Czytaj książkę: «Mehr als 0 und 1 (E-Book)»

Czcionka:


Beat Döbeli Honegger

Mehr als 0 und 1

Schule in einer digitalisierten Welt

ISBN Print: 978-3-0355-0927-4

ISBN E-Book: 978-3-0355-0928-1

2., durchgesehene Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com


Verweise in diesem Buch abrufen: www.mehrals0und1.ch

Inhalt

INHALT

Einleitung

1 Warum die ganze Aufregung?

2 Wie soll die Schule auf den Leitmedienwechsel reagieren?

3 Welche Allgemeinbildung wird im Leitmedienwechsel benötigt?

4 Warum gehört das Digitale in die Schule?

5 Welche Aspekte des Digitalen sind für die Allgemeinbildung relevant?

6 Wozu Informatik?

7 Wie kommt das Digitale in die Schule?

8 Wie viele Computer braucht es in der Schule?

9 Wie sieht die Zukunft von Schulbüchern aus?

10 Mehr als 0 und 1

Anhang

A Gesetze des Digitalen

B Argumente gegen die Digitalisierung in der Schule

Einleitung


Neues Lernen mit neuen Medien! Schule 2.0! Ende der Kreidezeit, Tablets statt Schiefertafeln, Revolution des Lernens! Seit mehr als dreißig Jahren wird die Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) als Auslöser von großen Veränderungen beim Lehren und Lernen ausgerufen. Computer, Internet, interaktive Wandtafeln, soziale Netzwerke, adaptive Lernprogramme oder Tablets sollen das Lernen motivierender, abwechslungsreicher, effizienter machen oder gar die Lehrkraft ersetzen. Auf der anderen Seite warnen zahlreiche Stimmen vor den verheerenden Konsequenzen, wenn digitale Medien nicht komplett vom Schulgelände verbannt werden und die Schule zum medialen Schonraum gemacht wird.

Der Blick ins Schulzimmer zeigt eine andere Realität. Vielleicht sind einige Computer vorhanden, aber der alltägliche Unterricht bleibt erstaunlich unberührt von der Omnipräsenz digitaler Medien in der Gesellschaft und im Leben von Kindern und Jugendlichen. In der Schule hat die digitale Revolution bisher nicht stattgefunden. Schon 1993 fragte Seymour Papert in seinem Buch mit dem bezeichnenden deutschen Titel Revolution des Lernens b226: »Warum gab es in einem Zeitraum, in dem so viele Bereiche menschlicher Aktivität revolutioniert wurden, keine vergleichbare Veränderung bei den Methoden, mit denen wir unseren Kindern beim Lernen helfen?«

Entscheidungshilfe

Vor knapp dreißig Jahren ist erstmals in der Schweiz ein Buch erschienen, das sich mit digitalen Medien in der Schule beschäftigte. Es stammt von Heinz Moser und trägt den Titel Der Computer vor der Schultür – Entscheidungshilfen für Lehrer, Eltern und Politiker b1568. Entscheidungshilfe für Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und die Bildungspolitik zu sein, ist auch der Anspruch des vorliegenden Buches. In meiner über fünfzehnjährigen beruflichen Auseinandersetzung mit der Thematik spüre ich bei Gesprächen mit Schulbehörden, Schulleitungen und Lehrkräften noch immer ein großes Bedürfnis nach langlebigen Überlegungen in einer Zeit vermeintlich schnelllebiger Entwicklungen. Das Buch gibt den aktuellen Wissens- und Diskussionsstand zur Schule in einer digitalisierten Welt möglichst knapp und allgemeinverständlich wieder. Auf Details oder kurzlebige Phänomene wird bewusst verzichtet. Verweise ins Biblionetz erlauben jederzeit eine vertiefte Auseinandersetzung und auch Hinweise auf beim Druck des Buches noch nicht verfügbare Publikationen. Wie das Biblionetz funktioniert, wird später in dieser Einleitung erklärt.

