Czytaj książkę: «Handorakel und Kunst der Weltklugheit»
Die Originalausgabe erschien erstmals 1647 unter dem
Titel »Oráculo manual y arte de prudencia«.
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ISBN: 978-3-86820-893-1
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Geh! gehorche meinen Winken, Nutze deine jungen Tage, Lerne zeitig klüger sein: Aufdes Glückes großer Waage Steht die Zunge selten ein: Du mußt steigen oder sinken. Du mußt herrschen und gewinnen, Oder dienen und verlieren, Leiden oder triumphieren, Amboß oder Hammer sein.
Goethe
VORWORT DES ÜBERSETZERS
Von dem durch eine sehr alte und unvollkommene, später auch ins Lateinische übertragene französische Übersetzung unter dem falschen Titel »L‘homme de cour par Gracian« weltbekannten spanischen Buche ist dieses die erste und einzige, unmittelbar aus der Ursprache gemachte deutsche Übersetzung. Denn die von Dr. Müller 1717 herausgegebene, abgesehen davon, daß sie heutzutage schlechterdings unlesbar ist, kann nur für eine Paraphrase gelten. Gegenwärtige schließt sich dem Text so genau an, als der von Grund aus verschiedene Charakter beider Sprachen es irgend leiden wollte und der Leser kann versichert sein, daß von dem »Oraculo manual, y arte de prudencia« ihm hier nichts verloren gegangen ist, als bloß eine Anzahl Wortspiele, welche wiederzugeben unmöglich war: nur bei einigen ließ die Sprache den Versuch einer annähernden Nachahmung zu, bei welcher auf billige Nachsicht des Lesers gerechnet ist.
AN DEN LESER
Dem Gerechten keine Gesetze, und dem Weisen keine Ratschläge. Und doch hat noch keiner so viel gewußt, als er für sich brauchte. Eines hast du mir zu verzeihen, ein anderes zu danken: daß ich nämlich dieses Handbuch der Lebensklugheit ein »Orakel« genannt habe, denn es ist ein solches, wegen des Sentenziösen und Gedrungenen; sodann aber, daß ich dir in einem Federzuge alle zwölf Werke Gracians darbiete, deren jedes so hoch geschätzt wird, daß sein »Weltkluger« kaum in Spanien erschienen war, als er schon in Frankreich, in dessen Sprache übersetzt und an dessen Hofe gedruckt, genossen wurde. Gegenwärtiges sei der Vernunft ein Denkbuch bei dem Gastmahl ihrer Weisen, in welches sie die in den übrigen Werken aufzutragenden Schüsseln der Klugheit einschreibe, um den Genuß auf eine anmutige Weise zu vervielfältigen.
D. Vincencio Juan de Lastanosa Geschrieben im Jahre 1653
1
Alles hat heutzutage seinen Gipfel erreicht, aber die Kunst, sich geltend zu machen, den höchsten. Mehr gehört jetzt zu einem Weisen, als in alten Zeiten zu sieben, und mehr ist erfordert, um in diesen Zeiten mit einem einzigen Menschen fertig zu werden, als in vorigen mit einem ganzen Volke.
2
Herz und Kopf: die beiden Pole der Sonne unserer Fähigkeiten. Eines ohne das andere – halbes Glück. Verstand reicht nicht hin; Gemüt ist erfordert. Ein Unglück der Toren ist Verfehlung des Berufs im Stande, Amt, Lande, Umgang.
3
Über sein Vorhaben in Ungewissheit lassen. Die Verwunderung über das Neue ist schon eine Wertschätzung seines Gelingens. Mit offenen Karten spielen ist weder nützlich noch angenehm. Indem man seine Absicht nicht gleich kundgibt, erregt man die Erwartung, zumal wenn man durch die Höhe seines Amts Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit ist. Bei allem lasse man etwas Geheimnisvolles durchblicken und errege, durch seine Verschlossenheit selbst, Ehrfurcht. Sogar wo man sich herauslässt, vermeide man, zu offen zu sein, eben wie man auch im Umgang sein Inneres nicht jedem aufschließen darf. Behutsames Schweigen ist das Heiligtum der Klugheit. Das ausgesprochene Vorhaben wurde nie hochgeschätzt, vielmehr liegt es dem Tadel bloß, und nimmt es gar einen ungünstigen Ausgang, so wird man doppelt unglücklich sein. Man ahme daher dem göttlichen Walten nach, indem man die Leute in Vermutungen und Unruhe erhält.
