Czytaj książkę: «Die Magie von Winterhaus»
Ben Guterson
DIE MAGIE VON
WINTERHAUS
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Mit Illustrationen von Chloe Bristol
Für Jan, John, Dave und Mary
Inhalt
ERSTER TEIL: DIE GEFAHREN DES STURMS
KAPITEL 1: DER EINGANG STECKT UNTER STEINEN
KAPITEL 2: VOLLER ELAN NACH HAUSE
KAPITEL 3: EINE GABE SUCHT IHRESGLEICHEN
KAPITEL 4: WOHIN DIE SEELE SENDEN?
KAPITEL 5: EINE RÜGE FÜHLT SICH UNGERECHT AN
KAPITEL 6: EIGENE WEGE HEIMLICH GEHEN
KAPITEL 7: ES SENKT SICH ERSCHROCKENE STILLE ÜBER DEN SAAL
KAPITEL 8: DIE STILLE NACH DEM STURM
KAPITEL 9: EIN GANG IN DER NACHT
ZWEITER TEIL: DAS BEBEN DEHNT SICH AUS
KAPITEL 10: KEIN FREUND IN DEM ÜBLICHEN SINNE
KAPITEL 11: «ES WAR MIR WIRKLICH EIN VERGNÜGEN.»
KAPITEL 12: IN NORBRIDGES SCHRANK IST EINIGES VERSTECKT
KAPITEL 13: EINE WUNDERBARE MISSION
KAPITEL 14: EIN BESUCH BEI DER KINDLICH ALTEN DAME
KAPITEL 15: EIN BESENSTIEL IST EIN GEFÄHRLICHES DING
KAPITEL 16: DIE VERWIRRUNG GEHT IN DIE NÄCHSTE RUNDE
KAPITEL 17: ICH HABE EVENTUELL ETWAS HERAUSGEFUNDEN!
KAPITEL 18: UND GLEICH DARAUF STANDEN ALLE VOR GRACELLAS TÜR
DRITTER TEIL: DIE GEHEIMEN GEDANKEN DES RILEY GRANGER
KAPITEL 19: DIE BROSCHÜRE NIMMT GESTALT AN
KAPITEL 20: FERN UND NAH IN AUSBLICKEN – DIE CAMERA OBSCURA IN AKTION
KAPITEL 21: EIN FEUER LÖST EINE HEFTIGE DISKUSSION AUS
KAPITEL 22: RILEY GRANGERS ANSICHT BARG EINEN KONFLIKT ZWISCHEN FREUNDEN
KAPITEL 23: GEDICHTE, DOCH AUCH GEDANKEN
KAPITEL 24: DIE WORTE AN DER WAND REIMEN SICH … NICHT NUR!
KAPITEL 25: EINE BELIEBIGE ANSAMMLUNG VON WÖRTERN
VIERTER TEIL: MIT GLAUBEN UND WÜNSCHEN DER DUNKELHEIT ENTGEGEN
KAPITEL 26: FREDDY ENTDECKT DAS TUCH – UND ELIZABETH WEICHT VOM WEG AB
KAPITEL 27: EIN ZUFÄLLIGES TREFFEN BEI DER ALTEN MINE
KAPITEL 28: WIE DER PERMAFROST ERNEUT FÜR ANGST UND SCHRECKEN SORGT
KAPITEL 29: VON DEN ÄNGSTEN EINER NACHT
KAPITEL 30: WER KOMMT ZUM ABENDESSEN?
KAPITEL 31: DIE PARTY IST EIN VOLLER ERFOLG
KAPITEL 32: EIN ALTER BRIEF – EIN DÜSTERES GEHEIMNIS
KAPITEL 33: DIE NACHT EILT DEM ENDE ENTGEGEN
KAPITEL 34: EIN WUNSCH VOLL EBENSOLCHER MACHT
DANKSAGUNG
Leseprobe
KAPITEL 1
KAPITEL 2
«In Bruno Gestens erstem Roman Der Bruchstück-Betrug zitiert eine der Figuren aus erfundenen Büchern, ein sinnloses und gleichzeitig großartiges Unterfangen.»
