Czytaj książkę: «Spieltage»

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BENJAMIN MARKOVITS

SPIELTAGE

ROMAN

Aus dem amerikanischen Englisch

von Dieter Fuchs

OKTAVEN

Für meinen Vater

Nur hasse ich alles, was komplett erfunden ist – noch das versponnenste Gebilde sollte Fakten als Grundlage haben –, und reine Fiktion können sowieso nur Lügner.

Lord Byron

1

Mein erstes erkennbar sexuelles Erlebnis fand im Kraftraum meiner Junior-Highschool statt, und zwar beim nachmittäglichen Basketballtraining. Ich sage «erkennbar», auch wenn ich nicht weiß, ob ich es schon damals als solches erkannt habe. Wir arbeiteten uns durch diverse Stationen, von denen eine erforderte, dass man sich von zwei Haltegriffen aus nach oben drückt, mit angewinkelten Beinen; und ich weiß noch, wie ich vor Anstrengung die Augen schloss und zwischen meinen Oberschenkeln merkwürdige Empfindungen aufkamen und sich langsam ausbreiteten. Das war nur eine chemische Reaktion, nichts weiter, obwohl ich danach etwas weiche Knie hatte; und vielleicht war es am gleichen Nachmittag oder auch an einem anderen, dass sich ein paar Teamkollegen über meine Beinbehaarung lustig machten.

«Das sind ja richtige Männerbeine», sagte einer, und ich sah an mir hinunter und versuchte zu entscheiden, ob sie zu behaart oder im Gegenteil nicht behaart genug waren. Jedenfalls machten die anderen Jungs gleich mit. Vermutlich war es die Flaumigkeit meiner Härchen, die sie lustig fanden, und es ist wohl typisch für dieses Alter, dass ich nicht recht wusste, ob ich jetzt in ihren Augen eher wie ein Mädchen aussah oder überentwickelt war, und mich für beides schämte.

Gerede über Sex war natürlich etwas, an das man sich in der Umkleidekabine gewöhnen musste. Und auf dem Spielfeld. In der Schule ist das Training die einzige Zeit, in der ein Coach reine Jungsklassen vor sich hat, also ohne Mädchen, auf die man Rücksicht nehmen müsste.

«Hast wohl gestern’n bisschen mit dir selbst gespielt», sagte ein Trainer immer, wenn jemand den Ball durch die Finger gleiten ließ.

Allgemeines Gelächter. Coach Britten nannten wir ihn, obwohl er gleichzeitig stellvertretender Rektor war und vermutlich der erste schwarze Mann, den ich je in einer Machtposition erlebt hatte. Ich fürchtete mich ein wenig vor ihm, vor den peinlichen Dingen, die er mir vorwerfen könnte. Groß gewachsen und mit durchgestrecktem Rücken patrouillierte er in dunklem Anzug und blankpolierten Schuhen die Grund- und Seitenlinien entlang. Manchmal, wenn wir ihn enttäuscht hatten, mussten wir uns an der Wand der Turnhalle aufstellen, während er mit dem Basketball in der Hand im Mittelkreis blieb.

«Stillgestanden», rief er. «Ruhe jetzt.»

Dann zielte er auf einen unserer Köpfe, und derjenige musste ausweichen. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals einer getroffen oder gar verletzt wurde, obwohl der Ball mit immenser Wucht gegen die Wand knallte. Aber seine Botschaft kam an. Zwei Botschaften eigentlich: Manchmal müsst ihr auf mich hören, und manchmal müsst ihr eurem Gefühl folgen. Für ihn bestand ein wichtiger Teil seiner Aufgabe darin, uns neben anderen Dingen auch beizubringen, Männer zu sein – auf eine Art und Weise, wie das Lehrer und Eltern nicht konnten oder wollten. Meine Probleme beim Highschool-Sport hatten wohl auch damit zu tun, dass ich das nie gelernt habe.

2

Mein Vater behauptet gern, es sei sein Onkel Joe gewesen – und nicht etwa Kenny Sailors, Bud Palmer oder Belus van Smawley –, der im Jahr 1931 den Jumpshot erfunden hat. Mein Urgroßvater, Ari Markovits, maß zwei Meter acht und wog über hundertzwanzig Kilo, als er mit neunundneunzig Jahren starb, zwei Wochen vor der Bar-Mizwa meines Vaters. «Früher war ich mal groß», war einer der Witze, die er im Alter gern machte. In jungen Jahren muss er also ein Riese gewesen sein, und Onkel Joe verbrachte seine Kindheit damit, über ihn drüber werfen zu wollen.