4
Wissenschaft und Tapferkeit bauen die Größe auf. Sie machen unsterblich, weil sie es sind. Jeder ist soviel, als er weiß, und der Weise vermag alles. Ein Mensch ohne Kenntnisse – eine Welt im Finstern. Einsicht und Kraft; Augen und Hände. Ohne Mut ist das Wissen unfruchtbar.
5
Abhängigkeit begründen. Den Götzen macht nicht der Vergolder, sondern der Anbeter. Wer klug ist, sieht lieber die Leute seiner bedürftig als ihm dankbar verbunden; sie am Seil der Hoffnung zu führen, ist Hofmannsart, sich auf ihre Dankbarkeit verlassen Bauernart; denn letztere ist so vergesslich als erstere von gutem Gedächtnis. Man erlangt mehr von der Abhängigkeit als von der verpflichteten Höflichkeit: wer seinen Durst gelöscht hat, kehrt gleich der Quelle den Rücken, und die ausgequetschte Apfelsine fällt von der goldenen Schüssel in den Kot. Hat die Abhängigkeit ein Ende, so wird das gute Vernehmen es auch bald finden und mit diesem die Hochachtung. Es sei also eine Hauptlehre aus der Erfahrung, dass man die Hoffnung zu erhalten, nie aber ganz zu befriedigen hat, vielmehr dafür sorgen soll, immerdar notwendig zu bleiben, sogar dem gekrönten Herrn. Jedoch soll man dies nicht so sehr übertreiben, dass man etwa schweige, damit er Fehler begehe, und soll nicht des eigenen Vorteils halber den fremden Schaden unheilbar machen.
6
Seine Vollendung erreichen. Man wird nicht fertig geboren; mit jedem Tag vervollkommnet man sich in seiner Person und seinem Beruf, bis man den Punkt seiner Vollendung erreicht, wo alle Fähigkeiten vollständig, alle vorzüglichen Eigenschaften entwickelt sind. Dies gibt sich daran zu erkennen, dass der Geschmack erhaben, das Denken geläutert, das Urteil reif und der Wille rein geworden ist. Manche gelangen nie zur Vollendung, immer fehlt ihnen noch etwas; andere kommen spät zur Reife. Der vollendete Mann, weise in seinen Reden, klug in seinem Tun, wird zum vertrauten Umgang der gescheiten Leute zugelassen, ja gesucht.
7
Sich vor dem Siege über Vorgesetzte hüten. Alles Übertreffen ist verhasst, aber seinen Herrn zu übertreffen, ist entweder ein dummer oder ein Schicksalsstreich. Stets war die Überlegenheit verabscheut; wie viel mehr die über die Überlegenheit selbst. Vorzüge niedriger Gattung wird der Behutsame verhehlen, wie etwa seine persönliche Schönheit durch Nachlässigkeit im Anzug verleugnen. Es wird sich wohl treffen, dass jemand an Glücksumständen, ja an Gemütseigenschaften uns nachzustehen sich bequemt, aber an Verstand kein einziger; wie viel weniger ein Fürst! Denn der Verstand ist eben die königliche Eigenschaft und deshalb jeder Angriff auf ihn ein Majestätsverbrechen. Fürsten sind sie und wollen es in dem sein, was am meisten auf sich hat. Sie mögen wohl, dass man ihnen hilft, jedoch nicht, dass man sie übertrifft: Der ihnen erteilte Rat sehe daher mehr aus wie eine Erinnerung an das, was sie vergaßen, als wie ein ihnen aufgestecktes Licht zu dem, was sie nicht finden konnten. Eine glückliche Anleitung zu dieser Feinheit geben uns die Sterne, welche, obwohl hellglänzend und Kinder der Sonne, doch nie so verwegen sind, sich mit ihren Strahlen zu messen.
8
Leidenschaftslos sein: eine Eigenschaft der höchsten Geistesgröße, deren Überlegenheit selbst sie loskauft vom Joche gemeiner äußerer Eindrücke. Keine höhere Herrschaft, als die über sich selbst und über seine Affekte, sie wird zum Triumph des freien Willens. Sollte aber jemals die Leidenschaft sich der Person bemächtigen, so darf sie doch nie sich an das Amt wagen, und um so weniger, je höher solches ist. Dies ist eine edle Art, sich Verdrießlichkeiten zu ersparen, ja sogar auf dem kürzesten Wege zu Ansehen zu gelangen.
