Czytaj książkę: «Kinder des Zufalls», strona 3

Czcionka:

4 Schiffe

Wenn Collin abends ins Hotel fuhr, lud Ozzy Charlotte manchmal in den Bungalow ein. Seine Drinks waren stark, das Radio bis zum Anschlag aufgedreht. Viel hatten sich die beiden nicht zu sagen. Die Musik übertönte ihr Schweigen, und der Alkohol lockerte die Stimmung.

Warum Ozzy sie überhaupt einlud, blieb Charlotte bis zu jenem Abend ein Rätsel.

»Muss mal kurz raus«, sagte er, während Charlotte, vom Whiskey benommen, auf dem Sofa saß.

Jedes Mal verschwand er eine Weile, und jedes Mal wunderte sie sich. Doch die Verwunderung hielt nur einen Wimpernschlag lang. Ozzys Drinks machten sie gleichgültig und vergesslich.

»Bin gleich wieder da«, sagte er.

Charlotte nickte, die Augen halb geschlossen. Ihr Magen krampfte, die Knie zitterten. Jameson und frittierte Hühnerbeine stiegen in ihr hoch. Und Erinnerungen an ihr altes Leben in Deutschland. Sie würgte.

»Ozzy?« Aber Ozzy war schon aus der Tür und Petula Clarks Downtown zu laut, als dass er Charlotte noch hätte hören können. Dunkelbraun platschte es auf den hellbraunen Kachelboden.

»Ozzy?«, rief sie noch einmal.

Sie stand auf, stolperte zur Tür, öffnete sie. Kühle Nachtluft füllte ihre Lungen. Sie setze einen Fuß vor den anderen. Fünfzehn Schritte bis zur Garage. Auf halber Strecke blieb sie stehen. Ein Auto parkte vor dem geöffneten Tor. Den Wagen kannte sie nicht, auch nicht die zwei Männer, die mit Ozzy und einem Seesack aus der Garage kamen. Das schwere Gepäckstück – alle drei mussten anpacken – wurde im Kofferraum verstaut. Schulterklopfen, gedämpfte Stimmen. Einer der Männer gab Ozzy ein Papierbündel, das er in seine Hosentasche stopfte. Das hier war nicht für Charlottes Augen bestimmt.

Alle Benommenheit wich aus ihrem Körper. Sie lief zurück in den Bungalow und holte einen Lappen aus der Küche. Als Ozzy wiederauftauchte, wischte sie gerade den Boden.

»Was machst du da?«, fragte er und stellte das Radio ab.

»Ist einfach rausgekommen.«

Er kniete sich neben sie. »Setz dich aufs Sofa«, sagte er und nahm ihr den Lappen aus der Hand. »Ozzy macht das schon. Bin doch ’n netter Kerl.«

»Wo warst du?«, fragte sie.

»Wo ich war? Draußen.«

»Und was hast du draußen gemacht?«

Er schaute sie nicht an. »Kann nicht die ganze Zeit stillsitzen, weißt du? Ist so ’n Tick. Ozzys Beine müssen zappeln.« Er hielt den Lappen hoch. »Verträgst nicht viel, was?« Ein aufgesetztes Lachen.

Ruckartig erhob er sich und marschierte in die Küche, Charlotte folgte ihm. Er drehte den Wasserhahn auf, hielt den verdreckten Lappen unter den Strahl.

»Danke«, sagte Charlotte.

»Danke für was?«

»Danke, dass du das aufgewischt hast.«

»Kein Problem. Hab doch gesagt: Ozzy ist ’n netter Kerl.«

»Und danke, dass ich hier wohnen darf.«

Er sagte nichts. Charlotte zog ihn an sich. Ihre Hände fuhren über seinen Körper, ihre Lippen küssten seinen Hals.

Fast hätte er sich gehen lassen. Doch dann stieß er sie weg. »Hör mal«, sagte er in ungewohnt ernstem Ton, »ich hab schon mit Collin geredet. Du kannst hier nicht bleiben. Ich meine …«

Sie lächelte. »Stör ich dich?«

»Was«, er zuckte zusammen, »was redest du da? Was …«

»Na ja«, sagte sie.