Meine Familie kam kurz vor dem Ersten Weltkrieg aus Bayern in die Staaten. Basketball ist von jeher ein Ghetto-Spiel, aber in den Anfangstagen waren die Ghettos jüdisch und die Stars eben weitgehend Juden.

Die Markovitse haben sich in der üblichen Manier hochgearbeitet. Mein Großvater wurde in München gezeugt und in der Lower East Side New Yorks geboren. Als junger Mann stieg er in den Lebensmittelhandel seiner Cousins ein und half, ihn zu einem Franchise- Unternehmen auszuweiten. Er zog mit seiner Familie nach Middletown, um dort die neue Zentrale auszubauen, und fuhr drei Abende die Woche ins zwei Stunden entfernte Manhattan, um an der Columbia University Jura zu studieren. Das Haus, in dem mein Vater aufwuchs, war wohlhabend, gehobene Mittelschicht, dennoch brüstete er sich damit, bis zum College außerhalb des Unterrichts nie ein Buch gelesen zu haben: Seine Nachmittage verbrachte er lieber auf dem Sportplatz.

«Markovits», sagte sein Highschool-Trainer einmal zu ihm. «Du bist vielleicht langsam, auf jeden Fall aber schwach.»

Allerdings hatte er ein scharfes Auge und flinke Hände. Dies waren für mich als Kind nur zwei Werkzeuge seiner allumfassenden Autorität. Ich war der Sohn, der seine Leidenschaft für den Sport geerbt hatte, dazu noch etwas von der Größe meines Urgroßvaters und Onkel Joes Körperlichkeit. Wir spielten alles Mögliche zusammen, Basketball, Tennis, Billard – und verbrachten den Großteil meines eher freundelosen ersten Highschool-Jahrs über einen Miniatur-Tischtennistisch gebeugt, der nicht größer als dreißig auf sechzig Zentimeter war. Mein Vater besitzt unendlich viel Geduld, aber er spielt keineswegs, um sich zu entspannen. Als ich zwölf oder dreizehn war, konnten wir uns ohne jede Rücksicht miteinander messen.

Die Familiengeschicke folgten der üblichen Flugbahn. Als Enkel eines Einwanderers und Sohn eines praktizierenden Anwalts war mein Vater Juraprofessor geworden. Sein eigener Sohn wollte Schriftsteller werden. Das Haus, in dem ich aufwuchs, war voller Bücher. Die Sommer verbrachten wir in Deutschland, wo meine Mutter geboren und aufgewachsen war, und jedes Mal schleppte mein Vater Antiquitäten und Teppiche mit zurück, die nach und nach unser sonniges Haus in Texas füllten. Es hatte einen großen Garten, und im hinteren Teil richtete er einen Basketballcourt ein, damit seine Kinder dort spielen konnten.

Vermutlich war ich nirgendwo glücklicher als auf diesem Spielfeld. Aber zwischen meiner und seiner Kindheit war irgendetwas geschehen, und der Unterschied lag nicht nur in dem Geld, mit dem wir jeweils aufwuchsen. Für ihn war Basketball die Entschuldigung gewesen, von zu Hause weg zu können; für mich war es der Grund, daheimzubleiben. Auch das Spiel selbst hatte sich verändert. Es gab keine jüdischen Stars mehr, Schwarze waren auf sie gefolgt, und auch in den Vierteln und auf den Sportplätzen sah man sie. Die Hälfte der Kinder, mit denen ich zur Schule ging, war schwarz, eher weniger in den Vertiefungskursen, deutlich mehr im Basketballteam. Der Sportplatz war einer der wenigen Orte, an denen wir gemeinsam abhingen, doch selbst dort machte sich die vornehme Zurückhaltung meines, nennen wir es: Klassenbewusstseins bemerkbar. Zum Beispiel wäre mir nie in den Sinn gekommen, einen Ball zu dunken.

Basketball tut weh, das ist das Erste, was man lernt, bis die Finger von einer Hornhaut überzogen sind, die in sich nur den ein oder anderen Tropfen Blut trägt. Meine Mutter, eine Sozialistin alter Schule, meinte bei ihrem Anblick: «Mit solchen Händen wirst du die Revolution überleben.»

