schienbein auf Kantiges, presste die Lippen aufeinander, und mir fiel ein: Auf rauen Wegen zu den Sternen. Ad aspera ad astra. Das hatte mich die Schule über die alten Römer gelehrt. Und ich dachte verbittert: Ich bin ein Feigling wie die anderen auch. Das gesamte echte Kirchenvolk nebst allen, die nur durch Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, Weihnachten oder durch Konzerte in die Kirchen gelockt oder gezerrt werden, nimmt ohne Murren, Klagen und Protest das Übel auf sich. Und das nimmt Wunder, denn immerhin kommt der Kirchsitzer mit nichts aus dem weiten Bereich der kirchlichen Welt so hautnah, so lange, so spürbar in Kontakt wie mit dem Holz, auf dem er sitzt und gegen das er sich lehnt. Dem er sich mühselig und beladen anvertraut und das ihn schroff und hart abweist, herzlos und ohn Erbarmen. Könnte sich beim Bankgeprüften da nicht mit der Zeit, vielleicht ungewollt und ohne böse Absicht, die Frage hervorwagen: Wollen die hier mich eigentlich? Wenn Fußballclubs und Kinos, sogar Schulen mit einladendem Gestühl um die Gunst ihrer Besucher werben, warum die Kirchen nicht? Haben sie der Besucher genug? Mit Verlaub: mitnichten!
Als ich gestern bei meinem Bruder schon mal über den mühsamen Einstieg in die Hochzeitsfeier klagte, sagte er lapidar: „Beschwer Dich beim Pastor.“ Beschwerden beim Pastor? Vielleicht gar mit Unterschriften der gesamten Gemeinde? Sinnlos, denn der muss da ja nicht sitzen. Er ist privilegiert, alle Phasen seiner Amtshandlung im Stand zelebrieren zu dürfen. Und von der Kanzel mitleidlos herunterzublicken auf die Leiden der hier unten, wie sie mühsam das Körpergewicht von der einen Pobacke auf die andere verlagern. Wer hoch oben thront, ist von der Basis viel zu weit entfernt, um ihren Kummer erfassen zu können.
Ich wollte und will der Kirche nicht unterstellen – zumal nicht als Gast in ihrem Hause, auf ihrer Bank! – sie verstehe sich als Auslaufmodell, für das sich Renovierungen nicht mehr lohnen oder dem Veränderungen nicht mehr helfen. Aber wenn sie sich weiterhin der Moderne verschließt – wohlgemerkt: was das Sitzen betrifft! – wird sie es sich bald gefallen lassen müssen, als Sitzenbleiber tituliert zu werden.
Angestachelt vom aggressiven Holz, spann ich den Faden weiter: Wie alles muss auch der Misstand seine Ursache haben. Wohlan: Wäre es möglich, man wolle den Besuchern nachdrücklich einprägen (in des Wortes doppelter Bedeutung), dass der Aufenthalt in dieser Welt und gerade an diesem Ort nicht gedacht ist, sich weltlichen Freuden hinzugeben, die dem Körper schmeicheln? Dass die Gedanken sich vom harten Hier und Jetzt lösen und auf den Weg machen sollen hinauf zu den Sternen und darüber hinaus? Ad aspera ad astra?
Dann waren sie fertig, da vorn, und das Brautpaar bog gemessenen Schrittes in den Mittelgang ein. Um unserer Ehrerbietung Ausdruck zu verleihen, vor allem aber, um Haupt und Glieder vorsichtig in die Senkrechte zu recken, erhoben wir uns alle, mühsam und schwerfällig, in gehöriger Feierlichkeit, was hier eine Sehne, da ein Gelenk dezent, aber doch vernehmbar zu knacken animierte. Ich sah mich gezwungen, wie meine Vorderfrau und wie auch der Herr an ihrer Seite, einige Sekunden in leicht gekrümmter Haltung zu verharren. Sodann begannen unsere Beine, sich tastend zu bewegen, als trauten sie noch nicht dem Glück der Rückkehr in die wiedergewonnene Freiheit der Alltagsnormalität. Und dann, Gesäß und Steiß unauffällig reibend, mit gekrümmten Knien und platt aufgesetzten Füßen, taten wir vorsichtig die ersten kleinen Schritte zum Ausgang hin.