Aus: Ewiges Marbella von Pierre Menard
ERSTER TEIL
KAPITEL 1
DER EINGANG STECKT UNTER STEINEN
An einem eiskalten Samstagnachmittag Mitte März fuhr Elizabeth Somers allein durch die Winterlandschaft, als sie ein blutrotes Tuch entdeckte, das neben der Loipe an den Ast einer Erle gebunden war. Sie hatte gerade umkehren wollen, zum einen, weil ihr Großvater Norbridge sie gebeten hatte, nicht länger als zwei Stunden wegzubleiben, zum anderen, weil sich der Himmel mit Wolken verdunkelt hatte und außerdem noch eine Menge Hausaufgaben auf sie warteten. Aber gerade als sie die Spitzen der Stöcke in den Schnee grub, um ihre Langlaufskier zu wenden, hatte das Stück Stoff ihre Aufmerksamkeit erregt. Es war ein rotes Taschentuch, das schlaff an dem Ast hing, der einzige Farbklecks in dem ansonsten schier endlosen Weiß, durch das sich die Loipe zog.
Elizabeth hielt an und betrachtete das Tuch. Es war ausgefranst und hing anscheinend schon eine ganze Weile da. Sie zupfte mit ihren behandschuhten Fingern daran, aber der Knoten war fest. Der Atem stand ihr in kleinen Wölkchen vor dem Gesicht, und der Schweiß auf ihrer Stirn wurde kalt, als ihr klar wurde, dass sie auf diesem Pfad noch nie so weit gefahren war. Sie drehte sich um und betrachtete das verschneite Tal, in dem sie sich befand. Nirgends waren Häuser zu sehen, nur winterkahle Tannen und Erlen und – weit im Osten – hohe Berge unter einem ergrauenden Himmel. Alles war still.
Wer bindet hier draußen, mitten im Nirgendwo, ein Tuch an einen Baum?, wunderte sich Elizabeth.
Noch einmal blickte sie sich um, dann musterte sie den Boden vor ihren Skispitzen. In dem Pulverschnee prangten Fußabdrücke, die von dem Baum auf einen Geländeanstieg zuführten, der etwa hundert Meter nördlich hinter der Biegung eines vereisten Bachs lag.
Das Gefühl überkam Elizabeth, diese mittlerweile vertraute Intuition – bei der ihr Magen absackte und es in ihrem Kopf zu surren begann –, dass hier in der Umgebung mehr verborgen lag, als man auf den ersten Blick sehen konnte: eine Überraschung, die auf sie wartete, vielleicht sogar eine Person.
«Hallo?», rief sie und schaute zu dem Hügel. «Ist hier jemand?»
Sie bekam keine Antwort. Nur der Wind seufzte in den Baumkronen, ehe es wieder ganz still wurde.
«Ich habe keine Angst», flüsterte Elizabeth.
Sie zog sich die Mütze tiefer über die Ohren, während sie noch einmal rechts und links die Loipe entlangschaute. Dann löste sie die Bindung ihrer Skischuhe, trat aus den Skiern und folgte den Fußspuren.
Direkt hinter dem gefrorenen Bach führten die Spuren einen gewaltigen verschneiten Erdwall hoch, dessen obere Kante bis zu den Kronen der ringsum stehenden Erlenbäume aufragte. Als Elizabeth ein paar Schritte weiter hinaufstieg, gelangte sie zum Rand eines baumlosen Kreises, der so riesig war, dass die Eisbahn des Hotels Winterhaus gut und gerne zehnmal hineingepasst hätte. Schneebemützte Felsblöcke bedeckten den Kreis. Was vor ihr lag, sah aus wie ein großer Teich, den man mit Felsgestein aufgefüllt hatte, eingefasst von einer wallartigen Böschung, auf der sie jetzt stand.
Was ist das bloß?, fragte sich Elizabeth.
Die Fußspuren zogen sich bis zu einer kleinen Lichtung inmitten der Felsbrocken hinunter, und Elizabeth folgte ihnen. Als sie den Boden der Senke erreichte, fiel ihr ein schiefer Pfosten auf, an dessen Spitze ein verbeultes Schild aus beige lackiertem Metall hing. Vor den schneebedeckten Steinen fiel es kaum auf. Es sah aus, als gehöre es zu der Landschaft. Elizabeth rieb sich den Schnee von der Brille und betrachtete das Schild. Die orangefarbenen Buchstaben waren so verblasst, dass man sie kaum noch lesen konnte.
GEFAHR! DIE RIPPLINGTON MINENGESELLSCHAFT ERKLÄRT DIESE MINE, DEN «SILBERWEG», FÜR GESCHLOSSEN! DIE MINE WURDE VERSIEGELT UND IST NICHT MEHR ZUGÄNGLICH! ZUR SICHERHEIT ALLER HABEN WIR DEN EINGANG AUFGESCHÜTTET, ABER WIR KÖNNEN KEINE HAFTUNG FÜR PERSONEN ÜBERNEHMEN, DIE VON DIESEM PUNKT AUS WEITERGEHEN! KEHREN SIE UM! ES IST NICHT SICHER HIER!