Kürze und Prägnanz waren auch ausschlaggebend für das bei diesem Thema vielleicht überraschende Publikationsformat Buch. Bei den ersten Überlegungen zur Ausrichtung und Gestaltung der vorliegenden Publikation waren drei Bücher prägend. Beim ebenfalls im hep verlag erschienenen Wirtschaftskrise ohne Ende? b4705 von Aymo Brunetti hat mich beeindruckt, wie eine komplexe Materie kurz und verständlich beschrieben werden kann. Auch Rolf Dubs gelingt es in Bildungspolitik und Schule – wohin? b4790, wissenschaftliche und bildungspolitische Diskurse in für Laien verdaubare Portionen aufzuteilen. An Kathrin Passigs und Sascha Lobos Buch Internet – Segen oder Fluch b5026 hat mir schließlich die Art gefallen, zwar den aktuellen Diskussionsstand der Themen fundiert darzustellen, zu jeder These in die eine Richtung aber sogleich die Gegenthese in die andere Richtung zu präsentieren und damit sowohl eine Überhöhung als auch eine Verteufelung des Internets und seiner Folgen zu verhindern.

Aufbau

Mehr als 0 und 1 ist in drei Teile und zehn thematische Kapitel gegliedert. Es beginnt sehr abstrakt und wird von Kapitel zu Kapitel konkreter. Im ersten Kapitel wird erklärt, warum und wie Computer und das Internet die Gesellschaft so grundlegend verändern, dass von einem Leitmedienwechsel gesprochen wird. Es gibt verschiedene Ansichten, inwiefern dieser Leitmedienwechsel die Schule betrifft. Das zweite Kapitel präsentiert das gesamte Spektrum an Reaktionsweisen, die der Schule vorgeschlagen werden. Es reicht von »Ignorieren« bis zur Forderung, die Schule abzuschaffen oder angesichts der kommenden Fähigkeiten der Computer gleich gänzlich auf menschliche Bildung zu verzichten. Im dritten Kapitel wird ein pragmatischer Mittelweg zwischen diesen Extremen eingeschlagen und gefragt, welche Kompetenzen angesichts des Leitmedienwechsels an Bedeutung gewinnen.


Abbildung 0.1: Kapitelstruktur des Buches

Im zweiten Teil des Buches geht es um die Bedeutung und die Rollen des Digitalen in der Schule. Das vierte Kapitel liefert vier Argumente, warum digitale Medien zwingend in die Schule gehören. Das fünfte Kapitel widmet sich den beiden Rollen digitaler Medien als Werkzeug und als Thema und stellt die drei thematischen Aspekte »Anwendungskompetenzen«, »Medien« und »Informatik« vor. Da Informatik als Thema in der Schule über fast keine Tradition verfügt, widmet sich das sechste Kapitel ganz der »Informatik in der Schule« und liefert dafür sowohl bildungspolitische Gründe als auch einen Überblick möglicher Themen sowie methodische Hinweise. Das siebte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, wie das Digitale in der Schule verankert werden kann und welche Herausforderungen dabei zu überwinden sind.

Im dritten Teil des Buches geht es schließlich konkret um Hard- und Software in die Schule. Das achte Kapitel gibt Antworten darauf, welche digitale Infrastruktur die Schule benötigt, und Kapitel neun fragt, was mit Schulbüchern passiert, wenn das Buch als Leitmedium durch den Computer ersetzt wird.

Was das Buch nicht bietet

Dieses Buch konzentriert sich auf die Schule, also auf die meist formale (Allgemein-)Bildung von Minderjährigen. Es enthält wenige Aussagen zur Hochschulbildung, da sich dieser Bereich in verschiedener Hinsicht von schulischer Bildung unterscheidet. Als Einstieg ins Thema »Hochschule in einer digitalisierten Welt« empfiehlt sich beispielsweise das Buch The Digital Scholar b4803 von Martin Weller aus dem Jahr 2011.

Im vorliegenden Buch sind kaum mediendidaktische Hinweise zum Unterricht in einer digitalisierten Welt zu finden. Dazu ist schon gute und aktuelle Literatur verfügbar, so zum Beispiel:

› Dominik Petko (2014): Einführung in die Mediendidaktik b5400

› Gabi Reinmann (2013): Studientext Didaktisches Design b5164

› Michael Kerres (2012): Mediendidaktik b5130

Dieses Buch ist auch kein Ratgeber für Eltern und Lehrkräfte mit Erklärungen, wie Jugendliche im digitalisierten Zeitalter denken und handeln. Auch dafür gibt es bereits viele gute Publikationen, so zum Beispiel:

› Eveline Hipeli (2014): Medien-Kids. Bewusst umgehen mit allen Medien – von Anfang an b5536

› Philippe Wampfler (2013): Generation »Social Media« b5514

› Tanja und Johnny Haeusler (2012): Netzgemüse – Aufzucht und Pflege der Generation Internet b5539

› Thomas Pfeiffer und Jöran Muuß-Merholz (2012): Mein Kind ist bei Facebook – Tipps für Eltern b5431

Biblionetz: Verweise in die Zukunft

In diesem Buch werden Sie mitten im Text ungewohnte Kürzel finden. Sie verweisen auf Beats Biblionetz, die 1996 begonnene Hypertext-Literaturdatenbank des Autors p65, und bieten zusätzliche Informationen.

Abruf mit einem Mobilgerät Mit einem Mobilgerät können Sie solche Verweise am einfachsten abrufen, indem sie mit einer entsprechenden App diesen QR-Code scannen und danach das Kürzel eintippen:

Abruf mit einem Webbrowser Sie können das Biblionetz aber auch mit jedem Webbrowser aufrufen. Tippen Sie doebe.li/ und den gewünschten Verweis in die Adresszeile ihres Browsers (also zum Beispiel doebe.li/p65).

Abruf aus dem E-Book Lesen Sie dieses Buch als E-Book, können Sie die Verweise ganz einfach antippen oder anklicken.

Was bringt das?

Klassische Literaturverzeichnisse, Fuß- und Endnoten sind immer Verweise in die Vergangenheit, Hinweise auf bereits Gesagtes oder Geschriebenes. Solche Verweise sind auch in diesem Buch zu finden. Sie sind einerseits Ehrerbietung für Autorinnen und Autoren, welche die erwähnten Ideen und Gedanken bereits vor einem hatten. Sie sind andererseits aber auch Recherchehilfen für besonders Interessierte. Solche Referenzen weisen darauf hin, wo noch mehr zum Thema zu finden ist. Bei gedruckten Verzeichnissen ist es aber schade, dass nur auf Ideen und Werke hingewiesen werden kann, die es zum Zeitpunkt der Drucklegung bereits gab. Die Digitalisierung erweitert die Möglichkeiten einer Publikation. Indem die Online-Verweise aktuell gehalten werden, kann auch auf Informationssammlungen hingewiesen werden, die erst entstehen oder noch wachsen werden. Damit sind sozusagen Literaturverweise in die Zukunft möglich. Die Kürzel in diesem Buch verweisen oft nicht auf einzelne Publikationen, sondern auf Begriffe, Fragen oder Thesen. Die entsprechenden Biblionetzseiten enthalten bereits bei der Veröffentlichung des Buches relevante Informationen. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden sie aber in Zukunft erweitert werden, sodass bald mehr als heute zu finden sein wird. Es sind somit weniger Literaturverweise, sondern Meme-Verzeichnisse w1161.

Dank

Die wenigsten Bücher, bei denen nur ein Autor auf dem Umschlag steht, werden tatsächlich allein geschrieben, zahlreiche Gedanken entstehen erst beim Schreiben und in Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen. Diese Gespräche im physischen und virtuellen Raum waren nicht nur sehr motivierend und bereichernd, sie haben vielmehr auch die These des veränderten Arbeitens im digitalen Raum beispielhaft gestützt. Ich bin Werner Hartmann, Marc Pilloud, Vincent Tscherter, Jacqueline Peter, Nando Stöcklin, Michael Hielscher, Oliver Ott, Andrea Cantieni und Nina Iten sehr dankbar, dass sie diesem Projekt ihre Aufmerksamkeit und ihre Ideen geschenkt haben. Auch dem hep verlag, insbesondere meinem Lektor Manuel Schär, gebührt ein besonderer Dank für die wohlwollende und kompetente Betreuung in allen Belangen.

Schließlich bin ich auch meinen Hochschullehrern Carl August Zehnder und Werner Hartmann zu großem Dank verpflichtet. Sie haben mir zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn die grundlegenden Perspektiven des Themas vermittelt, die mich noch heute begleiten.

Alle zitierten Quellen der Einleitung finden Sie unter t16001.