»Und was soll das heißen: ›Na ja‹?«

»Na ja heißt na ja.«

Unsanft packte er sie an den Armen. »Wenn du es genau wissen willst. Ja, du störst. Du störst Ozzy gewaltig.«

Mit einer schnellen Bewegung befreite sich Charlotte aus seinem Griff. »Dann gute Nacht«, sagte sie. »Ich will nicht länger stören.«

Ihr Herz schlug schnell. So schnell. Sie lief in die Garage, nahm ihren kleinen Koffer. Viel Zeit würde ihr nicht bleiben. Bald würde Ozzy bemerken, was ihre streichelnden Hände getan hatten.

Sie rannte den Hollywood Boulevard ostwärts.

Straßen, fremd und vertraut. »Verweile nicht!«, rief der Asphalt. Hier darf man sich nicht ausruhen, sonst bleibt man für immer sitzen. Wie die alte Frau dort an der Ecke mit dem schmutzigen Gesicht und den zwei fadenscheinigen Decken. Niemand würde sie retten, und das bisschen Stoff würde sie nicht warmhalten.

Mir kann nichts passieren, dachte Charlotte, mir nicht.

Schneller bewegten sich ihre Beine, schneller schlug ihr Herz.

Als Charlotte die Lobby betrat, lief Collin ihr entgegen. Er sah blass aus. Nervös. »Was hast du getan? Was ist passiert?« Seine Hände wussten nicht wohin. Fuchtelten herum, streiften ihre Schultern, ihr Haar.

»Er war schon hier?«, fragte sie in ruhigem Ton und nahm Collins Hände, hielt sie fest.

»Er sagt, er wird dich umbringen. Er … er sucht nach dir. Was hast du getan?«

Sie lächelte. »Wir müssen los.«

»Ich kann nicht einfach weg.«

»Und ob du kannst.«

Als sie das Hotel verließen, blickte Collin sich noch einmal um. »Hoffentlich springt niemand aus dem Fenster«, sagte er.

Charlotte ließ seine Hand erst los, als sie vor dem Station Wagon standen.

»Wohin?«, fragte er.

»Fort«, sagte sie.

Überfordert von den Möglichkeiten, entschied er sich für Zurück. Süden. Long Beach.

Charlotte erzählte ihm, was geschehen war.

»Irgendwas hat Ozzy verkauft, irgendwas versteckt er in der Garage. Leichen vielleicht.«

»Das hätten wir doch bemerkt«, sagte Collin.

»Ach ja und wie?«

»Leichen stinken. Und wer bezahlt schon Geld dafür? Und …«

»Dann etwas anderes, etwas Verbotenes. Deshalb wollte er, dass ich verschwinde. Deshalb hat er dir den Job als Nachtportier besorgt. Damit du ihm nicht in die Quere kommst.«

»Warum hat er mich dann überhaupt in der Garage wohnen lassen?«

»Falls … falls er erwischt wird von der Polizei oder … Na ja, dann kann er sagen: Gehört mir nicht, muss Collin gehören. Der wohnt schließlich hier.«

»Aber was denn?«

»Was immer er verkauft hat.«

»Das klingt verrückt«, sagte Collin.

Seufzend warf Charlotte ein dickes Bündel Scheine in seinen Schoss.

»Wir können machen, was wir wollen«, sagte sie. »Niemand sollte in einem Hotel arbeiten, in dem Menschen aus dem Fester springen.«

Collin blickte kurz auf das Geldbündel. »Wie viel ist das?«

»Hab nicht gezählt, aber schau doch, wie dick es ist. Alles Hunderter.«

»Hunderter«, wiederholte er tonlos.

»Freust du dich nicht? Also ich freu mich.«

Es war nicht das Geld selbst. Als junge Frau brauchte Charlotte keine teuren Kleider, kein luxuriös eingerichtetes Haus. Es war die Art und Weise, wie sie das Geld beschafft hatte, die sie berauschte.

»Was ist, wenn Ozzy uns anzeigt?«, fragte Collin.

»Wird er nicht.«

»Warum?«

»Du kapierst es nicht. Was immer Ozzy da verkauft hat. Es ist etwas Verbotenes. Er ist kriminell. Vielleicht sogar ein Mörder.« Sie lachte. »Ich dachte, du würdest dich freuen. Und jetzt verdirbst du alles.« Sie legte ihre Hand auf sein Knie. Die Wärme tat ihm gut.

Er kannte Charlotte nun seit einigen Wochen, wusste, wie sich ihre Haut anfühlte, ihr nackter Körper, wenn er neben ihr lag. Manche Nachmittage hatten sie am Meer verbracht. Neun Mal hatten sie My Fair Lady im Kino gesehen. Charlotte hatte den Film ausgesucht.

An seinen freien Abenden waren sie durch die Bars und Clubs am Sunset Boulevard gezogen. Obwohl Charlotte sich auf der Tanzfläche im Rhythmus der anderen bewegte, ging sie nie in der Menge unter.

Charlotte ließ sich nicht fassen. Auch die Geschichten, die sie Collin über ihr altes Leben in der alten Welt erzählt hatte, machten sie nicht greifbarer. Eine Stadt namens Heidelberg, Helga, die Haushälterin, der amerikanische Offizier. Ein Japaner, der wunderschön Flöte spielen konnte. Sie war auf einem Schiff gekommen, und jetzt saß sie neben ihm. Die Furcht, sie könnte einfach verschwinden, verließ Collin nicht.

»Versuch doch wenigstens, dich ein bisschen zu freuen«, sagte sie. Ihre Hand ruhte noch immer auf seinem Knie.

Er nickte. »Ja, ich freue mich«, sagte er. Dann lauter und enthusiastischer: »Ich freue mich!«

Wenig später erreichten sie das Haus seiner Kindheit. Die Wohnung, in der sein Vater und die Großmutter lebten.

»Wo sind wir?«, fragte Charlotte, als Collin vor dem Gebäude parkte. Obwohl Long Beach weniger als eine Autostunde von Los Angeles entfernt lag, hatte Collin seinen Vater und die Großmutter nur selten besucht. Jahre waren vergangen. Das letzte Mal war das Haus noch weiß gewesen, jetzt war es hellblau.

Fast Mitternacht. Die Haustür stand offen. Dritte Etage. Collin hoffte, dass der Vater zu Hause sein würde, denn die verrückte Polin würde nicht – konnte nicht – öffnen.

»Wir bleiben eine Nacht. Morgen überlegen wir weiter«, sagte er zu Charlotte. »Hier kann uns keiner klauen.«

Er klopfte. Die Klingel hatte noch nie funktioniert.

»Wer da?«, rief Donald Miroslaw Goodwin durch die verschlossene Tür.

»Ich bin’s.«

Die Tür ging auf.

»Collin«, sagte Donald. »Du …? Und wer …?«

»Das ist Charlotte.«

Donald schüttelte ihr die Hand. »Charlotte. Sehr schön. Sehr schön«, sagte er und verbeugte sich, ohne ihre Hand loszulassen.

»Hallo«, sagte Charlotte und löste ihre Hand aus seinem Griff.

»Können wir heute Nacht hier schlafen?«, fragte Collin.

»Selbstverständlich. Kommt rein. Kommt rein.«

Die Wohnung roch nach Männerschweiß und Chili.

Agnieszka stand im Wohnzimmer. In ihrem bodenlangen Nachthemd und mit den weit aufgerissenen Augen sah sie aus wie die Insassin einer Irrenanstalt eines längst vergangenen Jahrhunderts.

»Geh ins Bett«, sagte Donald.

»Du Pole«, sagte sie und zeigte auf Charlotte. »Du Pole.«

»Ich?«, fragte Charlotte.

»Du Pole. Ich Pole.«

Charlotte lächelte. »Nein. Ich bin keine Polin.«

»Du Pole. Ich Pole«, wiederholte die Alte. »Du Pole. Ich Pole.«

»Das reicht«, sagte Donald schließlich. »Geh ins Bett. Sofort.«

Agnieszka schnaufte verächtlich und ging in ihr Zimmer.

»Sie ist halbverrückt«, sagte Donald an Charlotte gewandt. »Leider.«

Donald bot alles auf, was der bescheidene Haushalt hergab. Ein paar Flaschen Bier. Ein Glas Mezcal, den ein Kollege aus Mexiko mitgebracht hatte. Eine Schüssel Honey Comb mit Schokoladenmilch, aufgewärmtes Chili vom Vortag. Charlotte nahm alles, nur das Chili lehnte sie ab.