Vor dem Café auf der anderen Straßenseite saß man behaglich und entspannt auf den dicken Kissen der Korbstuhlsessel, trank, plauderte, las, ließ es sich wohlergehen. In diesem Augenblick verstand ich und entschuldigte den auf dem platten Lande über Jahrhunderte und in manchem Dorf noch heute gepflegten und zum Ritus sublimierten Brauch, dass die Männer am Sonntagvormittag nach Verlassen der Kirche noch unter Glockengeläut schnurstracks über den Dorfplatz ins Wirtshaus streben. Nun ja, dachte ich da, immerhin können sich unsere Kirchen mit ihrer individuellen Art der Bestuhlung sicher sein, dass niemand hineingeht, der, von shopping oder sightseeing erschöpft, für eine kleine Weile zur Entspannung und Erholung malträtierter Füße und meuternder Wirbelsäule nichts anderes als eine Sitzgelegenheit sucht. Wer kommt, hat der Würde des Hauses angemessene Absichten. Es sei denn, ein Lehrer demonstriert seiner ungläubig staunenden Klasse, welchen Stühlen und Bänken die Vorfahren allüberall ausgeliefert waren. Ein modernes Museum, weil es nicht nur zeigt, sondern unmittelbar am lebendigen Objekt erleben lässt, wie’s einmal war.
Womit ich um des Himmels Willen nicht gedacht haben wollte noch will, dass die ganze Kirche ein Museum sei.
Wo das Kleine das Allergrößte ist
Schon so lange hatten wir darauf gewartet, meine Frau und ich, dass wir das Warten nicht mehr merkten. Kurz nach dem Weihnachtsfest geschah es unerwartet, plötzlich und ohne Vorspiel. Meine Tochter kam mit ihrem Freund, einem langjährigen, herein und verkündete ohne Umschweife, ohne Förmlichkeiten und Feierlichkeiten, dass sie heiraten wollten.
Meine Frau und ich umarmten zuerst uns stumm, dann sie, dann ihn, und als ich sah, dass die Augen meiner Frau sich mit Tränen gefüllt hatten, zog ich nach.
Das Fest hätten sie für den Mai angesetzt. 14 bis 18 Gäste. Nach der Standesamtlichen ein üppiges Essen bei unserem Griechen, Spaziergang an den See, dort im Restaurant an der Brücke Kaffeetrinken, abends hier im Haus fröhliches Beisammensein, vielleicht etwas Musik. Sakko und Krawatte erwünscht. Kirchliche Trauung? Nein, überflüssiger Ballast.
Ich holte die obligatorische Flasche Sekt, wir stießen an auf die Einrichtung der Ehe und auf diese bevorstehende im besonderen.
Im März fragte meine Frau unsere Tochter, ob wir Freunden und Verwandten bei passender Gelegenheit schon mal Andeutungen machen dürften über das Ereignis im Mai. „Natürlich, das müsst ihr“, sagte meine Tochter, „aber Mai ist vorbei.“ „Also schon April?“ fragte ich. „Nein, mitten im Hochsommer, im Juli, wenn die Rosen noch und die Hortensien schon blühen, die Tage warm und lang sind. Aber nicht in diesem Jahr schon, das wäre nicht zu schaffen.“ Sie sah unsere ratlosen Gesichter und erläuterte: Sie hätten alles umgeworfen, das heiße, viel sei ja gar nicht aufgebaut gewesen, aber jetzt planten sie ein Fest, das dem Anlass angemessen sei. „Wir haben das Gerüst, das Gerippe, die Struktur im Kern. Nach dem augenblicklichen Stand kommen 207 Gäste. Wir feiern 5 Tage lang. Standesamtliche hier im alten Rathaus. Kirchliche im gotischen Dom St. Johannis, Weltkulturerbe. Da muss der Bischof mal ran. Sonst streichen wir diesen Programmpunkt. Und anschließend mit offenen Kutschen der große Festzug ins Schloss, bis dahin hoffentlich auch Weltkulturerbe. Da wird gefeiert bis über den Morgen hinaus!“ Meine Frau und ich verdauten schweigend.