9
Nationalfehler verleugnen. Das Wasser nimmt die guten oder schlechten Eigenschaften der Schichten an, durch welche es läuft, und der Mensch die des Klimas, in welchem er geboren wird. Einige haben ihrem Vaterlande mehr zu verdanken als andere, indem ein günstigerer Himmel sie umfing. Es gibt keine Nation, selbst nicht unter den gebildetsten, welche davon frei wäre, irgendeinen ihr eigentümlichen Fehler zu haben, welchen die benachbarten zu tadeln nicht ermangeln, entweder um sich davor zu hüten, oder sich damit zu trösten. Es ist eine rühmliche Geschicklichkeit, solche Makel seiner Nation an sich selbst zu bessern oder wenigstens zu verbergen. Man erlangt dadurch den beifälligen Ruf, der einzige unter den Seinigen zu sein; und was am wenigsten erwartet wurde, wird am höchsten geschätzt. Ebenso gibt es Fehler der Familie, des Standes, Amtes und Alters; treffen alle diese in einem Menschen zusammen, ohne dass die Aufmerksamkeit ihnen entgegenwirkte, so machen sie aus ihm ein unerträgliches Ungeheuer.
10
Glück und Ruhm: so unbeständig jenes, so dauerhaft ist dieser; jenes für das Leben, dieser nachher; jenes gegen den Neid, dieser gegen die Vergessenheit. Glück wird gewünscht, bisweilen befördert; Ruhm wird erworben. Der Wunsch nach Ruhm entspringt dem Werte. Die Fama war und ist noch die Schwester der Giganten: stets folgt sie dem Übermäßigen, den Ungeheuern oder den Wundern, dem Gegenstand des Abscheus oder des Beifalls.
11
Mit dem umgehen, von dem man lernen kann. Der freundschaftliche Umgang sei eine Schule der Kenntnisse und die Unterhaltung bildende Belehrung: aus seinen Freunden mache man Lehrer und lasse den Nutzen des Lernens und das Vergnügen der Unterhaltung sich wechselseitig durchdringen. Mit Leuten von Einsicht hat man einen abwechselnden Genuss, indem man für das, was man sagt, Beifall, und von dem, was man hört, Nutzen einerntet. Was uns zu andern führt, ist gewöhnlich unser eigenes Interesse, dies ist hier jedoch höherer Art. Der Aufmerksame besucht häufig die Häuser jener großartigen Hofleute, welche mehr Schauplätze der Größe als Paläste der Eitelkeit sind. Es gibt Herren, welche im Ruf der Weltklugheit stehen; nicht nur sind diese selbst, durch ihr Beispiel und ihren Umgang, Orakel aller Größe, sondern auch die sie umgebende Schar bildet eine höfische Akademie guter und edler Klugheit jeder Art.
12
Natur und Kunst: der Stoff und das Werk. Keine Schönheit besteht ohne Nachhilfe, und jede Vollkommenheit artet in Barbarei aus, wenn sie nicht von der Kunst erhöht wird: diese hilft dem Schlechten ab und vervollkommnet das Gute. Die Natur verlässt uns gemeinhin beim Besten; nehmen wir unsere Zuflucht zur Kunst. Ohne sie ist die beste natürliche Anlage ungebildet, und den Vollkommenheiten fehlt die Hälfte, wenn ihnen die Bildung fehlt. Jeder Mensch hat ohne künstliche Bildung etwas Rohes und bedarf in jeder Art von Vollkommenheit der Politur.