Elizabeth spürte ein Flattern in ihrer Brust. Sie wusste, dass sich die unzähligen Gänge des Silberwegs, der vor über einem Jahrhundert aufgegeben worden war, von hier aus in alle Richtungen erstreckten und unter dem Winterhaus ein wahres Labyrinth aus Tunneln bildeten. In einem dieser Gänge hatte Elizabeth vor fast drei Monaten Norbridges Schwester Gracella überwältigt, die Zauberin, die versucht hatte, Macht über sie zu erlangen. Sie wusste auch, dass Gracella zwar besiegt war, dass ihr Körper aber immer noch in jenem düsteren Tunnel unter der Erde lag. Durch eine dunkle Magie war ihr irdischer Leib nicht nur zu Stein erstarrt, er ließ sich auch keinen Zentimeter bewegen, und Norbridge hatte sie vorsorglich dort, wo sie lag, in Beton einschließen lassen und die Türen im Winterhaus, die zu den unterirdischen Gängen führten, versiegelt. Elizabeth wurde klar, dass der einzige Zugang zum Silberweg die kreisrunde Öffnung war, über der sie stand und die mit tonnenschwerem Felsgestein gefüllt war. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, als sie das verbeulte Warnschild noch einmal las.
Elizabeth wollte gerade umkehren, als sie unter ihren Füßen ein kaum merkliches Rumpeln wahrzunehmen glaubte. Es war wie ein weit entfernter Donner, und ein Teil von ihr war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt etwas gespürt hatte. Sie stand da und wartete ab, ob sich das Rumpeln wiederholen würde, aber alles blieb still.
Der Wind frischte auf, und als sich Elizabeth erneut abwenden wollte, war ihr, als ob ein schwacher blutroter Schimmer durch den Schnee in der Mitte der Felsbrocken dringen würde. Schnell schüttelte sie den Kopf und legte die Hand auf ihre Brust, wo unter ihrer Jacke der blausilberne Anhänger mit dem Wort «Glaube» darauf lag.
«Ich habe keine Angst», sagte sie.
Wieder kam eine Windböe, diesmal stärker als die erste. Elizabeth blickte noch einmal auf das Schild. Der Wind fegte nun über den kreisrunden, versiegelten Minenschacht, und Elizabeth drehte sich um und kraxelte die Böschung hinauf bis zum oberen Rand. Als sie sich ein letztes Mal zu der baumlosen Ebene umblickte, meinte sie wieder, im Zentrum einen trüben rötlichen Schimmer aufsteigen zu sehen. Aber das ist doch unmöglich, dachte sie. Gleichzeitig drohte die Angst, die in ihr aufstieg, sich zu einer regelrechten Panik auszuwachsen, sodass sie nun so schnell sie konnte zum Weg zurückrannte, wobei sie aufpassen musste, um nicht im Schnee auszurutschen und hinzufallen. Als sie ihre Skier erreichte, fühlte sie wieder, wie die Erde rumpelte. Sie erstarrte und lauschte. Der Himmel wurde immer dunkler.
Donner, dachte sie, als sie in die Bindungen ihrer Skier stieg, wunderte sich aber, dass sie den Blitz übersehen hatte. Das ist bestimmt Donner.
Das rote Taschentuch flatterte vor ihr am Baum, als wieder eine Böe über die Schneelandschaft fegte. Elizabeth zog an dem Tuch und brach dabei den dürren Ast ab. Dann knäulte sie das Stück Stoff zusammen und warf es in einen Schneehaufen. Sie stapfte zurück zur Loipe und schob sich mit den Skistöcken so kraftvoll an, wie sie konnte. Mit eiligen Schritten machte sie sich auf den Rückweg zum Winterhaus. Und die ganze Zeit versuchte sie, eine Angst zu verdrängen, die sich beharrlich in ihren Geist bohrte: Was, wenn Gracella doch nicht tot ist?
Wieder rumpelte die Erde.
KAPITEL 2
VOLLER ELAN NACH HAUSE
Elizabeth hatte nur einen Gedanken, während sie sich so schnell wie möglich von der Mine und dem roten Taschentuch entfernte: Sie musste Norbridge von ihrer Entdeckung erzählen. Sie fürchtete sich – sowohl vor dem, was sie gesehen, als auch vor dem, was sie gefühlt hatte. Seit den Weihnachtsferien wohnte sie nun im Winterhaus, und alles war wunderschön: Morgens freute sie sich auf ihre neue Schule, abends las sie, trank heiße Schokolade oder besuchte Freunde. Sie verbrachte viele Stunden allein in der riesigen Bibliothek des Hotels, und an den Wochenenden ging sie Skifahren, Schlittschuhlaufen oder machte Spaziergänge um den gefrorenen Lake Luna. Und doch verspürte sie immer noch diese merkwürdige Verlockung, die ihr Gracella eingeimpft hatte, die sie aber nicht näher erklären konnte. Dieses Gefühl war beunruhigend.
Das alles ging ihr durch den Kopf, als eine Viertelstunde später wieder das Gefühl über sie kam. Sie blieb stehen. Sie war schnell gefahren, und es hatte angefangen zu schneien. Vor ihr gabelte sich die Loipe, und obwohl sie genau wusste, welcher Weg zum Winterhaus zurückführte, hatte sie das untrügliche Gefühl, dass sich auf dem Weg, den sie kreuzen musste, jemand näherte. Sie war diesen Weg selbst schon ein paarmal gefahren; er führte nach Süden, in das fünf Meilen entfernte Havenworth, wo ihre Schule war. Sie lauschte und wartete ab, ob jemand auftauchen würde. Und dann kam hinter einer Biegung, keine hundert Meter weit weg, eine Gestalt in einer silberfarbenen Jacke und einer roten Mütze in Sicht, die rasch auf Skiern in ihre Richtung glitt.
«Elizabeth!», rief der Skifahrer genau in dem Augenblick, in dem sie ihn erkannte. «Hallo!»
«Hyrum!», antwortete sie, und all ihre Angst und Sorge der letzten halben Stunde verflogen. Denn dies war Hyrum Crowley, der Referendar von Elizabeths Schule, den sie kannte, seit sie vor zehn Wochen an die Havenworth Akademie gekommen war – gleichzeitig mit Hyrum. Er unterrichtete sie nur zweimal pro Woche – in Englisch, dienstags und donnerstags, denn immerhin war er ja noch nicht mit seiner Ausbildung fertig –, aber Elizabeth hatte auch so schon den Eindruck, dass aus ihm ein ganz ausgezeichneter Lehrer werden würde. Dass er einundzwanzig Jahre alt war, seinen Abschluss an der renommierten Bruma Universität ganz in der Nähe gemacht hatte, sein schwarzes Haar stets gut gekämmt trug und fast genauso viele Bücher gelesen hatte wie Elizabeth (einschließlich ihres aktuellen Lieblingstitels, Der Gesang der Nachtigall) bestärkte sie nur in ihrer Einschätzung. Er war außerdem ziemlich nett, gerade alt genug, um erwachsen zu sein, aber noch nicht so alt, dass er das Gespür dafür verloren hatte, wie es ist, jung zu sein, zum Beispiel zwölfdreiviertel, so wie Elizabeth.
«Wow», rief Hyrum im Näherkommen. «Wie es aussieht, sind heute alle coolen Leute zum Skifahren unterwegs.»
Elizabeth lachte. «Kommen Sie aus der Stadt?», fragte sie, als Hyrum vor ihr anhielt. Er atmete schwer. Der Schneefall war dichter geworden und es ging jetzt beständig ein schneidender Wind. Elizabeth war Hyrum schon mindestens ein halbes Dutzend Mal auf den Loipen rund um das Winterhaus begegnet, und sie wusste, wie sehr er das Skifahren liebte.
«Richtig», antwortete er. Seine Augen strahlten. «Und es ist wirklich schön, dich hier draußen zu treffen.» Er schaute die Loipe entlang in die Richtung, aus der sie kam. «Bist du auf dem Heimweg?» Sie nickte, aber bevor sie etwas sagen konnte, kam er ihr zuvor. «Ich wette, du beeilst dich mit dem Nachhausekommen, weil du die Bio-Hausaufgaben von Mr. Karminsky noch nicht gemacht hast.»
Wieder lachte Elizabeth. «Das kriege ich noch hin.» Sie schob ihre Brille hoch.
«Ich treffe mich im Winterhaus mit dem Schulleiter», sagte Hyrum. Elizabeth erinnerte sich, dass Norbridge ihr gesagt hatte, er habe Professor Egil P. Fowles, den Rektor der Havenworth Akademie, zum Abendessen eingeladen. Mr. Fowles, ein netter, wenn auch sehr korrekter Mann, der seinen Tag durch regelmäßige Blicke auf seine Armbanduhr akkurat einteilte, war ein weiterer Grund, warum Elizabeth ihre neue Schule so gern mochte. Anders als auf der Schule in der kleinen Stadt Drere, wo sie seit ihrem vierten Lebensjahr bis zum letzten Weihnachtsfest bei ihrer Tante Purdy und ihrem Onkel Burlap gelebt hatte, machten alle Lehrer der Havenworth Akademie den Eindruck, als würden sie nicht nur ihre Arbeit mögen, sondern auch die Schüler. Und das war Elizabeths Meinung nach Egil P. Fowles zu verdanken, der in dieser Hinsicht mit gutem Beispiel voranging.
«Bleiben Sie auch zum Abendessen?», fragte Elizabeth und gab sich keine Mühe, ihre Hoffnung zu verhehlen, dass er Ja sagen würde.
«Eins habe ich in der kurzen Zeit, die ich bislang hier verbracht habe, gelernt», gab Hyrum gespielt feierlich zurück. «Wenn Mr. Norbridge Falls zum Abendessen einlädt, lehnt man nicht ab.» Er schaute zum Himmel hoch. «Aber wir sollten uns beim Fahren unterhalten, finde ich. Ich glaube nicht, dass sich die Sonne heute noch einmal blicken lässt.»
Die Loipe verschwand allmählich unter einer Schicht Neuschnee, und der Himmel wurde immer dunkler. Spätestens nach einer halben Stunde war Elizabeth heilfroh, dass sie Hyrum getroffen hatte. Sie fuhren nebeneinander her und unterhielten sich über die Schule, das Winterhaus, die gepflegten Loipen und über ein Thema, das sie beide liebten: Bücher. Über eine Sache allerdings bewahrte Elizabeth Stillschweigen, nämlich darüber, was sie entdeckt hatte, bevor sie sich begegnet waren: die geheimnisvolle, verlassene Mine und das rote Taschentuch am Baum. Sie erschauderte und bekam es bei dem Gedanken an diese stille und einsame Stelle in dem trichterförmigen Mineneingang regelrecht mit der Angst zu tun.
«Hast du kürzlich mal wieder etwas von meinem Großvater gelesen?», fragte Hyrum, nachdem Elizabeth ein paar Bücher erwähnt hatte, die sie in den letzten Wochen durchgeschmökert hatte.
Eine der vielen interessanten Seiten von Hyrum Crowley war sein Großvater, Damien Crowley, der nicht nur vor Jahren in der Nähe von Winterhaus gelebt hatte, sondern auch Autor von unheimlichen und makabren Geschichten war, die Elizabeth liebte. Sie hatte noch nicht alle seine Bücher gelesen – soviel sie wusste, hatte er insgesamt neunundneunzig Romane geschrieben –, aber das würde sie irgendwann schaffen.
«Ich bin gerade mit Jeder Regenbogen hat einen schwarzen Rand fertig geworden», sagte Elizabeth, als das Hotel Winterhaus golden schimmernd und bekrönt von zahlreichen Wimpeln mit einem großen «W» auf dem Dach aus der verschneiten Landschaft vor ihnen auftauchte.
«Das hat mir richtig gut gefallen», sagte Hyrum. «Der Leprechaun, der in Wahrheit ein Vampir ist! Wow, ich habe echt keine Ahnung, wie mein Großvater auf all diese Geschichten gekommen ist.»
«Als Nächstes will ich Dunkelheit am Ende des Tunnels lesen.»
«Viel Glück beim Einschlafen danach!»
«Ich glaube, mein Lieblingsbuch von ihm ist bislang Colin Dredmares Kammer der Verzweiflung», sagte Elizabeth.
«Der absolute Gruselfaktor!», sagte Hyrum. «Ich mag am liebsten Malcolm Ghastford und das Geheimnis des wachsenden Kerkers.»
Ein Ereignis, das Elizabeth seit über einem Jahr nicht mehr aus dem Kopf ging, war der seltsame Fund in Gracellas altem Zimmer im Winterhaus. Sie hatte sich einmal heimlich hineingeschlichen – das Betreten des Zimmers war streng verboten, obwohl es nichts Besonderes und abgesehen von ein paar Möbelstücken auch leer war. Aber in der Schublade der Kommode hatte sie ein Buch von Damien Crowley mit dem Titel Die geheime Unterweisung der Anna Lux gefunden, das sie nur einmal kurz aufgeschlagen und dann liegen gelassen hatte. Sie hatte es nie erwähnt, niemandem gegenüber. Gelegentlich war sie in Versuchung gewesen, noch einmal in Gracellas Zimmer zu gehen, um sich das Buch genauer anzuschauen, besonders weil nicht einmal Leona Springer, die Bibliothekarin des Hotels und Elizabeths gute Freundin, irgendwo eine weitere Ausgabe des Titels hatte auftreiben können, trotz ihrer vielen Kontakte zu anderen Bibliotheken. Aber Elizabeth wusste, dass sie Gracellas Zimmer nie mehr betreten durfte. Die Neugier hatte sie einmal übermannt, und sie hatte Norbridge nie gebeichtet, was sie getan hatte. Sie schwor sich, dass es bei diesem einen Mal bleiben würde.
Elizabeth überlegte, ob sie Hyrum nach dem Buch über Anna Lux fragen sollte. Aber noch während sie die letzten Bäume hinter sich ließen und in die weite Ebene vor dem Winterhaus glitten, kam er ihr zuvor und sagte: «Professor Fowles hat kürzlich erwähnt, dass du wahrscheinlich eines Tages Winterhaus leiten wirst, weil du Norbridges nächste Verwandte bist. Stimmt das?»
Die Frage schreckte Elizabeth auf, obwohl schon andere sie gestellt hatten. Aber sie war sich noch nicht schlüssig, wie sie selbst dazu stand. Sie liebte Winterhaus von ganzem Herzen und hielt sich für den glücklichsten Menschen auf der ganzen Welt, weil sie hier wohnen durfte. Aber der Gedanke, von Norbridge das Zepter zu übernehmen, verantwortlich zu sein für das ganze Hotel und jeden darin – das war zu viel für sie. Sie war zwölf Jahre alt, und es reichte ihr voll und ganz, hin und wieder in der Bibliothek auszuhelfen und pünktlich ihre Hausaufgaben abzuliefern.
«Ich weiß nicht», sagte Elizabeth, «wahrscheinlich schon …» Sie fühlte sich wie früher in Drere, wenn ihre Tante Purdy sie wegen einer fehlenden Socke oder einer anderen Kleinigkeit verhörte, mit der Elizabeth rein gar nichts zu tun gehabt hatte. Hyrums Frage hinterließ ein ängstliches und unsicheres Gefühl. Das Zischen der Skier im Schnee kam ihr plötzlich lauter vor, während sie überlegte, was sie sagen sollte.
«Wir sind fast da!», sagte Hyrum, und Elizabeth war froh, dass er die unbehagliche Stille durchbrochen hatte. In der Tat näherten sie sich rasch dem großen Hotelgebäude. Durch den wirbelnden Schnee sah Elizabeth, wie auf der gepflasterten runden Auffahrt vor der Lobby ein Auto anhielt und Personen ausstiegen.
«Sind das nicht diese Puzzle-Leute?», fragte Hyrum, der die Szene ebenfalls beobachtete.
Und richtig: Elizabeth sah, wie Mr. Wellington und Mr. Rajput, zwei Gentlemen, die seit fast zwei Jahren bei jedem Aufenthalt im Winterhaus an einem riesigen Puzzle mit fünfunddreißigtausend Teilen arbeiteten, ihren Ehefrauen aus dem Auto halfen. Dann gingen alle vier auf das Hotel zu. Sie wollte ihnen zurufen und sie begrüßen, aber sie war immer noch zu weit weg, und der Schnee schluckte alle Geräusche.
«Ich dachte, sie würden erst nächste Woche eintreffen», sagte Elizabeth.
Hyrum machte eine Kopfbewegung zum Hotel. «Gehen wir Hallo sagen.»
Elizabeth stieß sich auf den Skiern vorwärts. Während sich die Entfernung zum Winterhaus stetig verringerte, überlegte sie, warum ihr das frühe Eintreffen von Mr. Wellington und Mr. Rajput so komisch vorkam. Das Bild des rot gefärbten Schnees über dem Mineneingang zuckte ihr durch den Sinn. Doch dann erreichten sie und Hyrum die Auffahrt vor dem Grandhotel, und sie verscheuchte alle trüben Gedanken.