Die Details wurden uns in den folgenden Monaten in Fülle mitgeteilt. Vieles ergänzte das schon Vorhandene, manches warf das wieder über den Haufen. Die Kreativität meiner Tochter öffnete ein Arsenal bunter, prächtiger, einmaliger Accessoires, mit denen man eine Agentur für die Gestaltung großer Hochzeitsfeste hätte auftun können. Allein der geeignete Ort für das Jawort: auf der Cheopspyramide, das Heer der Gäste lässig drumherum gruppiert auf den sich türmenden Quadern. Oder die Zeremonie auf den glänzenden Rücken der Quadriga über dem Pariser Platz. Oder im kleinen Sonderzug der DB, streng privatissime, vom Hbf zu einem Sonderhalt auf der Museumsinsel, wo Trauung hoch oben auf dem Pergamonaltar, Gäste darunter auf dem breiten Berg der Stufen lagernd, Nofretete wird als Trauzeugin herübergetragen. Auf dem Rand des gütig grummelnden Ätna, auf der sicheren Insel im Kreis der fauchenden Formel I, in der Halbzeitpause Borussia-Schalke, im Kreis der Kuppel über dem Plenarsaal mit dem zur Sitzung versammelten – diesmal vollzählig! – Parlament.
Schon bald entschloss ich mich, Buch zu führen, und manchmal schlich sich mir die Frage in den Vordergrund: Haben wir unsere eigene Hochzeit verpennt? Aber ich war glücklich, in der ersten Reihe die Geburt zu erleben einer perfekt geplanten Inszenierung eines extravaganten und spektakulären Events, mit dem das Herkömmliche als abgegriffene Standartware eines nüchternen Verwaltungsaktes demaskiert wurde.
Ich muss gestehen, dass ich anfangs Ängste empfand, schien es doch, als wachse etwas zur Lawine, die uns alle überrollen und verschlingen würde, und meine Frau vertraute sich mir an, ihr werde von zwei Befürchtungen die Vorfreude verdorben. Würden die Beiden sich in finanzielle Ausgaben stürzen, die sie für den Rest ihres Lebens zu Schuldnern machten? Und wenn die Eheschließung noch über ein Jahr warten müsste, sei doch die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass unser ersehnter und schon jetzt geliebter Enkel ein unehelicher werden könnte. Ich konnte sie beruhigen, denn für das finanzielle galt, beide waren Unternehmensberater. Und für das Baby: Die Beiden waren mit den Vorbereitungen so ausgefüllt, dass sie für nichts Anderes Zeit hätten.
Aber auch mich ließ das alles nicht kalt. Ich träumte drei- oder viermal – darüber führte ich kein Buch – den gleichen Traum. Ich sitze in einem prächtigen, schwach erleuchteten Konzertsaal, ich als einziger mitten im Parterre. In den Händen Stift und Tafel, die in wohl 20 gleich große Felder unterteilt ist, in deren linker oberer Ecke eine Nummer steht. Trompeten schmettern eine Ouvertüre wagnerschen Kalibers, von einem engen Lichtstrahl eingefangen, tänzelt ein allerliebster pausbäckiger Engel mit goldenen Locken auf die Bühne, hebt eine Tafel mit einer 1 über den Kopf und verschwindet flugs hinter dem Vorhang. Und da gleitet ein lebendes Bild herein. Hoch oben auf dem Scheitelpunkt einer prächtigen Brücke das ausnehmend glückliche Paar, links und rechts auf den Stufen freudig gestimmte Menschen, fast ausgelassen, alle in festlich-feiner Kleidung. Unter ihnen ein schier unentwirrbarer Gondelwust. Die Gondolieri rufen ihr Vivat hinauf, so voller Inbrunst, dass sie fast den Vivaldi des Kammerorchesters am Fuß der Brücke ersticken.