Nicht dass einem das auf dem Platz viel half. Während meiner Highschool-Jahre folgte mein Vater freitagabends dem Teambus durch ganz Texas, um mich spielen zu sehen. An Orte, die Del Valle oder Copperas Cove hießen und vor deren Sporthallen die Konföderiertenflagge wehte. Er war bei den anderen Vätern auf der Tribüne, während ich auf der Bank auf meinen Händen saß (um sie aufzuwärmen). Ich hatte Angst davor, dass der Trainer mich aufs Feld schickt. Vermutlich haben viele Eltern ein Gespür dafür, wozu ihre Kinder fähig sind, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. In der Welt und in ihrer Liebe müssen wir ganz unterschiedlichen Ansprüchen genügen, und diese Differenz zu beobachten, muss schmerzhaft für sie sein.

«Soll ich mal mit dem Coach reden?», fragte er mich einmal auf dem Heimweg. Manchmal fuhr ich lieber mit ihm als im Mannschaftsbus.

«Bitte nicht», sagte ich.

Aber er ließ nicht locker. «Die hätten dich da draußen gebrauchen können. Ich weiß doch, was du draufhast.»

«Bitte nicht.»

Meine Scheu war Beleg dafür, wie selbstsicher er seit seiner Kindheit in den Straßen von Middletown geworden war.

Aber kurz vor dem College-Abschluss hatte auch ich so meine Erfahrungen gemacht. Und irgendwann in den vier Wanderjahren des Studiums kam ich auf die Idee, professionell Basketball zu spielen – niemand in meinem Bekanntenkreis hatte je vom Schreiben leben können.

Ein Freund filmte mich in der Uni-Sporthalle, wie ich ganz für mich allein Bälle warf und dunkte. Das war die Bewerbung, die ich verschickte, begleitet von der kleinen, aber entscheidenden Information, dass meine Mutter Deutsche war, was mir erlaubte, die europäische Quote für ausländische Spieler zu umgehen. Während meine Kommilitonen sich eifrig für Aufbaustudiengänge bewarben, Jura oder Medizin, und auf ihre Zulassungsbescheide warteten, verließ ich an einem windigen Märztag das Büro des Dekans und hatte die vier dünnen Seiten eines Vertrags in der Hand, den ein Agent gerade durchgefaxt hatte. Und ich zeigte ihn jedem, der in meine Nähe kam. Das hatte so etwas wunderbar Unplausibles. Ich hatte mit siebzehn das letzte Mal ein Trikot getragen, aber trotzdem gab es da jemanden in Ober-Ramstadt, der sich entschieden hatte, mich zu vertreten.

Ich wollte zu irgendetwas zurückkehren, zur Kindheit meines Vaters ebenso sehr wie zu meiner eigenen. Ein zielsicherer Jumpshot und eine gute linke Hand waren ihm viel wichtiger gewesen als Berufsausbildung, Gehalt, Festanstellung oder Hypothek. Ein normales Leben als Erwachsener kam mir vor wie einer dieser gesellschaftlichen Anlässe, zu denen man als Kind mitgeschleppt wird – wo man Anzug und Krawatte trägt, die einem nicht passen, und Sachen sagt, von denen man nicht überzeugt ist. Basketball war meine Entschuldigung, nicht hinzugehen. Außerdem wollte ich endlich die Dinge tun, die ich in der Highschool versäumt hatte.

Zwei Tage nach dem Studienabschluss flog ich nach Hamburg und verbrachte den Sommer damit, von einem Zug zum nächsten und vom Hotel in die Sporthalle zu gehen. Damals hatte ich nicht viel Gepäck, nur meine Sporttasche mit einer Ersatzgarnitur für alles, inklusive Sneakers, sowie dem dicken Ball in der Mitte. Die Klamotten wusch ich in dem Waschbecken, das gerade zur Verfügung stand. Die meisten der großen Städte waren vom Fußball dominiert, nur auf dem Land, in den Dörfern und Marktgemeinden, hatte der Basketball Luft zum Atmen. Ab Ende Juli war ich dann in Landshut, nordöstlich von München, bei einer Zweitligamannschaft unter Vertrag, die in der Gegend als «Yoghurts» bekannt war. Ich hatte einen Monat Zeit und flog nach Hause, um den Sommer wie üblich damit zuzubringen, zwischen der Kälte der Klimaanlage und der grellen, reflektierenden Hitze des väterlichen Basketballcourts zu pendeln. Ende August stieg ich dann in den Flieger nach München, um mein neues Leben zu beginnen.

Mein Vater brachte mich zum Flughafen und blieb bei laufendem Motor eine Minute lang im Auto sitzen. Er legte mir die Hand auf die Schulter; ich wusste, dass er einen Ratschlag vorbereitet hatte. «Tu mir einen Gefallen, ja?», sagte er schließlich. «Mach keinen Quatsch mit diesen Jungs, diesen Spielern.»