13
Bald aus zweiter, bald aus erster Absicht handeln. Ein Krieg ist das Leben des Menschen gegen die Bosheit des Menschen. Die Klugheit führt ihn, indem sie sich der Kriegslisten, hinsichtlich ihres Vorhabens, bedient. Nie tut sie das, was sie vorgibt, sondern zielt nur, um zu täuschen. Mit Geschicklichkeit macht sie Luftstreiche, dann aber führt sie in der Wirklichkeit etwas Unerwartetes aus, stets darauf bedacht, ihr Spiel zu verbergen. Eine Absicht lässt sie erblicken, um die Aufmerksamkeit des Gegners dahin zu ziehen, kehrt ihr aber gleich wieder den Rücken und siegt durch das, woran keiner gedacht. Jedoch kommt ihr andererseits ein durchdringender Scharfsinn durch seine Aufmerksamkeit zuvor und belauert sie mit schlauer Überlegung; stets versteht er das Gegenteil von dem, was man ihm zu verstehen gibt, und erkennt sogleich jedes falsche Miene machen. Die erste Absicht lässt er immer vorübergehen, wartet auf die zweite, ja auf die dritte. Indem jetzt die Verstellung ihre Künste erkannt sieht, steigert sie sich noch höher und versucht nunmehr, durch die Wahrheit selbst zu täuschen: sie ändert ihr Spiel, um ihre List zu ändern und lässt das nicht Erkünstelte als erkünstelt erscheinen, indem sie so ihren Betrug auf die vollkommenste Aufrichtigkeit gründet. Aber die beobachtende Schlauheit ist auf ihrem Posten, strengt ihren Scharfblick an und entdeckt die in Licht gehüllte Finsternis; sie entziffert jenes Vorhaben, welches je aufrichtiger, desto trügerischer war. Auf solche Weise kämpft die Arglist des Python gegen den Glanz der durchdringenden Strahlen Apolls.
14
Die Sache und die Art. Das Wesentliche in den Dingen ist nicht ausreichend, auch die begleitenden Umstände sind erfordert. Eine schlechte Art verdirbt alles, sogar Recht und Vernunft; die gute Art hingegen kann alles ersetzen, vergoldet das Nein, versüßt die Wahrheit und schminkt das Alter selbst. Das Wie tut gar viel bei den Sachen, die artige Manier ist ein Taschendieb der Herzen. Ein schönes Benehmen ist der Schmuck des Lebens, und jeder angenehme Ausdruck hilft wundervoll von der Stelle.
15
Aushelfende Geister haben. Es ist ein Glück der Mächtigen, dass sie Männer von ausgezeichneter Einsicht sich beigesellen können, diese entreißen sie jeder Gefahr der Unwissenheit und müssen schwierige Streitfragen für sie erörtern. Es liegt eine besondere Größe darin, die Weisen in seinem Dienst zu haben, und solche übertrifft bei weitem den barbarischen Geschmack des Tigranes, der etwas darin suchte, gefangene Könige zu Dienern zu haben. Eine ganz neue Herrlichkeit ist es, und zwar im Besten des Lebens, künstlich die zu Dienern zu machen, welche die Natur hoch über uns gestellt hat. Das Wissen ist lang, das Leben kurz, und wer nichts weiß, der lebt auch nicht. Da ist es denn ungemein geschickt, ohne Müheaufwand zu studieren, und zwar viel durch Viele, um durch sie alle gelehrt zu sein. Da redet man nachher in der Versammlung für Viele, in dem aus eines Munde so Viele reden, als man vorher zu Rate gezogen hat: so erlangt man durch fremden Schweiß den Ruf eines Orakels. Jene aushelfenden Geister suchen zuvörderst die Lektion zusammen und tischen sie uns sodann in Quintessenzen des Wissens auf. Wer nun aber es nicht dahin bringen kann, die Weisen in seinem Dienst zu haben, ziehe Nutzen von ihnen im Umgang.
16
Einsicht mit redlicher Absicht: zusammen verbürgen sie durchgängiges Gelingen. Ein widernatürliches Ungeheuer war stets ein guter Verstand vereint mit einem bösen Willen. Die böswillige Absicht ist ein Gift aller Vollkommenheiten; vom Wissen unterstützt, verdirbt sie auf eine feinere Weise. Unselige Überlegenheit, die zur Verworfenheit verwendet wird! Wissenschaft ohne Verstand ist doppelte Narrheit.
17
Abwechslung in der Art zu verfahren: man verfahre nicht immer auf gleiche Weise, damit man die Aufmerksamkeit, zumal die der Widersacher, verwirre; nicht stets aus der ersten Absicht, sonst werden jene diesen einförmigen Gang bald ausgelernt haben und uns zuvorkommen, oder gar unser Tun vereiteln. Es ist leicht, den Vogel im Fluge zu treffen, der ihn in grader fortgesetzter Richtung, nicht aber den, der ihn in gewundener nimmt. Aber auch aus der zweiten Absicht darf man nicht immer handeln; denn schon beim zweiten Mal kennen die Gegner die List. Die Bosheit steht auf der Lauer, und großer Schlauheit bedarf es, sie zu täuschen. Nie spielt der Spieler die Karte aus, welche der Gegner erwartet, noch weniger die, welche er wünscht.