Mit einer lässigen Handbewegung bedeute ich dem Spektakel den Abgang, und sofort gleitet alles davon. Der Engel schwebt mit der 2 vorüber, gleich darauf kommt und so weiter und so fort. Schließlich der Kleine mit der goldenen Aufschrift Fines Operis, einige Herren in dunklen Anzügen schreiten herbei, ordnen sich zu einem Halbkreis, blicken zu mir herüber, mir wird klar, ich soll die Entscheidung geben, das Urteil fällen – der Schweiß bricht aus, die Luft wird knapp, gerade noch gelingt mir durch den Saal zu schreien:„Ich kann es nicht!“, meine Frau wischt mir den Schweiß von Stirn und Wangen, hat sich über mich gebeugt, fragt mich liebevoll: „Was kannst du nicht?“
Ich wollte mich mit der passiven Rolle des Zuschauers und bloßen Registrators nicht begnügen und bot meinem künftigen Schwiegersohn an, das Fotografieren zu übernehmen. Er klopfte mir auf die Schulter, nickte anerkennend und lobte mich, aber es sei ihnen schon gelungen, in ihren Bekanntenkreisen drei Kameramänner aufzutreiben und einen Fotojournalisten. Die würden das gesamte Geschehen vom Anfang bis zum Ende filmen und fotografieren und sofort nach dem Ende des Festes noch in der Nacht das gesamte Material sichten, schneiden und zusammenfügen und mit Musik garnieren. Aber wenn ich schon tätig werden wolle, ich könnte mir ja mein Outfit vornehmen. Ich wisse ja, die Kleiderordnung verlange Smoking und Zylinder. Ich gebe zu, dass ich aufatmete und gerade noch verhindern konnte, mich zu bedanken.
Im Hutgeschäft sagte ich freundlich: „Ich möchte einen Zylinder.“
Der Verkäufer sah mich ratlos an und fragte: „Einen was?“
„Einen Zylinder.“
Er grinste: „Mein Herr, man befindet sich hier in einem Geschäft für Kopfbedeckungen und nicht in einem Kostümverleih.“
Ich verließ ohne Gruß das Geschäft und bediente mich im Internet.
Den Smoking bekam ich ohne blöde Bemerkungen in einem Salon für gehobene Herrenkleidung. Die Preise entsprachen dem Attribut. Einige Tage später sah ich in der Lokalpresse das Angebot dunkler Anzug, Weste, zwei Hosen, dezent gemustertes Hemd und ebensolche Krawatte für 159,99 €. Für einige Wochen hatte ich den Spaß an meinem Smoking verloren.
Ein Element der geplanten Vorführung gefiel mir am besten. Einmal gab ich zu bedenken:„Und wenn es dann regnet? Oder gießt? Dann fallen die Abendkleider, Blumenbouquets, Zylinder, Schimmel und Kutschen einfach ins Wasser? Das ist Spiel mit dem Risiko als der besondere Kick?“
Meine Tochter wurde richtig böse. „Für wie blöd hältst du uns! Noch nie was von Silberjodit gehört? Mannomann, wenn gefährliche Wolken auftauchen, werden sie mit Silberjodit behandelt, und dann verhalten sie sich gesittet.“
„Nässen überhaupt nicht?“
„Kein Tropfen.“
„Kennst du etwa jemanden, der das schon einmal versucht hat?“
„Natürlich!“, sie wurde ungeduldig. „Bei der Olympiade in Peking 2008 die Eröffnungsfeier. Kein Regentropfen hat da was kaputtgemacht.“
„Eine letzte Frage …“
„Ja, los doch!“
„Also: Wie teuer ist … oder wie preiswert ist so ein Einsatz?“
„Mit einer fünfstelligen Summe müssen wir rechnen.“
Ich zog mir einen Stuhl heran.