1 Warum die ganze Aufregung?


Die Aussage »Wir leben in einer Informationsgesellschaft« ist eine seit vierzig Jahren wiederholte Binsenwahrheit. Netzwerkgesellschaft, Mediengesellschaft, Informationsgesellschaft – zahlreich sind die Bezeichnungen für das Phänomen der Digitalisierung. In allen Variationen werden die Konsequenzen als Himmel und Hölle zugleich an die Wand gemalt. In unserem Alltag erleben wir diese Veränderungen zunehmend stärker. Erst hielt der Personal Computer (PC) Einzug in den beruflichen und privaten Alltag, dann das Internet und derzeit werden mobile Geräte wie Smartphones und Smartwatches allgegenwärtig. Trotzdem scheint es schwierig, die Bedeutung und Tragweite dieser Entwicklung abzuschätzen. Martin Lindner spricht deshalb vom digitalen Klimawandel b6003, weil er sich ähnlich wie der meteorologische Klimawandel trotz seiner Bedeutung langsam vollzieht und schwer fassbar bleibt. Dieses Kapitel erklärt in groben Zügen, warum die Entstehung der Informationsgesellschaft auch als Leitmedienwechsel w2306 vom Buch zum vernetzten Computer oder als zweite industrielle Revolution bezeichnet wird. Computer, Internet und mobile Geräte sind zwar die sichtbaren Objekte der Informationsgesellschaft. Doch dahinter steckt eine mächtige technologische Entwicklung, die weit mehr umfasst. Sie lässt sich mit den Begriffen »Digitalisierung«, »Automatisierung« und »Vernetzung« umreißen.

Digitalisierung – Automatisierung – Vernetzung

Mit dem Begriff »Digitalisierung« w1513 soll die Tatsache beschrieben werden, dass analoge Daten zunehmend in die digitale Form überführt werden oder Daten direkt digital erfasst werden. »Digital« bedeutet, dass sich alle möglichen Daten (Texte, Bilder, Töne, Videos) mit dem gleichen Alphabet, bestehend aus den beiden Zeichen 0 und 1, darstellen lassen. Diese streng genommen »binär« zu nennende Darstellung erlaubt es, alle Daten elektronisch in einem einzigen Gerät – dem Computer – zu speichern (siehe Abbildung 1.1).


Abbildung 1.1: Die Digitalisierung ermöglicht, alle Daten in einem einzigen Gerät zu speichern

So ist es beispielsweise bereits heute kein Problem mehr, das gesamte Leben eines Menschen als Video festzuhalten und dabei gleichzeitig alle seine Kommunikations-, Gesundheits- und Aufenthaltsdaten aufzuzeichnen und durchsuchbar aufzubereiten – und das wird bereits gemacht b3725. Dieses erschreckend wirkende Szenario soll als Beispiel dafür genügen, wie stark die Informationsflut w430, über die sich bereits die alten Griechen beklagt haben, aufgrund der Digitalisierung weiter zunehmen wird. Computer ermöglichen jedoch nicht nur die Erfassung und Speicherung digitaler Daten, sondern auch deren automatische, regelbasierte Verarbeitung. Daten können maschinell sortiert, gefiltert und nach gewissen Regeln verarbeitet werden. Computer erlauben die Automatisierung w973 aller Abläufe, die sich präzis, sprich formal exakt, beschreiben lassen. Digitale Daten sind platzsparend speicherbar und lassen sich über Datennetze weltweit kostengünstig übermitteln. Dank dieser Vernetzung w975 können alle erfassten, verarbeiteten und gespeicherten Daten sofort weltweit verfügbar gemacht werden (siehe Abbildung 1.2). Nicholas Negroponte, Gründer des MIT Media Labs, schuf dafür ein einprägsames Bild, als er 1995 im Buch Total digital b99 erklärte, dass wir künftig vermehrt Bits statt Atome transportieren würden.