«Was meinst du mit Quatsch machen?»

«Du weißt, was ich meine», sagte er. «Zocken oder so. Das sind nicht die Kids, mit denen du aufgewachsen bist. Und wo wir gerade dabei sind: Hüte dich auch vor den Frauen, die um sie herumschwirren.»

Als ich dann die Sicherheitskontrolle, das Einchecken und den langen, fensterlosen Korridor zum Gate hinter mich brachte, spürte ich etwas Seltsames. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Angst vorm Fliegen.

3

Der Club schickte jemanden, der mich am Flughafen in Empfang nahm, einen Amerikaner namens Bo Hadnot, vom Akzent her Südstaatler. Er war so eins sechsundachtzig, eins achtundachtzig groß; vermutlich ein ehemaliger Spieler, dachte ich. Mit großen Zähnen, die seine Lippen ein wenig aufdrückten und ihn durstig aussehen ließen. Und mit kräftigen Händen – er nahm mir die Reisetasche ab. Das schien mir eine eher traurige Aufgabe für einen Expat.

Ich wurde in diesem Sommer öfters «in Empfang genommen», an Flughäfen, Bahnhöfen, Busterminals, von diversen Teamchefs und Clublakaien. Dicke, schlecht gekleidete Männer, deren letzter Rest von Jugend darin bestand, dass sie noch bei ihren Eltern wohnten. Ein Freund aus der Clubleitung hatte ihnen irgendeinen Job verschafft: Übernachtungen und Ablaufpläne organisieren, Spieler vom Hotel zur Halle befördern, danach die Umkleide putzen, Trikots waschen etc. Trotzdem spielten sie sich vor den nervösen Neuankömmlingen auf, vor Typen wie mir. Die meisten wussten gar nicht, wie ich heiße, und Hadnot war da keine Ausnahme. Ihnen genügte, dass ich Basketballspieler war, sie rechneten damit, meinen Kopf schon irgendwie über den anderen erkennen zu können.

Ich war nach dem Flug verschwitzt und verschüchtert und schlief auf der Fahrt schon nach wenigen Minuten ein. Hadnot verfuhr sich auf dem Weg vom Flughafen. Er weckte mich an einer Tankstelle, damit ich nach dem Weg frage, und sagte dabei erst leise, dann immer lauter: «Junge! Junge!» Er hatte mitbekommen, wie ich mit einem der Zollbeamten Deutsch gesprochen hatte. Wieder im Auto fragte ich ihn, wie lange er schon hier sei, und ohne Ironie oder Scham meinte er, fünf Jahre. Was er die ganze Zeit gemacht habe, fragte ich.

«Basketball gespielt.»

Irgendwann überwanden wir das Gitternetz an Autobahnen rund um den Flughafen und fuhren durch eine ländliche Gegend, die einladend und ordentlich bewirtschaftet aussah. Landstraßen, links und rechts von hohem Getreide gerahmt. Und Dörfer, die von Oberüber Mittel- zu Unter- eine ganze Skala von Namen aufwiesen, keines davon größer als eine Kurve und ein paar Bauernhäuser. Die Stadt selbst war recht hübsch und alt. Wir rumpelten ein paar Minuten lang über die Hauptstraße, vorbei an einer Kirche mit Backsteinturm, so nüchtern wie ein Fabrikschlot, bevor wir direkt am Fluss vor einem kleinen italienischen Restaurant namens Sahadi anhielten. Unter einer rotgestreiften Markise hingen Korbflaschen im Fenster. Die meisten Autos, die hier parkten, waren blaue, zweitürige Fiats mit brandneuen Nummernschildern: ein Anzeichen dafür, dass sich das Basketballteam hier versammelt hatte. Hadnot meinte, er müsse noch seine Tochter von ihrer Großmutter abholen, und fuhr los, kaum dass ich die Tür zugeschlagen hatte.