18
Fleiß und Talent: ohne beide ist man nie ausgezeichnet, jedoch im höchsten Grade, wenn man sie in sich vereint. Mit dem Fleiße bringt ein mittelmäßiger Kopf es weiter, als ein überlegener ohne denselben. Die Arbeit ist der Preis, für den man den Ruhm erkauft: was wenig kostet, ist wenig wert. Sogar für die höchsten Ämter hat es einigen nur an Fleiß gefehlt, nur selten ließ das Talent sie im Stich. Dass man lieber auf einem hohen Posten mittelmäßig, als auf einem niedrigen ausgezeichnet ist, hat die Entschuldigung eines hohen Sinnes für sich; hingegen, dass man sich begnügt, auf dem untersten Posten mittelmäßig zu sein, während man auf dem obersten ausgezeichnet sein könnte, hat sie nicht. Also sind Natur und Kunst erfordert, und der Fleiß drückt ihnen das Siegel auf.
19
Nicht unter übermäßigen Erwartungen auftreten. Es ist das gewöhnliche Unglück alles sehr Gerühmten, dass es der übertriebenen Vorstellung, die man sich von ihm machte, nachmals nicht gleichkommen kann. Nie konnte das Wirkliche das Eingebildete erreichen: denn sich Vollkommenheiten denken, ist leicht, sie verwirklichen sehr schwer. Die Einbildungskraft verbindet sich mit dem Wunsche und stellt sich daher stets viel mehr vor, als die Dinge sind. Wie groß nun auch die Vortrefflichkeiten sein mögen, so reichen sie doch nicht hin, den vorgefassten Begriff zu befriedigen: und da sie ihn unter der Täuschung seiner ausschweifenden Erwartung vorfinden, so werden sie eher seinen Irrtum zerstören, als Bewunderung erregen. Die Hoffnung ist eine große Verfälscherin der Wahrheit; die Klugheit weise sie zurecht und sorge dafür, dass der Genuss die Erwartung übertreffe. Dass man beim Auftreten schon einigermaßen die Meinung für sich habe, dient die Aufmerksamkeit zu erregen, ohne dem Gegenstand derselben Verpflichtungen aufzulegen. Viel besser ist es immer, wenn die Wirklichkeit die Erwartung übersteigt und mehr ist, als man gedacht hatte. Diese Regel wird falsch beim Schlimmen, denn da diesem die Übertreibung zustatten kommt, so sieht man solche gern widerlegt, und dann gelangt das, was als ganz abscheulich gefürchtet wurde, noch dahin, erträglich zu scheinen.
20
Der Mann seines Jahrhunderts. Die außerordentlich seltenen Menschen hängen von der Zeit ab. Nicht alle haben die gefunden, deren sie würdig waren, und viele fanden sie zwar, konnten aber doch nicht dahin gelangen, sie zu nutzen. Einige waren eines besseren Jahrhunderts wert, denn nicht immer triumphiert das Gute. Die Dinge haben Periode und sogar die höchsten Eigenschaften sind der Mode unterworfen. Der Weise hat jedoch einen Vorteil, den, dass er unsterblich ist: ist dieses nicht sein Jahrhundert, so werden viele andere es sein.
21
Die Kunst, Glück zu haben. Es gibt Regeln für das Glück, denn für den Klugen ist nicht alles Zufall. Die Bemühung kann dem Glücke nachhelfen. Einige begnügen sich damit, sich wohlgemut an das Tor der Glücksgöttin zu stellen, und zu erwarten, dass sie öffne. Andere, schon besser, streben vorwärts und machen ihre kluge Kühnheit geltend, damit sie auf den Flügeln ihres Wertes und ihrer Tapferkeit die Göttin erreichen und ihre Gunst gewinnen mögen. Jedoch, richtig philosophiert, gibt es keinen andern Weg als den der Tugend und Umsicht, indem jeder gerade so viel Glück und so viel Unglück hat, als Klugheit oder Unklugheit.
22
Ein Mann von willkommenen Kenntnissen. Gescheite Leute sind mit einer eleganten und geschmackvollen Belesenheit ausgerüstet, haben ein zeitgemäßes Wissen von allem, was an der Tagesordnung ist, jedoch mehr auf eine gelehrte als auf eine gemeine Weise: sie halten sich einen geistreichen Vorrat witziger Reden und edler Taten, von welchem sie zur rechter Zeit Gebrauch zu machen verstehen. Oft war ein guter Rat besser angebracht in der Form eines Witzwortes als in der der ernstesten Belehrung; und gangbares Wissen hat manchem mehr geholfen als alle sieben Künste, so frei sie auch sein mögen.