Abbildung 1.2: Die grundlegenden Funktionen des Computers

Das mooresche Gesetz und die zweite Hälfte des Schachbretts

Treiber hinter dieser technologischen Entwicklung ist die als mooresches Gesetz w862 bekannt gewordene Tatsache, dass sich in den letzten 40 Jahren alle anderthalb Jahre doppelt so viele Transistoren auf der gleichen Chipfläche unterbringen ließen – dass sich also vereinfacht ausgedrückt die Komplexität von Computerchips alle anderthalb Jahre verdoppelt hat. Diese seit vierzig Jahren praktisch ungebrochene Leistungssteigerung ist sowohl der Grund für die enorme Entwicklung als auch ein Ausdruck für deren schwierige Erfassbarkeit durch die menschliche Vorstellungskraft. Menschen können schlecht mit exponentiellen Entwicklungen umgehen, wie bereits die Legende des Schachspielerfinders zeigt. Dieser forderte als Lohn für seine Erfindung vom König ein Reiskorn auf dem ersten Feld des Schachbretts und doppelt so viele Reiskörner auf jedem der nachfolgenden Felder. Noch in der Mitte des Schachbretts meinte der König, einen geringen Preis für das spannende Schachspiel bezahlen zu müssen, bevor er von der unvorstellbaren Entwicklung auf der zweiten Hälfte des Schachbretts überrascht wurde und den Erfinder in der Folge hinrichten ließ. In gewisser Hinsicht ist es gut denkbar, dass auch die Menschheit die weitere Entwicklung der Digitalisierung noch nicht wirklich abschätzen kann.


Abbildung 1.3: Auslöser, Konsequenzen und Herausforderungen des aktuellen Leitmedienwechsels

Ökonomische Konsequenzen: Es trifft nicht mehr nur langweilige Routinearbeiten

Es ist zwar im allgemeinen Bewusstsein angekommen, dass die Digitalisierung gewisse Wirtschaftsbereiche wie zum Beispiel die Musik- oder Fotoindustrie verändert hat. Die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verwenden unterdessen am Arbeitsplatz einen oder mehrere Computer, gewisse Berufe haben an Bedeutung verloren oder sind ganz verschwunden. Zumeist betraf die Automatisierung bisher aber vor allem monotone, standardisierte Jobs. Erst seit kurzem lassen sich zunehmend auch Tätigkeiten automatisieren, die bisher noch dem Menschen vorbehalten schienen. Dazu drei aktuelle Beispiele: selbstfahrende Autos, nachahmende Roboter und computergenerierte Texte.

Noch im Jahr 2004 wurde in einer renommierten Studie zur Zukunft der Arbeit b5382 erklärt, selbstfahrende Autos w2448 seien aufgrund der zu großen Komplexität des Verkehrsgeschehens unmöglich. Zehn Jahre später haben selbstfahrende Autos sowohl in den USA als auch in Europa erfolgreich Hunderttausende von Kilometern ohne menschliche Hilfe zurückgelegt. Sollten sich selbstfahrende Autos durchsetzen, hätte das gravierende Auswirkungen auf den Berufsstand von Taxi-, Bus- und LKW-Fahrern.

Baxter w2834 ist ein dem menschlichen Oberkörper nachempfundener Roboter mit zwei Armen und einem Bildschirm als »Kopf«. Darauf kann ein Gesicht angezeigt werden, das dorthin blickt, wo der Roboter demnächst etwas tun wird und das Traurigkeit oder Verwirrtheit ausdrückt, wenn dem Roboter etwas nicht gelingen will. Das Revolutionäre ist jedoch, dass Baxter sich programmieren lässt, indem man seine Arme greift und ihm damit vormacht, was er zu tun hat. Nach etwa einer halben Stunde Training hat er verstanden, was er zu tun hat, und kann nun beispielsweise selbstständig Objekte in Kisten verpacken oder Nägel an einer bestimmten Stelle einschlagen. Dieses programming by demonstration w2835 ermöglicht es auch Laien, den Roboter zu programmieren – teure und rare Programmierer werden damit überflüssig. Ähnlich wie der Computer ist er damit kein Werkzeug nur für einen bestimmten Zweck, sondern ein lernfähiger Universalroboter. Zusammen mit dem vergleichsweise tiefen Anschaffungspreis ist dies ein wichtiges Verkaufsargument. Die Verbreitung dieser lernfähigen Roboter dürfte zunehmen. Einerseits werden dadurch bestehende Arbeitsplätze gefährdet, andererseits könnten in der Konsequenz gewisse Produktionsstätten wieder in Industrieländer zurückwandern, da die Lohnkosten bei der Produktion von Gütern durch Robotereinsatz sinken.