Das Sahadi trug den Namen seines Besitzers, eines Türken, der aus Turin über die Alpen gekommen war, als die Deutschen Ende der Achtzigerjahre die Einwanderungsbestimmungen lockerten. Er war die Sorte Mann, die mein Vater liebt, ein wurzelloser, polyglotter Verkäufertyp – mit Leuten wie ihm hatte ich meinen Dad meine ganze Kindheit über «parlieren» gesehen. Er hielt mich wegen meiner Größe für einen weiteren Spieler und führte mich unter mehreren niedrigen Backsteinbögen durch, allesamt von Weinreben umrankt. Die Bayern, sagte er mir (genau wie mein Vater das getan hätte, überhäufte ich ihn mit Fragen), würden die türkische Küche nicht sonderlich schätzen, weshalb er italienisch kochte, gelegentlich aber versuchte, auch ein paar östliche Elemente einfließen zu lassen. Herr Sahadi schien überglücklich, einen neuen Basketballspieler kennenzulernen. Unter einem der Bögen legte er mir die Hand auf den Arm, damit ich stehen blieb und er seinen Sermon loswerden konnte – die erste Andeutung von Berühmtheit.

Der letzte Raum war kaum mehr als eine Höhle; er enthielt einen niedrigen Tisch sowie ein halbes Dutzend Männer, die um ihn herum saßen und versuchten, irgendwie ihre Knie unterzubringen.

«Wo ist Hadnot?», rief jemand, als ich unter einer eingetopften Weinrebe den Kopf einziehen musste und einen freien Stuhl suchte. Er müsse seine Tochter abholen, sagte ich. «Bist du der Amerikaner?», fragte die gleiche Stimme. «Setz dich her, brother, setz dich her, denn mir beliebt mit dir zu sprechen.»

Die Stimme gehörte einem der beiden schwarzen Männer im Raum. Er machte mir neben sich am Tischende Platz und griff nach einem sauberen Teller, auf den er aus einer von Sprudelflaschen umringten Schüssel Spaghetti häufte. Die meisten anderen hatten schon gegessen. Es war nicht mehr viel übrig, aber er suchte zusammen, was er konnte, und präsentierte es mir: Grissini und Hummus, kalte Calamari, Parmesan, Zitrone, ein bisschen Frascati. Sein Name sei Charlie, sagte er, Charlie Gold, dann stellte er mir den Rest der Mannschaft vor: Olaf Schmidt, Axel Plotzke, Willi Darmstadt, Milo Moritz und Karl.

Charlie bestritt den Großteil des Gesprächs. Er hatte ein eher unmarkantes Gesicht, tiefhängende Augenbrauen und einen zurückweichenden Haaransatz – verschmitzt, aber keineswegs jugendlich. Zum Beispiel hatte er sich nicht die Mühe gemacht, wie bei Leistungssportlern üblich den Wildwuchs an Löckchen um die Ohren, am Hals und im Nacken wegzurasieren. Die Haut seiner Wangen war von Akne zerfurcht. Man hätte daran ein Streichholz entzünden können – ein Bild, das sich aufdrängte, weil so viele am Tisch rauchten.

Die Zigaretten wurden in den Essensresten, den Olivenschälchen und den leeren Kaffeetassen ausgedrückt. Charlie hatte sich nicht daran beteiligt, das roch ich sofort. Ich konnte es auch am Klang seiner Stimme hören, in der, wenn er jemandem zum Anzünden eine Kerze reichte, sowohl Belustigung als auch Missfallen mitschwang. Er war glücklich über dieses Missfallen; es verschaffte ihm die richtige Position. Er sagte zu mir: «Du rauchst aber nicht, oder?», und als ich den Kopf schüttelte, fügte er so laut, dass ihn jeder hörte, hinzu: «Diese Europäer, sie denken, sie sind Künstler. Sie denken, sie sind Rockstars. Direkt vor dem Spiel erzählen sie sich, wie viele Drinks sie am Abend davor gekippt haben. Sie wollen, dass du anständig spielst. Ich geb dir einen Rat, young man. Spiel niemals anständig.»

Daraufhin meinte einer der anderen lachend: «Ja, aber wir sind glücklich.»

«Nein, du bist nicht glücklich, Milo, du bist sicher nicht glücklich, wenn ich mit dir fertig bin.»

Milo hatte das Gesicht eines Boxers, fleischig, mit gebrochenem Nasenbein. Sein Lächeln wirkte wie aufgeklebt. Während ich aß, bahnte sich ein Mann mittleren Alters mit üppigem Schnurrbart einen Weg zwischen den Stühlen hindurch an unser Tischende. Ich muss auf seinem Stuhl gesessen haben, denn er sah mich scharf an, bis Charlie sagte: «Alles in Ordnung, Coach. Der Junge hier war hungrig, also hab ich gesagt, er soll sich zu mir setzen.»

Ich erkannte Herrn Henkel vom Probetraining und stand auf, um ihm die Hand zu geben.

«Wo ist Hadnot?», fragte er mich.

«Er muss seine Tochter abholen.»