23
Ohne Makel sein: die unerlässliche Bedingung der Vollkommenheit. Es gibt wenige, die ohne irgendein Gebrechen wären, wie im Physischen, so im Moralischen, und sie lieben solches innig, da sie doch leicht es heilen könnten. Mit Bedauern sieht die fremde Klugheit, wie oft einem ganzen Verein erhabener Fähigkeiten ein kleiner Fehler sich keck angehängt hat, und eine Wolke ist hinreichend, die ganze Sonne zu verdunkeln. Dergleichen sind Flecken unseres Ansehens, welche das Misswollen sogleich herausfindet und immer wieder darauf zurückkommt. Die größte Geschicklichkeit wäre, sie in Zierden zu verwandeln, in der Art, wie Cäsar sein physisches Gebrechen mit dem Lorbeer zu bedecken wusste.
24
Die Einbildungskraft zügeln, indem man bald sie zurechtweist, bald ihr nachhilft: denn sie vermag alles über unser Glück, und sogar unser Verstand erhält Berichtigung von ihr. Sie kann eine tyrannische Gewalt erlangen und begnügt sich nicht mit müßiger Beschauung, sondern wird tätig, bemächtigt sich sogar oft unseres ganzen Daseins, welches sie mit Lust oder Traurigkeit erfüllt, je nachdem die Torheit ist, auf die sie verfiel; denn sie macht uns mit uns selbst zufrieden oder unzufrieden, spiegelt einigen beständige Leiden vor und wird der häusliche Henker dieser Toren; andern zeigt sie nichts als Seligkeiten und Glücksfälle unter lustigem Schwindeln des Kopfes. Alles dieses vermag sie, wenn nicht die vernünftige Obhut unserer selbst ihr den Zaum anlegt.
25
Winke zu verstehen wissen. Einst war es die Kunst aller Künste, reden zu können: jetzt reicht das nicht mehr aus; erraten muss man können, vorzüglich, wo es auf Zerstörung unsrer Täuschung abgesehen ist. Der kann nicht sehr verständig sein, der nicht leicht versteht. Es gibt hingegen auch Schatzgräber der Herzen und Luchse der Absichten. Gerade die Wahrheiten, an welchen uns am meisten gelegen, werden stets nur halb ausgesprochen; allein der Aufmerksame fasse sie im vollen Verstande auf. Bei allem Erwünschten ziehe er seinen Glauben am Zügel zurück, aber gebe ihm den Sporn bei allem Verhassten.
26
Die Daumenschrauben eines jeden finden. Dies ist die Kunst, den Willen anderer in Bewegung zu setzen. Es gehört mehr Geschick als Festigkeit dazu. Man muss wissen, wo einem jeden beizukommen sei. Es gibt keinen Willen, der nicht einen eigentümlichen Hang hätte, welcher nach der Mannigfaltigkeit des Geschmacks verschieden ist. Alle sind Götzendiener, einige der Ehre, andere des Interesses, die meisten des Vergnügens. Der Kunstgriff besteht darin, dass man diesen Götzen eines jeden kenne, um mittels desselben ihn zu bestimmen. Weiß man, welches für jeden der wirksame Anstoß sei, so ist es, als hätte man den Schlüssel zu seinem Willen. Man muss nun auf die allererste Springfeder, oder das primum mobile in ihm, zurückgehen, welches aber nicht etwa das Höchste seiner Natur, sondern meistens das Niedrigste ist; denn es gibt mehr schlecht- als wohlgeordnete Gemüter in der Welt. Jetzt muss man zuvörderst sein Gemüt bearbeiten, dann ihm durch ein Wort den Anstoß geben, endlich mit seiner Lieblingsneigung den Hauptangriff machen: so wird unfehlbar sein freier Wille schachmatt.
27
Das Intensive höher als das Extensive schätzen. Die Vollkommenheit besteht nicht in der Quantität, sondern in der Qualität. Alles Vortreffliche ist stets wenig und selten: die Menge und Masse einer Sache macht sie geringgeschätzt. Sogar unter den Menschen sind die Riesen meistens die eigentlichen Zwerge. Einige schätzen die Bücher nach ihrer Dicke, als ob sie geschrieben wären, die Arme, nicht die Köpfe daran zu üben. Das Extensive allein führt nie über die Mittelmäßigkeit hinaus, und es ist das Leiden der universellen Köpfe, dass sie, um in allem zu Hause zu sein, es nirgends sind. Hingegen ist es das Intensive, woraus die Vortrefflichkeit entspringt, und zwar eine heroische, wenn in erhabener Gattung.