Das dritte Beispiel des computational journalism w2833 dürfte am deutlichsten machen, dass Computer anfangen, kognitive Leistungen für Menschen zu übernehmen. Mehrere Firmen verkaufen bereits erfolgreich computergenerierte Sport- und Börsenberichte an Zeitungen. Je mehr Daten zu einem Ereignis digital verfügbar sind, desto einfacher ist es für einen Computer, daraus einen Artikel zu formulieren, der von Menschen nicht als vom Computer geschrieben erkannt wird. In den USA eignet sich zum Beispiel Baseball sehr, da in einem solchen Spiel viele Daten anfallen, aus denen sich der Spielverlauf ablesen lässt. Im Finanzbereich wird das Verfassen von Jahresberichten börsennotierter Unternehmen immer heikler, da falsche Formulierungen juristische Konsequenzen haben könnten. Also wird auch diese Arbeit Computern übertragen, die aus den Geschäftsdaten einen trockenen Prosatext generieren. Computer schreiben erfolgreich Texte – damit verschiebt sich unaufhaltsam die Grenze dessen, was wir für automatisierbar halten.

Autonome – Substituierbare – Unberechenbare

Bereits im Jahr 1982 hat der deutsche Informatiker Klaus Haefner im Buch Die neue Bildungskrise b127 diese ökonomischen Folgen der Digitalisierung in düsteren Farben beschrieben. Computer und die damit einhergehende Automatisierung würden die Arbeitslosigkeit fördern a833, weil nach ökonomischer Logik alles automatisiert würde, was Kosteneinsparungen verspreche a118. Haefner definiert im Buch holzschnittartig drei Gruppen von Berufen, die auch heute noch als Gedankenmodell brauchbar sind: Als »Autonome« w1448 bezeichnet er diejenigen Berufstätigen, die eine Tätigkeit ohne Computereinfluss ausüben. Haefner zählt dazu die Bauern – eine Einteilung, die heute, dreißig Jahre später, nicht mehr zutrifft, müssen Bauern doch sowohl über Internet als auch Mobiltelefon verfügen, um ihren Beruf ausüben zu können. »Substituierbare« w1449 sind gemäß Haefner diejenigen Berufe, die durch die Automatisierung überflüssig gemacht werden, also beispielsweise Ticketverkäufer oder klassische Sekretärinnen. Als »Unberechenbare« w1450 bezeichnet Haefner die Berufsgruppe, deren Tätigkeit sich der reinen Berechnung entzieht und die damit nicht durch Computer zu ersetzen ist. Als Beispiel für diese Gruppe nennt er Lehrerinnen und Lehrer.

Nicht nur beim Beruf des Bauern hat sich seit 1982 einiges geändert. Die zunehmende Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung führt dazu, dass immer mehr Berufen die Gefahr droht, substituierbar zu werden. So bezeichnet Gunter Dueck, der ehemalige Cheftechnologe von IBM, die Tätigkeit durchschnittlicher Bank- und Versicherungsberater als Flachbildschirmrückseitenberatung w2837, da diese heute oft nicht viel mehr täten, als den Kundinnen und Kunden die Empfehlungen des unternehmenseigenen Computersystems vorzulesen. Er prophezeit somit, dass Unternehmen dieses Beratungsangebot für Normalverdienende bald einstellen würden, da niemand mehr bereit sei, dafür zu bezahlen t17089. In den letzten Jahren sind zahlreiche Studien erschienen, die – detaillierter als Haefner 1982 – versuchen, das Zukunftspotenzial von Berufsgruppen zu prognostizieren t15782, b5382.

Die Vernetzung fördert auch die Globalisierung w1244, da der weltweite Datenaustausch massiv schneller und kostengünstiger wird. Arbeitstätigkeiten, die keine Materialtransporte erfordern, können dank des Internets irgendwo auf der Welt ausgeführt werden. Der US-amerikanische Ökonom Thomas Friedman spricht in diesem Zusammenhang in seinem Buch Die Welt ist flach b2512 von der Globalisierung 3.0. Nach der Globalisierung 1.0, bei der Nationalstaaten Kolonien gegründet, und der Globalisierung 2.0, bei der Unternehmen weltweite Tochtergesellschaften aufgebaut hätten, sei nun in Zeiten des Internets der einzelne Arbeitnehmer dabei, seine Dienste weltweit anzubieten. Die beiden US-amerikanischen Ökonomen Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee verstehen hingegen das Outsourcing als Vorstufe zur Automatisierung a1259. Wenn eine Tätigkeit ins Ausland verlagert werden könne, so sei dies der Beleg dafür, dass sie genau beschrieben werden könne – was die Voraussetzung für ihre Automatisierung sei.