Während sie aßen und tranken, redete Donald ohne Unterlass. Er erzählte von Motoren und von einem anderen Kollegen, der seinen Bruder erschossen hatte. Er gab ein paar Witze zum Besten, über die er selbst am lautesten lachte. Berichtete, dass der Fernseher kaputt sei und dass er mit dem Rauchen aufgehört habe. Beinahe jedenfalls. Nur noch ein halbes Päckchen am Tag. Zwischendurch stellte er Fragen: Was Collins Job mache? Ob sie verlobt seien? Wie ihre Zukunftspläne aussähen? Sie hätten doch welche, oder? Die Antworten waren vage und knapp. Das schien ihn nicht zu stören. Er redete und fragte.

»Es tut mir leid. Ich bin schrecklich müde«, sagte Charlotte nach dem dritten Bier. Donald nahm es mit einem traurigen Nicken hin.

Collins Kinderzimmer war unverändert, aber nicht aus nostalgischen Gründen. Donald besaß nichts, was er dort hätte unterbringen wollen. Er brauchte kein Büro. Kein Gästezimmer. Er hatte keine Freunde oder Verwandten. Er hatte kein Hobby, das nach einem Werkraum verlangte.

Collin gab Charlotte ein Handtuch, zeigte ihr das Bad. Als sie zurückkam, in ihrem dunkelroten Negligé, saß er auf dem Fensterbrett. Ein Bein in der Freiheit.

»Es ist kalt«, sagte Charlotte.

»Alte Gewohnheit.« Er schloss das Fenster.

Eng aneinandergeschmiegt, lagen sie in dem schmalen Bett. Der Mezcal und die Aufregung der letzten Stunden versetzten Collin in einen tiefen Schlaf. Charlotte lag wach. Das Bier drückte ihr auf die Blase. Sie wartete, bis sie es nicht mehr aushalten konnte. Im Dunklen schlich sie ins Badezimmer. Knipste das Licht an. Sie pinkelte. Betätigte die Spülung. Charlotte betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Sie sah ihrer Mutter kein bisschen ähnlich. Und das ist gut so, dachte sie. Gerade als sie ihr Spiegelbild küssen wollte, öffnete sich die Tür. Agnieszka. »Schhh«, machte sie, legte ihre Finger auf den faltenumrahmten Mund. »Schhh!«

Charlotte nickte.

In der Hand hielt die Alte eine Fotografie.

»Ich Pole. Du Pole«, sagte sie leise und zeigte Charlotte das Bild. Schwarz-Weiß. Leicht verblasst. Eine junge Frau an Deck eines Schiffes. Lachend. Entschlossenheit in ihrem Blick.

»Ich«, sagte die Alte.

»Du?«, fragte Charlotte und betrachtete die Fotografie genauer. Sie konnte nicht glauben, wie hübsch diese runzelige Frau gewesen war.

»Ich«, bestätigte Agnieszka.

»Wir sind beide auf einem Schiff gekommen. Aber ich bin nicht aus Polen«, sagte Charlotte.

»Nein?«, fragte Agnieszka.

»Nein. Aber ich bin auf einem Schiff gekommen.« Charlotte betonte jedes Wort.

»Ja«, sagte die Alte. »Da!« Sie gab Charlotte das Bild.

Die beiden Frauen sahen sich an.

Einen Augenblick lang schien ein unsichtbarer Faden sie zu verbinden. Gesponnen aus den Träumen und Tränen, den Ängsten und Hoffnungen all ihrer Schwestern, die vor ihnen ein Schiff bestiegen hatten, die nach ihnen an Deck gehen würden.

5 Siebzehn Knochen

Collin kauerte auf einer eisernen Pritsche. Die Tür war geschlossen. Abgesperrt. Von außen.

Er dachte an Charlotte, die irgendwo da draußen versuchte, einen Anwalt aufzutreiben. Sie würde es schaffen. Bald würde er wieder frei sein. Das war nicht das Ende ihrer Reise.

Eine Reise? Das Leben? Es hatte am Morgen nach ihrer Flucht begonnen.

Donald war bereits in der Werkstatt, als Charlotte und Collin aufwachten. Die verrückte Polin schlief noch.

In der Spüle leere Bierflaschen und schmutziges Geschirr. In der Luft der Geruch von Chili. Sie tranken Kaffee. Lächelnd hielten sie sich an ihren Tassen fest, warteten darauf, dass der andere etwas sagte.

»Und jetzt?«, fragte Charlotte. Genau das hatte Collin auch fragen wollen. Nun musste er antworten, sonst würde es nicht weitergehen.

»Wir sollten los«, sagte er. ›Los‹ klang gut.

Der Vergnügungspark The Nu Pike lag nicht weit von dem hellblauen Haus entfernt. Ein Plan musste geboren werden. Ein Kind, gemacht aus gestohlenem Geld, einem taubengrauen Station Wagon und, ja, aus Liebe. Ein solches Wesen konnte nicht an einem Küchentisch zur Welt kommen. Der Vergnügungspark mit seinen Achterbahnen, Zerrspiegeln und Snow Cones schien Collin der einzig angemessene Ort.

Das Karussell drehte sich im Kreis.

»Wir fahren einfach. Es wird sich schon alles finden«, rief Charlotte lachend. Auch Collin lachte und gab dem hölzernen Pferd die Sporen.

Sie fuhren die Küste entlang, von Süden nach Norden ins Landesinnere und dann von Norden nach Süden. Zurück zur Küste. Im Kreis. Die Grenzen Kaliforniens überquerten sie nicht. Collin war noch nie woanders gewesen. In Kalifornien fühlte er sich sicher.

Sie hatten Mammutbäume berührt und sich im Tal des Todes geliebt. Sie hatten Austern in San Francisco gegessen und Muscheln in San Diego gesammelt. Sie hatten den Big Bear Lake durchschwommen und die White Mountains gesehen. Bald würden in Stanislaus County die Mandelbäume blühen.

Es war Freitag, der 11. Februar 1966. Das Cover des Life Magazine zeigte zwei verwundete Soldaten. Der Kopf des einen bandagiert. Aufrecht sitzt er da. Das rechte Auge zum Himmel gerichtet. In seinem Schoß der bandagierte Kopf des anderen, der einen Becher oder eine Büchse in der Hand hält. Etwas Metallenes, etwas Blechernes.

Collin legte die Zeitschrift zu den zwei Colaflaschen und der Keksschachtel auf den Tresen, bezahlte und ging zum Auto.

»Schau mal«, sagte er, als er auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte. »Sieht der nicht aus wie Bob?«

»Wer ist Bob?«, fragte Charlotte und warf einen flüchtigen Blick auf das Cover.

»Bob, der Marine. Die Nacht, in der wir uns kennengelernt haben.«

Charlotte öffnete die Kekse. »Ach, der«, sagte sie und schob sich einen Schokoladencookie in den Mund. »Weiß nicht. Kann sein, kann aber auch nicht sein.«

»Er sieht genauso aus«, sagte Collin bestimmt, dann stutzte er. »Aber das sind keine Marines. Er war doch ein Marine?«

»Was?«, fragte Charlotte.

»Bob war ein Marine, das hier sind Army-Soldaten. Die Uniform«, erklärte Collin.

»Dann ist er es eben nicht.«

»Aber die Ähnlichkeit ist so …«

»Es gibt Millionen Bobs. Können wir jetzt los?«

Normalerweise hätte Collin sofort den Wagen gestartet. Er fürchtete Charlottes Ungeduld. Nie zu lange bleiben, nicht zu viele Fragen stellen. Doch das Bild ließ ihn nicht los.

»Ist das ein Becher?«, fragte er und strich mit den Fingern über das Papier. Charlotte riss ihm die Zeitschrift aus den Händen, betrachtete die Abbildung genauer.

»Was der eine da in der Hand hält … Ist das ein Becher?«, wiederholte Collin seine Frage.

»Sieht aus wie ein Becher«, sagte sie und warf das Heft auf den Rücksitz. »Können wir jetzt?«

Collin startete den Wagen.

In Ceres, benannt nach der römischen Göttin des Ackerbaus, der Fruchtbarkeit und der Ehe, nahmen sie ein Zimmer in einem Motel. Einstöckig, beige gestrichen, ein leerer Pool.

Collin trug das Gepäck – Charlottes kleinen Koffer und seine schwarze Plastiktasche, die sie samt Inhalt noch in Long Beach gekauft hatten – ins Zimmer Nummer 19. Es roch nach Mottenkugeln.

Die Stadt gab nicht viel her. Sie aßen Burger in einem schmuddeligen Restaurant und fuhren mit brennenden Mägen zurück zum Motel.

Eine Laterne und die Neonreklame vor dem Gebäude tauchten alles in ein grellgelbes Licht. Sie saßen am Rand des Pools, ihre Beine baumelten in der Luft. Auf dem Grund des Beckens lag ein totes Eichhörnchen. Zertrümmert der kleine Schädel. Blutverkrustet das Bäuchlein.

»Ob es reingefallen ist?«, fragte Charlotte.

»Vielleicht«, sagte Collin.

»Wie lange es wohl schon dort liegt?«

Collin spürte, wie es ihm die Kehle zuschnürte, und zuckte bloß mit den Schultern. Bemüht, die feuchten Augen vor Charlotte zu verbergen, senkte er seinen Kopf.

»Ich finde, die Leute sollten es da rausholen. Macht hier denn keiner sauber?«

Als Collin nicht antwortete, sah sie ihn an, sah, dass er weinte.

»Was hast du denn?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht«, sagte er und wusste es wirklich nicht.

»Ist doch nur ein Eichhörnchen«, sagte Charlotte leise. Dann stand sie auf, um Zigaretten aus dem Zimmer zu holen.

Sie hatte erst vor kurzem angefangen zu rauchen. Eine Zigarette, fand sie, war ein hübsches Accessoire. Als junge Frau brauchte Charlotte keine Diamantringe, eine Lucky Strike Filter genügte völlig.

Sie kam zurück, zündete zwei Zigaretten an. Eine für Collin, eine für sich.

»Weinst du noch immer?«, fragte sie sanft und reichte ihm eine.

Collin schüttelte den Kopf. »Ist schon wieder gut.« Er dachte an den falschen Bob und seinen Kameraden auf dem Life Magazine. Ein verwundeter Soldat mit einem Becher in der Hand. Vielleicht hatte er, gleich nachdem das Bild entstanden war, einen Schluck getrunken, aber es sah aus, als ob er für immer durstig bleiben würde. Und dieses Gefühl der Endgültigkeit machte Collin traurig.

Charlotte schnippte ihren Zigarettenstummel in den Pool, vorbei am toten Tierchen.

»Was machen wir hier eigentlich?«, fragte sie und seufzte.

»Die Mandelbäume. Du wolltest die Mandelblüte sehen«, sagte Collin.

»Wollte ich das? Wann blühen sie denn?«

»Bald«, antwortete er.

»Eigentlich interessieren mich Mandelbäume nicht besonders. Ich meine, ich mag Bäume. Jeder mag Bäume …« Charlotte lehnte sich an ihn. »Lass uns verschwinden. Gleich morgen früh. Oder willst du warten, bis die Bäume blühen?«

»Nein«, sagte er und lächelte. Lächelte, weil er diese unfassbare Frau so sehr liebte.

Über fünfhundert Kilometer hatten sie an diesem Tag zurückgelegt. Charlotte hatte unbedingt und sofort zu den Mandelbäumen gewollt. Collin hatte ihr gesagt, dass sie noch nicht blühen würden. Sie wollte trotzdem – unbedingt und sofort.

Ihre Unbeständigkeit störte ihn nicht. Es war dieses Sehnen, das sie im Kreis fahren ließ. Und solange sie weiterfuhren, durfte Collin Nacht für Nacht neben Charlotte schlafen.

Die Sonne verschwand immer wieder hinter Schleierwolken. Vor ein paar Monaten waren sie schon einmal hier gewesen und hatten die einsame Bucht in der Nähe von Santa Barbara entdeckt. So musste sich Vasco Núñez de Balboa gefühlt haben, der erste Europäer, der den Pazifik sah.

Nackt waren Charlotte und Collin ins Wasser gesprungen, kreischend vor Glückseligkeit.

Jetzt waren sie zurückgekehrt, hatten ihren Felsen wiedergefunden. Eingewickelt in Decken, hockten sie auf dem Vorsprung.

»Es ist anders«, sagte Charlotte enttäuscht.

»Es ist nur kälter«, antwortete Collin.

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht.«

Den Vorschlag, am Strand spazieren zu gehen, wies sie ebenso zurück wie seine Zärtlichkeiten. Und auch die Delfine, die nur wenige Meter von der Bucht entfernt im Wasser tanzten, heiterten sie nicht auf.

Charlottes Unzufriedenheit begleitete die beiden in ihr Motelzimmer.

»Mir ist eiskalt. Ich brauche ein Bad.« Türenknallend verschwand sie, türenknallend tauchte sie wieder auf. Und Collin fühlte sich schuldig. Schuldig, dass der Felsen seinen Zauber für Charlotte verloren hatte. Schuldig, dass sie fror. Schuldig, dass es nur eine Dusche und keine Badewanne gab.

Erst am Abend, als sie in einem überfüllten mexikanischen Restaurant Enchiladas aßen, hellte sich Charlottes Stimmung auf.

Die Rechnung lag auf dem Tisch. Collin zog das Portemonnaie aus der Hosentasche, doch Charlotte riss es ihm aus der Hand.

»Lass uns einfach gehen.«

»Was?«

»Ich zähle bis fünf, und dann gehen wir.« Ihre Augen leuchteten. »Ohne zu bezahlen«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.

»Warum?«

Das Essen war billig, und sie hatten Geld.

»Eins. Zwei …«

»Charlotte, aber …«

»Drei …«

»Was ist, wenn …«

»Vier …«

Die leuchtenden Augen funkelten bedrohlich. »Fünf.«

Charlotte stand auf, er folgte ihr.

Draußen nahm sie seine Hand und zog ihn mit sich, kreischend vor Freude.

Drei Tage später zwang sie Collin, in einem 24-Stunden-Diner aus dem Toilettenfenster zu klettern. Er gab nach, weil es sie glücklich machte. Ein Glück, das er nicht verstand. In Restaurants nicht zu zahlen, wurde Alltag. Und das galt auch für Tankstellen. Charlotte steckte ein, was sie in die Finger bekam. Schokoladenriegel, Bonbons, eine Sonnenbrille, eine Mütze, Kaugummis, Zeitschriften.

»Und?«, fragte sie.

»Ein bisschen zu groß«, sagte Collin.

Sie klappte die Sonnenblende runter und betrachtete ihr Spiegelbild. »Stimmt, zu groß.«

Der Strohhut flog auf die Rückbank. Dort würde er liegen bleiben, zwischen all seinen unbezahlten Brüdern und Schwestern, um später, wenn es zu viele geworden waren, in einer Mülltonne zu landen.

In Willits, Mendocino, entführte Charlotte einen schwarzen Mischlingshund. Sie stahl den Welpen aus einem geparkten Auto und erstickte Collins Protest mit einem einzigen Blick.

Der Hund winselte traurig in Charlottes Armen, als sie, nun zu dritt, Zimmer Nummer 27 betraten.

»Ich nenne dich Bibo«, sagte sie zu dem Hündchen. »Ich wollte schon immer einen Hund haben«, sagte sie zu Collin.

»Ich hätte dir einen gekauft. Aber der hier gehört doch jemandem. Der Hund will nach Hause.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Bibo muss sich nur an mich gewöhnen. Nicht wahr, mein Kleiner?« Charlotte liebkoste das Tier. Und während sie es mit Hot Dogs fütterte, sagte sie immer wieder: »Collin, ich liebe diesen Hund. Ich bin so glücklich.«

Noch ein Glück, das er nicht verstand, aber sehen konnte. Auf ihren Lippen, in ihren Augen. Ihr Glück machte ihn glücklich. Und da saßen sie, zwei glückliche Menschen und ein unglücklicher Hund.

Bibo lag am Fußende des Bettes und wimmerte die ganze Nacht. Als er sich im Morgengrauen auf der dunkelgrünen Decke erbrach, schnappte Charlotte sich das Tier. Barfuß, den Hund im Arm verließ sie das Zimmer. Wenig später kam sie zurück. Alleine.

»Wo ist er?«, fragte Collin.

»Wer?« Sie klang überrascht.

»Bibo.«

»Ach, Bibo«, sagte sie, »Ich habe ihn an der Rezeption abgegeben. Weißt du, eigentlich wollte ich immer einen Löwen haben.«

Und da begriff Collin, dass ein kleiner Hund Charlotte ebenso viel bedeutete wie eine mit Rentieren bestickte Wollmütze oder eine Tüte Karamellbonbons.

»Tu das nie wieder«, sagte er.

»Was soll ich nie wieder tun?«

»Der Hund …«, begann er.

Sie schüttelte lachend den Kopf. »Es war aufregend. Für ihn auch.«

»Nein, verdammt noch mal. Nein. Nein. Nein.« Noch nie hatte er Charlotte widersprochen.

Das Lachen verschwand aus ihrem Gesicht, doch schnell kehrte es zurück. »Ach, armer Collin, warum hast du nicht gleich gesagt, dass du Hunde nicht magst.«

Er gab auf, sie konnte oder wollte nicht begreifen.

Doch sein Nein zeigte Wirkung. In den folgenden Monaten stahl Charlotte nicht mal ein Päckchen Kaugummi. Sie mussten nicht mehr davonrennen oder aus Toilettenfenstern klettern. Etwas in ihr schien zur Ruhe gekommen zu sein.

In einem Lokal in Reedley endete die friedliche Zeit.

Sie saßen am Tresen der fast leeren Bar und tranken helles Bier. Charlotte erzählte Indianergeschichten, die sie als Kind gehört hatte.

»Hier gibt es doch irgendwo Indianer. Wir müssen unbedingt welche finden. Ich will sie tanzen sehen. Einen Sonnentanz. Weißt du, was das ist?«

Collin schüttelte den Kopf.

»Es ist grausam«, sagte sie. »Die Männer stoßen sich Holzpflöcke in die Brust. An den Pflöcken sind Seile befestigt. Die Seile werden an den Sonnenpfahl gebunden, und dann tanzen die Indianer im Kreis, immer im Kreis, um den Sonnenpfahl herum. Vier Tage und vier Nächte lang. Ohne zu essen oder zu trinken. Am Ende hängen sie sich mit ihrem ganzen Gewicht in die Seile, bis die Pflöcke aus der Haut reißen. Es ist grausam.«

»Und das sind deutsche Kindergeschichten?«, fragte Collin ungläubig.

»Nein. In denen geht es um einen Cowboy und einen Indianer, die Freunde werden. Vom Sonnentanz hat mir Joseph erzählt. Joseph wusste über so viele Dinge Bescheid. Er war wahnsinnig klug.«

Joseph tauchte regelmäßig in Charlottes Erinnerungen auf. Manchmal verspürte Collin Eifersucht auf den toten Japaner. Hätte Charlotte nur ein einziges Mal Collins Namen mit so viel Bewunderung ausgesprochen.

»Möchtest du noch ein Bier?«, fragte Collin, um von dem Helden ihrer Kindheit abzulenken.

»Ja. Und Zigaretten.« Sie blickte auf ihre leere Schachtel. »Kannst du mir welche besorgen?«

»Brauchst du sonst noch was?«, fragte er.

»Nur Zigaretten.«

Zwanzig Minuten später kam Collin mit einer Packung Lucky Strike zurück. Charlotte saß nicht mehr am Tresen.

Mitten im Raum wiegte sie ihren Körper in den Armen eines Mannes. Die Augen geöffnet, küsste Charlotte die Lippen des Mannes. Lange. Zu lange.

»Es ist ihre Schuld«, sagte der Kerl immer wieder und zeigte dabei auf Charlotte. Bis er nichts mehr sagen und auf niemanden mehr zeigen konnte. Es brauchte drei Polizisten und ein Paar Handschellen, um Collin zu bezwingen. Als er auf dem Boden kniete, sah er Charlotte an. Sie lächelte. Nicht verlegen oder zaghaft.

Der blutende, bewusstlose Mann wurde in einem Krankenwagen abtransportiert.

Später sollte Collin erfahren, dass er Ian hieß und 39 Jahre alt war.

Später sollte Collin erfahren, dass er siebzehn Knochen in Ians Körper gebrochen hatte.

Darmowy fragment się skończył.