«Er holt nie seine Tochter ab», erwiderte Henkel und ließ einen flüchtigen Blick über den Rest der Mannschaft streifen.

Dieser kurze Blick hatte etwas Väterliches, und das Kind und das Heimweh in mir fühlten sich angesprochen. «Wollen Sie sich wieder hierhersetzen, Coach?», fragte ich ihn auf Deutsch, aber er erwiderte in seinem holprigen Englisch: «Man soll nie seine Stellung aufgeben, oder was sagst du, Charlie?» Dann sagte er zu einem der anderen Jungs: «Rutsch mal, Darmstadt.»

Darmstadt war ein Schüler mit herausgewachsener Pilzfrisur. Er schob seinen Stuhl zurück, erhob sich und stand den restlichen Nachmittag an die Wand gelehnt. Niemand sagte etwas. Charlie nutzte die Gelegenheit, um sich ein paar Leute vorzuknöpfen – seine eigene Formulierung. Er hatte etwas Ruheloses an sich, das auf mich schon bei dieser ersten Begegnung wirkte, als sei er nicht wirklich glücklich. Man spürte, dass er sich zu Größerem berufen fühlte und mit der aktuellen Situation nur arrangierte. Zum Ausgleich machte er sich über andere lustig. Der Mann, den er mir als Plotzke vorgestellt hatte, war ein dicker, langarmiger Deutscher mit leichten Merkmalen einer Drüsenfunktionsstörung: ein hängendes, ovales Gesicht; große Kuhaugen. «Wie viel wolltest du im Sommer abnehmen, Axel? Oder hast du am Zunehmen gearbeitet?» Die Sorte von Witz.

«Ja, ja», sagte Axel. Eine wohlerzogene, mürrische Stimme. Aber Charlie schenkte fast jedem am Tisch seine Aufmerksamkeit, nur Darmstadt ließ er in Ruhe, außer er wurde provoziert. Aber es gab noch einen anderen Schüler im Team, und von dem sagte Charlie, er wolle ihn gern «als besten Freund bezeichnen».

Nennen wir ihn einfach Karl. Es gibt zum einen das rechtliche Problem, aber ganz unabhängig davon würde seine heutige Berühmtheit den Charme überlagern, den er damals hatte, in seiner ersten Profisaison, als er noch mehr oder weniger unbekannt war. «Wir zwei haben allerhand zu besprechen», sagte Charlie. Karl ließ dieses Gerede lächelnd über sich ergehen, ohne groß zuzuhören oder sich weiter darum zu kümmern. Er hatte eines dieser riesigen, flachen Gesichter, die Gefühle nur bedingt erkennen lassen. Und er wirkte ungemein deutsch, speziell was seinen Kleidungsstil anging, der fast schon penetrant leger war: braune Jeanshose, Ledersandalen und ein knallgelbes T-Shirt, auf das in verwaschenen Buchstaben die Worte High Anxiety gedruckt waren.

Später, als er sich unter der Toilettentür hindurchduckte, fiel mir erst auf, was an Karl das Faszinierendste war: Er war zwei Meter dreizehn groß und sah völlig normal aus. Es waren wir anderen, die wie geschrumpft oder unproportioniert wirkten.

Da Charlies Sprüche Karl nichts anhaben konnten, richtete er seine Aufmerksamkeit auf Olaf, den anderen dunkelhäutigen Spieler am Tisch. «Immer noch am Essen?», fragte er. «Brauchst wohl ’n bisschen mehr Zeit, wie?» Dann, mit einem gewissen Unterton: «Der Typ ist sogar zu faul zum Fressen.»

Sportmannschaften sind voller Mitläufer – alle fingen an zu lachen. Auch ich musste mir die Faust an die Lippen pressen. Olaf stocherte ungerührt in seinem Teller herum. Er hatte die athletische, seelenruhige Ausstrahlung einer griechischen Skulptur, einer zwei Meter großen, hundertzwanzig Kilo schweren griechischen Skulptur. Seelenruhig war jedoch nicht das Wort, das Charlie für ihn bestimmt hatte. Faul, faul, faul; er sang es geradezu wie einen Choral. Heilig, heilig, heilig. Olaf hob die Hand und senkte den Kopf, eine seiner typischen Gesten.

«Ich verstehe, was du meinst», kommentierte Charlie. «Lass mich in Ruhe. Nur werde ich das nicht.»

Wenn die Deutschen Englisch sprechen, klingen ihre Stimmen oft so süßlich wie schwacher Tee. «Nein, ich sag dir, was ich meine», erwiderte Olaf. «Du kannst mich am Arsch lecken, Kleiner.»