28
In nichts gemein. Erstlich, nicht im Geschmack. O des großen Weisen, den es niederschlug, dass seine Sache der Menge gefiel! Gemeiner Beifall in Fülle gibt dem Verständigen kein Genügen. Dagegen sind manche solche Chamäleone der Popularität, dass sie ihren Genuss nicht in den sanften Anhauch Apollos, sondern in den Atem des großen Haufens setzen. – Zweitens: nicht im Verstande. Man finde kein Genügen an den Wundern des Pöbels, dessen Unwissenheit ihn nicht über das Erstaunen hinauskommen lässt; während die allgemeine Dummheit bewundert, deckt der Verstand des einzelnen den Trug auf.
29
Ein rechtschaffener Mann sein: stets steht dieser auf der Seite der Wahrheit, mit solcher Festigkeit des Vorsatzes, dass weder die Leidenschaft des großen Haufens, noch die Gewalt des Despoten ihn jemals dahin bringen, die Grenze des Rechts zu übertreten. Allein wer ist der Phönix der Gerechtigkeit? Wohl wenige echte Anhänger hat die Rechtschaffenheit. Zwar rühmen sie viele, jedoch nicht für ihr Haus. Andere folgen ihr bis zum Punkt der Gefahr: dann aber verleugnen sie die Falschen, verhehlen sie die Politischen. Denn sie kennt keine Rücksicht, sei es, dass sie mit der Freundschaft, mit der Macht, oder mit dem eigenen Interesse sich feindlich begegnete. Hier nun liegt die Gefahr, abtrünnig zu werden. Jetzt abstrahieren, mit scheinbarer Metaphysik, die Schlauen von ihr, um nicht der Absicht der Höheren oder der Staatsraison in den Weg zu treten. Jedoch der beharrliche Mann hält jede Verstellung für eine Art Verrat; er setzt seinen Wert mehr in seine unerschütterliche Festigkeit, als in seine Klugheit. Stets ist er zu finden, wo die Wahrheit zu finden ist: und fällt er von einer Partei ab, so ist es nicht aus Wankelmut von seiner, sondern von ihrer Seite, indem sie zuvor von der Wahrheit abgefallen war.
30
Sich nicht zu Beschäftigungen bekennen, die in schlechtem Ansehen stehen, noch weniger zu Schimären, wodurch man sich eher in Verachtung als in Ansehen bringt. Es gibt mancherlei grillenhafte Sekten, von welchen allen der kluge Mann sich fernhält. Aber es gibt Leute von wunderlichem Geschmack, welche immer nach dem greifen, was die Weisen verworfen haben, und dann in diesen Seltsamkeiten sich gar sehr gefallen. Dadurch werden sie zwar allgemein bekannt, doch mehr als Gegenstand des Lachens als des Ruhms. Sogar zur Weisheit wird der umsichtige Mann sich nicht auf eine hervorstechende Weise bekennen, viel weniger zu Dingen, welche ihre Anhänger lächerlich machen. Sie werden hier nicht aufgezählt, weil die allgemeine Verachtung sie genugsam bezeichnet hat.
31
Die Glücklichen und Unglücklichen kennen, um sich zu jenen zu halten und diese zu fliehen. Das Unglück ist meistenteils Strafe der Torheit, und für die Teilnahme ist keine Krankheit ansteckender. Man darf nie dem kleinen Übel die Tür öffnen, denn hinter ihm werden sich stets viel andere und größere einschleichen. Die feinste Kunst beim Kartenspiel besteht im richtigen Ausspielen: und die kleinste Karte der Farbe, die jetzt Trumpf ist, ist wichtiger als die größte derjenigen, die es vorher war. Ist man zweifelhaft, so ist das Gescheiteste, sich zu den Klugen und Vorsichtigen zu halten, da diese früh oder spät das Glück einholen.