Die meisten Publikationen zu den ökonomischen Auswirkungen von Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung gehen davon aus, dass alles ökonomisch Automatisierbare automatisiert werden wird a118 und dass dieser Prozess viele Berufe bedroht. Uneinig sind sich Ökonomen allerdings, ob neu entstehende Arbeitsplätze den Verlust bisheriger Arbeitsplätze aufwiegen können. Dies ist eine vergleichsweise alte Diskussion. 1930 publizierte John Maynard Keynes den vielzitierten Aufsatz Economic Possibilities for our Grandchildren t15783, in dem er den Begriff der technologischen Arbeitslosigkeit prägte. Keynes vertrat die Ansicht, dass der technische Fortschritt schneller Arbeitsplätze vernichten könnte, als neue geschaffen würden.

Erhöht die Digitalisierung das Wohlstandsgefälle?

Seither stellt sich die Frage, wie die Gesellschaft die Produktivitätsgewinne verteilt. Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung könnten dabei in zweierlei Hinsicht eine Zäsur darstellen. Zum einen stellen verschiedene Studien der letzten Jahre fest, dass sich das Angebot zunehmend in hoch anspruchsvolle und anspruchslose Arbeitsplätze unterteilt, während solche mit mittleren Ansprüchen wegfallen a1268. Berufe mit mittleren Ansprüchen zeichnen sich sowohl bei kognitiven als auch bei manuellen Tätigkeiten durch einen hohen Anteil an Routinearbeiten aus, der nun zunehmend automatisiert werden kann. Übrig bleiben die kognitiv hoch anspruchsvollen Berufe und die relativ anspruchslosen manuellen Berufe, deren Aufgaben eher situativ zu lösen sind, zum Beispiel Putz- und Sicherheitspersonal. Neben dieser Spaltung in anspruchsvolle und anspruchslose Tätigkeiten führt die Automatisierung auch dazu, dass Kapital an Bedeutung gewinnt und Arbeit an Bedeutung verliert. Um eine automatisierte Lösung aufzubauen, ist anfänglich viel Kapital notwendig, der Betrieb ist danach im Vergleich zu früheren, nicht automatisierten Lösungen relativ kostengünstig. Mit dieser Entwicklung steigt die wirtschaftliche Macht vermögender Menschen, während es für weniger vermögende Menschen immer schwieriger wird, durch Arbeit reich zu werden. Erik Brynjolfsson und McAfee zeigen anhand aktueller Zahlen aus den USA t17725, dass es zwar mehr Millionäre denn je gibt, die Beschäftigungsquote und das Durchschnittseinkommen jedoch stagnieren oder gar fallen. Die Digitalisierung scheint das Wohlstandsgefälle zu fördern a1260. Die Gesellschaft muss sich hier fragen, wie sie mit dieser Entwicklung umgehen will. Garantierte Mindestlöhne w2434 als Maßnahme zum Ausgleich der Einkommensunterschiede sind nicht unproblematisch. Sie erhöhen die Attraktivität der Automatisierung a1215, da die Automatisierungslösung dadurch ebenfalls mehr kosten darf und trotzdem noch günstiger als die menschliche Arbeitskraft sein kann. Als Alternativen werden ein bedingungsloses Grundeinkommen w2232 oder negative Einkommenssteuern w2842 breiter diskutiert und durchaus auch von nicht kapitalismusfeindlichen Ökonomen verfochten.

Kontrollverlust allerorten

Der aktuelle Leitmedienwechsel führt aber nicht nur zu ökonomischen Herausforderungen.