Das verursachte eine kleine Sensation, und zwar der Ruhe, weshalb Charlie umherblickte und fragte: «Was heißt das? Was heißt das?»

Darmstadt, der nach wie vor an der Wand lehnte, fing an zu kichern. «Der Junge lacht wohl über alles», sagte Charlie. «Der lacht auch noch, wenn man ihn von der Brücke wirft.»

Olaf redete weiter auf Deutsch: «Es ist ganz schön daneben, hier anzukommen und auf die Jüngeren loszugehen.»

Charlie drehte sich lächelnd zu mir. «Was hat dieser faule Hurensohn gesagt? Was hat er gesagt?»

Für einen Moment sahen wir uns in die Augen. Milo klatschte in die Hände und rief: «Wir haben einen Dolmetscher! Einen Dolmetscher.» (Ein hässliches deutsches Wort für translator.) Auch Olaf sah jetzt zu uns, und ich erkannte an seinem leicht belämmerten Blick, dass er ein bisschen Angst vor dem hatte, was ihm da über die Lippen gekommen war, ein bisschen Angst vor Charlie.

Ich sah zu Charlie, ich sah zu Olaf, und ich sah zu Herrn Henkel, der mit einem bemühten Lachen sagte: «Immer locker bleiben, Charlie.» Er hatte ein freundliches, einfaches, bayrisches Gesicht: braun gebrannt, würdevoll und kantig. Das Gesicht eines wohlhabenden Bauern. Nur wenn er Witze riss oder lachte, wurde etwas Derberes erkennbar, ein Humor, den er sich im Umkleideraum zugelegt hatte.

«Ich dachte, ich werde genau dafür bezahlt. Für meinen Pre-Season Peptalk.»

Aber Henkel legte dem schwarzen Mann die Hand auf den Kopf. «Nein, nicht dafür bezahlen wir dich. Das gibst du uns als Zugabe.»

«Ich bin eben großzügig», sagte Charlie.

Ein paar Minuten später bat Henkel um Ruhe und begann seinen eigenen «Pre-Season Peptalk». Er erklärte, was er von uns erwartete, was er in diesem Jahr erreichen wollte, und gab einen groben Überblick, wie die kommenden Wochen aussehen würden. Es rührte mich, wie emotional die meisten Männer reagierten, trotz der Streiterei und der peinlichen Stimmung beim Essen. Zum Teil lag das wohl auch daran, dass sie ein wenig betrunken waren. Olaf legte die Wange in seine große Handfläche. Milo drückte, als Henkel aufstand, um einen Toast zu sprechen, schnell die Zigarette aus und schenkte sein Glas voll. Eine krudere Zusammenstellung von Menschen kann man sich gar nicht vorstellen – wie komplett unterschiedliche Stühle in einem Trödelladen. Fast jeder von uns war in irgendeiner Form zu groß, zu dick oder zu dünn. «Aufs Gewinnen», sagte Henkel, «denn Gewinnen ist besser als Verlieren.» Wir jubelten ihm hoffnungsvoll zu.

Es war Charlie, der mich nach dem Essen heimbrachte – also zu meiner neuen Wohnung. Sein Auto war etwas größer als die anderen, ein VW Golf, an dessen Rückspiegel ein Paar Nike-Hightops in Miniaturversion baumelte. Ich fragte mich, ob er damit irgendwelche Ansprüche auf mich geltend machen wollte. Wir fuhren zurück durchs Zentrum und die Hügel hinauf, Hügel, hinter denen das offene Ackerland begann, und kamen unter dem roten Backsteinbogen einer alten Bahnbrücke durch. Die Gleise wurden inzwischen nur noch von Bäumen genutzt.

Zur Rechten thronte ein Pferdehof, dahinter fiel das Gelände in ein bewaldetes Tal ab. Charlie bog nach links, fuhr ein kurzes Stück über eine asphaltierte Zubringerstraße und parkte vor einer Reihe geschlossener Garagen, die sich entlang einer großen violetten Wohnanlage aus den Sechzigerjahren erstreckten. Er stieg nicht aus, um mir mit dem Gepäck zu helfen, aber die Art, wie er dasaß, ließ vermuten, dass er etwas sagen wollte. Also wartete ich einen Moment, bevor ich die Tür aufmachte. Genau wie bei meinem Vater, zwölf Stunden vorher.

«Ich habe große Hoffnungen, young man», sagte er, «dass wir dieses Jahr den Sprung aus der zweiten Liga schaffen. Karl wird nicht lange bleiben, deshalb müssen wir die Zeit nutzen. Aber jeder hat seine Rolle zu spielen. Auch du.» Nach einer Pause sagte er erneut: «Große Hoffnungen» – und mit diesen ließ ich ihn zurück, nahm meine Tasche vom Rücksitz und stieg aus.

Meine Wohnung war eine von denen, die zur Straße zeigten. Die meisten meiner Teamkollegen hatten irgendwann in diesem Komplex gewohnt, aber es gab hier auch Zivilisten, wenn man so sagen will. Und Hinweise auf Familien: kleine Fahrräder, die auf den Fußwegen herumlagen, Gießkannen, Gummistiefel. Die strahlende Vielfalt des Lebens zeigte sich an Wäscheleinen zwischen Badezimmerfenster und Balkongeländer. Herr Henkel hatte mir die Schlüssel gegeben, und mit einem davon mühte ich mich ab, um das fensterlose Treppenhaus betreten zu können. Der Jetlag machte sich langsam bemerkbar. Am Vortag war ich noch in einer anderen Welt gewesen. Endlich allein, dachte ich und war fast schon dankbar für die Dunkelheit, als ich die paar Stufen zu der Tür hinaufstieg, deren Nummer an der Schlüsselkette hing.

Das Zimmer, in das ich eintrat, hatte in der Mitte ein großes Bett; es sah verlockend gemütlich aus in dem schwachen Licht, das durch die zugezogenen Vorhänge des dahinterliegenden Fensters hereinkam. Sie waren schwer und hässlich, und das Erste, was ich machte, war, sie derart gewaltsam herunterzureißen, dass zum einzigen Mal an diesem Tag die Sorglosigkeit sichtbar wurde, die mit der Freude eines jungen Mannes einhergeht. Es war fünf Uhr an einem Sommernachmittag, und der Himmel hatte sich etwas aufgeklärt – die Sonne schien heller, je mehr sie sich senkte. Das Fenster zeigte auf einen schmutzigen, eingemauerten Balkon, von dem das Wasser schlecht abfloss; stehende Pfützen hatten die Fliesen ausgebleicht. Dahinter lag die Straße, und hinter der Straße kamen der Pferdehof, das Tal und der Wald. Das transparente Licht im Westen verdickte sich zu einem Bronzeton, bevor es schließlich ganz verschwand. In diesem Licht schlief ich ein.

Es war dunkel, als ich aufwachte – auch weil mir kalt war. Außerdem hatte ich Hunger, nur nicht genug Hunger, um mir so spät noch etwas zu essen zu besorgen (es war schon nach zehn), deshalb beschloss ich zu duschen, mir frische Sachen anzuziehen und dann wieder ins Bett zu gehen. Wir wollten am nächsten Tag früh anfangen. Das Training begann um neun, und um elf sollten die Türen für die Presse geöffnet werden. Meine Tasche lag da, wo ich sie fallen gelassen hatte, also auf dem Kissen neben mir. Ich nahm den Basketball heraus und fing an, meine Sachen auszupacken.

Im College hatte ich mich nie für Mode interessiert, wobei ich bezüglich meiner Garderobe doch einen merkwürdigen Ehrgeiz entwickelte, nämlich den, sie auf ein praktisches Minimum zu reduzieren. Wenn ich mir eine Hose kaufte, nahm ich eine, die für eine Interrail-Tour durch Europa ebenso geeignet gewesen wäre wie für ein Begräbnis oder ein Bewerbungsgespräch – eine, die ich bei Hitze oder Kälte anziehen konnte; bei langen Reisen; bei einem Picknick auf einer matschigen Wiese. Sogar meine Sneakers, schwarze Air Jordans, hatte ich einmal zu einer dunklen Hose bei einem College-Ball getragen. Mein Anspruch war nicht, gut auszusehen oder modisch zu sein, sondern ungebunden, leichtfüßig, stets in der Lage einfach abzuhauen. Als ich meine wenigen Sachen in dem großen, alten Schrank verstaute, der neben dem Bett aufragte, hatte ich das Gefühl, dass zumindest eine meiner Eitelkeiten mir doch noch nützlich gewesen war und ihre Existenz rechtfertigte. Dass ich genau so lebte, wie ich es mir erträumt hatte.

89,95 zł

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Objętość:
331 str. 2 ilustracje
ISBN:
9783772544231
Tłumacz:
Właściciel praw:
Bookwire
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