32
Im Rufe der Gefälligkeit stehen. Das Ansehen derer, die am Staatsruder stehen, gewinnt sehr dadurch, dass sie willfährig sind, und die Huld ist eine Eigenschaft der Herrscher, durch welche sie die allgemeine Gunst erlangen. Dies ist ja eben der einzige Vorzug, den die höchste Macht gibt, dass man mehr Gutes tun kann als alle anderen. Freunde sind die, welche Freundschaft erweisen. Dagegen gibt es andre, welche sich darauf legen, ungefällig zu sein, nicht so sehr wegen des Beschwerlichen, als aus Tücke; sie sind ganz und gar das Gegenteil der göttlichen Milde.
33
Sich zu entziehen wissen. Wenn eine große Lebensregel die ist, dass man zu verweigern verstehe, so folgt, dass es noch eine wichtigere ist, dass man sich selbst, sowohl den Geschäften als den Personen, zu verweigern wisse. Es gibt fremdartige Beschäftigungen, welche die Motten der kostbaren Zeit sind! Sich mit etwas Ungehörigem beschäftigen, ist schlimmer als Nichtstun. Für den Umsichtigen ist es nicht hinreichend, dass er nicht zudringlich sei, sondern er muss auch dafür sorgen, dass andre sich ihm nicht aufdringen. So sehr darf man nicht allen angehören, dass man nicht mehr sich selber angehörte. Ebenso darf man auch seinerseits nicht seine Freunde missbrauchen, und nicht mehr von ihnen verlangen, als sie eingeräumt haben. Jedes Übermaß ist fehlerhaft, aber am meisten im Umgang. Mit dieser klugen Mäßigung wird man sich am besten die Gunst und Wertschätzung aller erhalten, weil alsdann der so kostbare Anstand nicht allmählich beiseite gesetzt wird. Man erhalte sich also die Freiheit seiner Sinnesart, liebe innig das Auserlesene jeder Gattung und tue nie der Aufrichtigkeit seines guten Geschmacks Gewalt an.
34
Seine vorherrschende Fähigkeit kennen, sein hervorstehendes Talent; sodann dieses ausbilden und den übrigen nachhelfen. Jeder wäre in irgendetwas ausgezeichnet geworden, hätte er seinen Vorzug gekannt. Man beobachte also seine überwiegende Eigenschaft und verwende auf diese allen Fleiß. Bei einigen ist der Verstand, bei andern die Tapferkeit vorherrschend. Die meisten tun aber ihren Naturgaben Gewalt an und bringen es deshalb in nichts zur Überlegenheit. Das, was anfangs der Leidenschaft schmeichelte, wird von der Zeit zu spät als Irrtum aufgedeckt.
35
Nachdenken, und am meisten über das, woran am meisten gelegen ist. Weil sie nicht denken, gehen alle Dummköpfe zugrunde: sie sehen in den Dingen nie auch nur die Hälfte von dem, was da ist; und da sie sich so wenig anstrengen, dass sie nicht einmal ihren eigenen Schaden oder Vorteil begreifen, legen sie großen Wert auf das, woran wenig, und geringen auf das, woran viel gelegen ist, stets verkehrt abwägend. Viele verlieren den Verstand deshalb nicht, weil sie keinen haben. Es gibt Sachen, die man mit der ganzen Anstrengung seines Geistes untersuchen und nachher in der Tiefe desselben aufbewahren soll. Der Kluge denkt über alles nach, wiewohl mit Unterschied: er vertieft sich da, wo er Grund und Widerstand findet, und denkt bisweilen, dass noch mehr da ist, als er denkt: dergestalt reicht sein Nachdenken ebenso weit als seine Besorgnis.
36
Sein Glück erwogen haben um zu handeln, um sich einzulassen. Daran ist mehr gelegen, als an der Beobachtung seines Temperaments. Ist aber der ein Tor, welcher im vierzigsten Jahre sich an den Hippokrates seiner Gesundheit halber wendet, so ist es der noch mehr, welcher sich dann erst an den Seneca der Weisheit wegen wendet. Es ist eine große Kunst, sein Glück zu leiten zu wissen, indem man bald es abwartet, denn auch mit Warten ist zuweilen bei ihm etwas auszurichten, bald es zur rechten Zeit benutzt, da es Perioden hält und Gelegenheiten darbietet, obwohl man ihm seinen Gang nicht ablernen kann, so regellos sind seine Schritte. Wer es günstig befunden hat, schreite keck vorwärts; denn es liebt die Kühnen leidenschaftlich und als schönes Weib auch die Jünglinge. Wer aber Unglück hat, tue nichts mehr; sondern ziehe sich zurück, damit er nicht zu dem Unstern, der schon über ihm steht, noch einen zweiten heranrufe.
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