„Aber für die Gäste ist das doch ein ganz besonderes Erlebnis. Nicht nur, dass sie trocken bleiben. Auch dabei zu sein, wenn es gemacht wird, zu sehen, wie es gemacht wird, ist doch aufregend!“
Ja, sie hatte Recht. Neben Frau Holle im Sessel sitzen und erleben, wie sie Wetter produziert. Live! Ich malte mir aus, wie am Horizont eine dunkelblau, violett geballte Wolkenmasse sich heraufschob, unheimlich lautlos oder auch mit donnernder Ouvertüre im Tiefflug über uns heranglitt – das Brautpaar, meine Frau und ich waren fast damit überfordert, hin- und her zu springen, um die hysterisch aufspringenden Gäste in die Gartensessel zurückzudrücken. Ein erhebendes Gefühl, dass ein paar Meter weiter oben einige militärisch ausgediente Kampfjets, eine Mirage, eine Phantom, eine MIG, in Tuchfühlung über das Brodeln der Wolkendecke kurvten, und durch die geöffneten Luken schaufelten starke Männer in Kampfanzügen der deutschen Luftwaffe dieses hellglänzende Silberzeug in die dunkelblaue Watte unter ihnen, wo es lautlos versank und in geheimnisvoller Weise seine Aufgabe erfüllte.
Und ich stand unten, lächelnd, locker, souverän. Ja, das sind die unseren da oben. Ich blickte in die Runde der kopfschüttelnden, ungläubig und ratlos, ja, dümmlich und blöde lächelnden Gesichter. Ich lauschte noch, als das Gewitterdonnern in der Ferne abzog und das Geheul der Maschinen schwächer wurde, während sie in elegantem, weitem Bogen abdrehten.
Von nun an hatte sich meine erwartungsvolle Vorfreude zur Hochspannung gesteigert. Wir hatten noch 7 Monate, bis der große Tag aus dem Ei schlüpfen sollte. Ich wünschte mir so sehr, es möge ein Tag mit dauerhaftem Landregen oder mit einer breiten Gewitterfront werden. Das war so spannend! Diese Hochzeit hatte einen neuen Akzent bekommen.
Am 1. Aprilsonntag trat meine Tochter mit forschem Schritt ins Haus, zog meine Frau und mich in die Sessel, ließ sich aufs Sofa fallen und verkündete, die Entscheidung sei gefallen. Endgültig. Die Hochzeit solle ja ein besonderes Ereignis werden. Abseits des Trends, es sei halt Mode in dieser Zeit, ein aufwendiges, kostspieliges, abenteuerliches Event von atemberaubenden Dimensionen aufzutürmen. „Was wir machen, hat in den vergangenen 10 Jahren niemand gemacht und wird uns in den nächsten 10 Jahren niemand nachmachen. Also: 12 Gäste, Standesamt am frühen Nachmittag, Spaziergang an den See, nach halber Strecke Kaffeetrinken im Café an der Brücke. Abendessen bei uns: Klare Suppe, Schweinebauch mit Rotkohl und Kartoffelklößen, Eis mit geschlagener Sahne. Ausklang: zwei alte Videofilme aus dem Familienfundus. Plaudern. So wird’s gemacht, bitte keine Widerrede. Und ihr könnt mir glauben: Das wird Aufsehen erregen, damit kommen wir groß raus. Ich bin ich.“
Ich unterließ die Frage, ob wenigstens die silbersprühenden Flieger zum Einsatz kämen und, ach ja, mein Smoking. Aber für ihn fiel mir sofort eine glänzende Lösung ein. Meine Frau hatte im Herbst gesagt, es sei peinlich, wenn die Nachbarn sähen, wie ich bei der Gartenarbeit meine alten Anzüge auftragen würde. Das sollte schon ab morgen sich ändern. Zumindest im Vorgarten. Wenn es nicht regnet.