Sowohl die Gesellschaft als Ganzes als auch jeder einzelne Mensch ist durch Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung mit einem Kontrollverlust konfrontiert. Der Soziologe Dirk Baecker spricht in der Einleitung seines Buches Studien zur nächsten Gesellschaft b4152 davon, dass »jedes neue Verbreitungsmedium die Gesellschaft mit neuen und überschüssigen Möglichkeiten der Kommunikation konfrontiert«. Für Baecker waren es immer die Kommunikationsmedien, die neue Gesellschaftsstrukturen geprägt haben a1133: »Wir haben es mit nichts Geringerem zu tun als mit der Vermutung, dass die Einführung des Computers für die Gesellschaft ebenso dramatische Folgen hat wie zuvor nur die Einführung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks. Die Einführung der Sprache konstituierte die Stammesgesellschaft, die Einführung der Schrift die antike Hochkultur, die Einführung des Buchdrucks die moderne Gesellschaft und die Einführung des Computers die nächste Gesellschaft« (siehe Abbildung 1.4).


Abbildung 1.4: Kommunikationsmedien als Auslöser von Leitmedienwechseln gemäß Baecker b4152

Baeckers Formulierungen klingen zunächst abstrakt, aber ein Blick in die Tagespresse zeigt, wie konkret und aktuell seine Aussage ist. Individuen, Unternehmen und Staaten haben aufgrund der riesigen und automatisch auswertbaren, weltweiten Datenflut alle mit Kontrollverlusten zu kämpfen und versuchen sich auf die neue Situation einzustellen. Michael Seemann fasst die Situation in einem Satz zusammen: »Daten, von denen wir nicht wussten, dass es sie gibt, finden Wege, die nicht vorgesehen waren, und offenbaren Dinge, auf die wir nie gekommen wären« t17925. Abbildung 1.5 zeigt im Überblick, wie sich die Verhältnisse zwischen Staat, Individuum und Unternehmen aufgrund der Digitalisierung verändern.


Abbildung 1.5: Die Digitalisierung verändert die Verhältnisse zwischen Staat, Individuum und Unternehmen

Individuen sind daran, ihre Privatsphäre w535 zu verlieren oder haben sie bereits verloren. Staaten sammeln zur Verbrechens- und Terrorbekämpfung oder gar -prävention auf breiter Front massenhaft Daten einzelner Menschen. So werden bei der seit längerem heiß diskutierten Vorratsdatenspeicherung w2451 alle Informationen, wer mit wem telefoniert oder sonst digital kommuniziert hat, während mehrerer Monate auf Vorrat gespeichert. Obwohl nur diese Metadaten w1425, nicht aber der Inhalt der Kommunikation gespeichert werden, lassen sich daraus sehr genaue Bewegungsprofile erstellen, wie zum Beispiel das 2014 veröffentlichte und attraktiv grafisch animierte Metadatenprofil des schweizerischen Nationalrats Balthasar Glättli gezeigt hat t16591.

Während Individuen sich dem staatlichen Datenhunger nicht entziehen können, sieht dieses Verhältnis gegenüber Unternehmen scheinbar anders aus. Wer nicht im Internet bestellt, keine Kundenkarten nutzt und nicht bei sozialen Medien aktiv ist, scheint nach dem Prinzip der Datensparsamkeit w1211 den Unternehmen keine Nahrung zu bieten. Doch bereits wer auf Webseiten surft, hinterlässt eine Datenspur, die zu personalisierter Werbung führt. Und auch Personen ohne eigenes Social-Media-Konto können durchaus in deren internen Datenbanken auftauchen. Social-Media-Unternehmen laden mit Vorliebe die digitalen Adressbücher ihrer Mitglieder auf die eigenen Server, um die sozialen Beziehungen auszuwerten und neue Mitglieder gezielt anwerben zu können. Die zunehmende Datenmenge führt unter anderem dazu, dass immer präzisere Prognosen zu den Lebensumständen einzelner Menschen möglich werden. Berühmt geworden ist das Beispiel einer Warenhauskette, welche die Schwangerschaft einer jungen Kundin prognostiziert und entsprechende Werbung zugestellt hatte, bevor diese die Schwangerschaft selbst bemerkt hatte t15708; ähnlich die Studie, welche die Homosexualität der Userinnen und User mit hoher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund der abrufbaren Freundschaftsbeziehungen auf Facebook voraussagen konnte t17939.

Gatunki i tagi
Ograniczenie wiekowe:
0+
Objętość:
215 str. 76 ilustracje
ISBN:
9783035509281
Wydawca:
Właściciel praw:
Bookwire
Format pobierania:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip