Czytaj książkę: «Mars»
In »Mars« zeigt Asja Bakić eine Reihe einzigartiger Universen, in deren Mittelpunkt Frauen stehen, die vor die Aufgabe gestellt sind, der seltsamen Realität, die sie erleben, einen Sinn zu geben. Eine Frau wird von Tristessa und Zubrovka aus einer Art Vorhölle befreit, sobald sie eine Aufgabe erfüllt. Eine Meisterin der Täuschung wird mit jemandem konfrontiert, der ihr Geheimnis kennt. Eine Schriftstellerin soll einen Bestseller unter Pseudonym geschrieben haben, woran sie sich jedoch nicht erinnern kann. Abby scheint ihr Gedächtnis verloren zu haben, und doch weiß sie, dass mit ihrem misstrauischen Ehemann etwas nicht stimmt. Eine weitere muss auf dem Mars klar kommen.
Nicht nur das inhaltliche Konzept der Erzählungen ist beeindruckend, sondern auch die Methode: Gekonnt verwebt sie in das klassische Erzählmuster Elemente aus der Genre-Literatur – Horror, Science-Fiction oder Fantasy. Entstanden sind spannende, oft humorvolle Geschichten, die emanzipierend sind, ohne in politische Agitation zu verfallen.
Asja Bakić, geboren 1982, ist eine bosnischkroatische Autorin und Kulturkritikerin. Sie hat bisher einen Gedichtband mit dem Titel »Es kann ein Kaktus sein, solange er sticht« (2009) sowie zwei Kurzgeschichtensammlungen, »Mars« (2015) und »Sweetlust« (2020), veröffentlicht. Ihr viertes Buch »Komm, ich sitze auf deinem Gesicht« (2020) ist eine Sammlung von Essays über Popkultur. Bakić wurde als eine der New Voices from Europe 2017 von Literary Europe Live ausgewählt. Sie lebt in Zagreb.
Asja Bakić
MARS
Erzählungen
Aus dem Kroatischen
von Alida Bremer
»Mars« ist der 2. Band
der Reihe »kurze form«, die mit je einem Band
pro Programm im Verbrecher Verlag erscheint.
Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch TRADUKI, ein literarisches Netzwerk, dem das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, die Interessengemeinschaft Übersetzerinnen Übersetzer (Literaturhaus Wien) im Auftrag des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport der Republik Österreich, das Goethe-Institut, die S. Fischer Stiftung, die Slowenische Buchagentur, das Ministerium für Kultur und Medien der Republik Kroatien, das Ressort Kultur der Regierung des Fürstentums Liechtenstein, die Kulturstiftung Liechtenstein, das Ministerium für Kultur der Republik Albanien, das Ministerium für Kultur und Information der Republik Serbien, das Ministerium für Kultur Rumäniens, das Ministerium für Kultur von Montenegro, die Leipziger Buchmesse, das Ministerium für Kultur der Republik Nordmazedonien und das Ministerium für Kultur der Republik Bulgarien angehören.
Originaltitel: Mars, erschienen bei Sandorf, Zagreb 2015
© 2015, 2021 Asja Bakić
Deutsche Erstausgabe
1. Auflage 2021
© Verbrecher Verlag Berlin 2021
Satz: Christian Walter
ISBN 978-3-95732-474-0
eISBN 978-3-95732-488-7
Der Verlag dankt Sophie Bölke, Alyssa Fenner, Johanna Seyfried,
Anouk Spilker und Hannah Stangl.
Die Übersetzerin bedankt sich beim Deutschen Übersetzerfonds,
der die Arbeit am vorliegenden Text gefördert hat.
INHALT
REISE ZUM DURMITOR
DER VERGRABENE SCHATZ
DER TALUS VON FRAU LICHEN
ABBY
ASJA 5.0
FLEISCHFRESSER
LEIDENSCHAFTEN
DER GAST
DIE REISE NACH WESTEN
DIE UNTERWELT
REISE ZUM DURMITOR
Die Sekretärinnen erklärten mir unverzüglich, dass die Seele des Verstorbenen genau an jenen Ort entschwinde, den sich dieser vorgestellt habe.
»Alle wollen ins Paradies«, sagte ich. »Dort muss es ziemlich überfüllt sein.«
»Ist es nicht«, sagte eine von ihnen. »Die meisten Menschen sind so fantasielos, dass sie einfach wie Kartoffeln in der Erde stecken bleiben.«
»Ich hatte also Glück?«
»Du eignest dich nicht zum Humus.«
»Entschuldige«, sagte ich rasch, »ich kann euch schlecht auseinanderhalten.«
»Ich bin Tristessa«, sagte die Linke.
»Ich bin Zubrovka«, sagte die andere.
»Wie der Wodka?«
»Hör mal, Kleine, spiel dich hier nicht auf«, sagte sie. »Du trinkst das, was du dir selbst ins Glas gegossen hast.«
Der Tod ist ein europäischer Film: Die Szenen sind suggestiv, es wird viel Wert gelegt auf die Atmosphäre und die Personen, für mich hat er aber eine etwas andere Form angenommen. Ich nehme an, dass dafür der letzte Moment, den ich vorm Fernseher verbracht habe, verantwortlich ist. Ich sah gerade »Rambo«, und ganz unbewusst nahm ich seine Devise »Allein gegen alle« mit ins Jenseits. Wenn es bei ihm geklappt hat, wird es wohl auch mir gelingen, war mein erster Gedanke, als ich erfuhr, was mir widerfahren war. Wohin die alles durchdringende Melancholie des Todes entschwunden war, war nicht ganz klar: Bei den beiden Sekretärinnen, die nur anhand der Farbe ihrer Intimwäsche zu unterscheiden waren (Tristessa trug ein blaues Höschen, da sie ständig blue war, Zubrovka trug Rosa), war es unrealistisch, New Wave zu erwarten oder irgendetwas Ähnliches.
»Wo ist Gott?«, fragte ich.
Zubrovka lachte und sagte, dass Gott nicht existiere.
»Er muss hier irgendwo sein«, ich bestand darauf.
»Du hättest vorsichtiger sein sollen, als du noch Gelegenheit dazu hattest. Du kannst nicht Atheistin sein und mit dem Allmächtigen Karten spielen wollen, wenn du stirbst.«
Als ich noch lebte, habe ich ein lustiges Drama über Gott als Sexbesessenen und seine Gay-Untertanen geschrieben. Wenn schon nichts anderes, so überlegte ich, müsste hier so einer zu finden sein. Es ist nicht so, dass ich nie an ihn gedacht hätte.
»Gott ist in der Badewanne ausgerutscht«, sagte Zubrovka nach ein paar Minuten.
Ich glaubte ihr nicht. Die Art, wie sie Tristessa Blicke zuwarf, verriet, dass beide sehr, sehr unartig waren.
»Ihr könnt nicht die Dinge vor mir verheimlichen und euch auf meine Gottlosigkeit herausreden.«
Die Sekretärinnen rechtfertigten sich, zuckten mit den Schultern, und als ich begriff, dass ich von ihnen nichts erfahren würde, hörte ich auf, Fragen zu stellen.
Ich hatte Gott eigentlich nicht nötig: Ich war daran gewöhnt, die Dinge ohne ihn zu erledigen, aber auch diese Sekretärinnen brauchte ich nicht unbedingt. Ich konnte mir nicht erklären, warum sie sich hier eingefunden hatten. Zuerst dachte ich, dass ich sie aus einem Comic mitgebracht hätte, den ich einst, vor langer Zeit, gelesen hatte. Doch im Laufe der Zeit (das Wort Zeit benutze ich reflexartig, denn nicht einmal der Tod befreit das Gehirn von nutzlosen Hinweisen) wurde klar, dass nicht ich für sie verantwortlich war. Die Sekretärinnen kamen mit dem Tod. Ich muss wohl nicht betonen, wie sehr mich das frustrierte.
Ich versuchte verzweifelt zu verstehen. Ich hatte das Gefühl, dass von dieser enormen Anstrengung mein Kopf langsam anwuchs. Die ganze Zeit breitete er sich in alle Richtungen aus. Das geschah direkt vor meiner Nase, dachte ich, und ich habe es nicht bemerkt. Genauer gesagt, geschah es nicht vor meiner Nase, denn es handelte sich um meinen Kopf, und wie groß auch immer dieser war, ich konnte ihn nirgendwo außer im Spiegel sehen. Tristessa rieb sich zufrieden die Hände. Ihrem Gesichtsausdruck nach konnte man vermuten, dass sie das Wachstum meines Kopfes genau verfolgte und deswegen überglücklich war. Sie rief Zubrovka.
»Sie denkt?«, fragte Zubrovka, als wäre ich nicht anwesend.
Dann sah sie mich an und klopfte mir auf die Schulter.
»Das ist erst der Anfang. Wir haben eine Idee, wie man das Wachstum noch beschleunigen kann.«
»Aber ich will keinen Riesenkopf haben«, sagte ich nervös.
»Der Kopf fragt nicht«, sagte Tristessa, »er wächst von selbst.«
In dem Augenblick tat es mir leid, dass ich dieses Los gewählt hatte anstatt das einer Kartoffel.
Die Sekretärinnen hatten einen klaren Plan. Mein Kopf war eine Art kostbares Ei. Er erinnerte, so behaupteten sie, an eines der luxuriösen Ostereier von Zar Nikolai II. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihnen zu glauben, da ich nirgendwo einen Spiegel finden konnte. Es stellte sich die Frage, was sie glaubten, darin finden zu können.
»Geschichten, einen Haufen Geschichten«, sagte Zubrovka. »Deshalb bist du hier. Wir möchten, dass du ein ganzes Buch voll von Geschichten schreibst. Sollte es uns gefallen, werden wir dir erlauben, in die zweite Phase überzutreten.«
»In die zweite Phase?«, fragte ich.
Ich betastete meinen Kopf. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er gewachsen war, aber das unangenehme Gefühl, dass er sich immer weiter ausbreitete, war nicht verschwunden. Ich begann, besorgt über mein Haar zu streichen: Bei dem Gedanken, dass es sich bei der zweiten Phase eigentlich um die Entdeckung handelt, dass nur mein Schädel wuchs, während das Gehirn sich nicht veränderte, ergriff mich Panik.
Ich weiß nicht, wie weit es in meiner eigenen Verantwortung lag, aber im nächsten Moment fand ich mich, ohne zu wissen wie, in einem Flur wieder, der wie ein typischer Märchenflur aussah: Du darfst soundsoviele Türen öffnen, aber die letzte auf keinen Fall, blablabla. Natürlich wollte ich sehen, was im letzten Raum vor sich ging, da ich früher, als ich noch lebte, eine Sendung über den Unterschied zwischen klugen und dummen Kindern gesehen hatte: Wissenschaftler machten darin mit einer Kindergruppe ein Experiment. Sie ließen ein Kind nach dem anderen in ein Zimmer mit einem Spiegel gehen, durch den sie die Kinder unbemerkt beobachten konnten. Bevor sie ein Kind allein ließen, warnten es die Wissenschaftler, dass es in keinem Fall nachschauen dürfe, was auf dem Tisch unter dem weißen Tuch versteckt ist. Diejenigen Kinder, die trotzdem nachschauten, waren klug. Die anderen – nicht. Eigentlich stellte sich heraus, dass nur ein Junge dumm war. Nicht nur, dass er dumm war, er war auch dick. Ich wollte nicht er sein. Hätte ich nicht den Wunsch, Dinge zu erfahren, wäre die Größe meines Kopfes zu einem Paradoxon geworden. Ich griff mutig nach der Türklinke. Das Zimmer war natürlich verschlossen.
Wohin geht eine Frau, wenn sie nicht weiß, was sie erwartet? Fragen verfolgten mich. Ich stellte mir schon solche Fragen, als ich noch lebte, aber im Tod waren die Fragen schwieriger, das Gefühl der falschen Endlichkeit machte mich verrückt. Die Sekretärinnen lachten laut in dem Zimmer, in das es mir zuvor nicht gelungen war einzutreten. Sie hatten ihren Spaß, als hätten sie etwas sehr Lustiges gelesen.
»Warum heißt du eigentlich Tristessa?«, fragte ich, als die Sekretärinnen plötzlich hinter meinem Rücken auftauchten. »Ich habe dich nie traurig gesehen. Du lachst ständig und vergnügst dich.«
»Du hättest lernen sollen, dem Tod genauso wie den Menschen zu misstrauen.«
»Wir müssen gehen«, sagte Zubrovka und zog an Tristessas Ärmel. »Wir müssen weitermachen.«
Wieder allein gelassen sah ich ihnen zu, wie sie die Tür hinter sich schlossen. Ich wollte ihnen nachlaufen, an ihrer Freude teilhaben, aber ich konnte mich nicht bewegen. Mein Kopf pulsierte, und ich wartete darauf, dass sich der Big Bang ereignete. Eine Zeit lang schlenderte ich im Flur auf und ab, aber ich wurde schnell müde. Ich öffnete die Tür des erstbesten Zimmers, setzte mich an den Tisch, den ich darin fand, und begann zu schreiben. Aber sobald ich mit dem Schreiben anfing, musste ich auch über das Schreiben schreiben, was gefährlich war, denn das war nicht das, wofür ich gestorben war. Ereignisse waren gefragt, die Sekretärinnen neigten offensichtlich dazu. Der Tod ist ein Traum, in den man kopflos rennt: Du hast keine Zeit, stehenzubleiben und nachzudenken, da das bedeuten würde, dass du aufwachst, doch in meinem Fall ist das nicht möglich. Ich habe noch nie gehört, dass jemand aus dem Tod erwacht ist.
Worüber soll ich schreiben? Alle schreiben irgendwelche Autobiografien, das finde ich widerlich. Aber während ich sie kritisiere, erinnere ich mich an meine Großmutter, wie sie abwechselnd ihre beiden Beine anhebt und streichelt, während meine Schwester und ich erstaunt die dicke Haut an ihren Fersen anstarren. Alle wollen Autobiografien lesen: Her mit einer Autobiografie, eine romanhafte Biografie tut es auch. Warum sollten die Sekretärinnen anders ticken? Der Tod mag andere Menschen. Er beschäftigt sich nicht mit sich selbst. Er sammelt Namen, Gesichter – er sammelt menschliche Schicksale, er liest sie fröhlich durch. In Ordnung, dachte ich, ich werde ihnen etwas über mich schreiben, und ich werde auch etwas über sie einbauen, alles zusammen soll süß und romantisch werden, in den Pastellnuancen ihrer Höschen. Als ich begann zu schreiben, wurde mir jedoch klar, dass ich nicht wusste, wie man süß schreibt. Ich schrieb so, wie ich dachte, und ich dachte explosiv.
Als ich sechs Jahre alt war, fiel ich von der Küchenanrichte auf meinen rechten Arm und brach ihn mir. In der Notaufnahme setzte ich mich neben ein Mädchen, deren Fuß bandagiert war. Sie erzählte, dass sie mit einer Axt gespielt habe und dass die Schneide ihr direkt auf den Fuß gefallen sei. Nie mehr beklagte ich mich danach, dass mir etwas wehtat. Der Schmerz wurde überflüssig. Er war anderen vorbehalten.
Ich kann mich auch gut an die Wohnung erinnern, in der ich aufwuchs – es war eine Zweizimmerwohnung auf der dreizehnten Etage. Der Lift funktionierte nie, und ich ging immer zu Fuß. Ich teilte das Zimmer mit meiner Schwester, mit der ich eine Zeit lang nicht sprach, da sie mein Schreiben als widerlich bezeichnet hatte. Damals verletzte mich das sehr, doch sie hatte recht. Mein Schreiben war tatsächlich widerlich. Ich war außerdem ein ungehorsames Kind und bin auch so geblieben: unartig.
Wenn meine Familie schlief, ging ich auf den Balkon und beobachtete den Parkplatz, ich stellte mir morbide Dinge vor: wie ein schwarzer Bulli kleine Kinder in eine unbekannte Richtung entführt. Ich redete mir ein, dass man auch mich bald abholen würde. Widerliche Dinge erregten mich, aber ich habe nie meinen eigenen Popel gegessen. Das fand ich abstoßend. Wenn ich ein Kind sah, das seinen eigenen Popel in den Mund schob, schlug ich ihm jedes Mal auf den Hinterkopf.
In der ersten Klasse, daran kann ich mich sehr gut erinnern, machten wir eine Klassenfahrt auf den Berg Ozren. Am Abend lagen wir in totaler Dunkelheit. Ich entsinne mich nicht, wie viele wir in dem Zimmer waren, alle Mädchen begannen allerdings unisono nach der Lehrerin zu rufen, als ich, kurz bevor wir einschlafen sollten, Horrorgeschichten über Hexen und Monster erzählte. Schaut, die Frau, die dort im Fenster hockt, sagte ich. Andere Kinder sind ängstlich, das vergaß ich häufig. Ich hatte nur vorm Zahnarzt Angst, aber auch das ging schnell vorbei. Vom Ozren kam ich wie ausgewechselt nach Hause, als ein Kind, das nicht mehr beabsichtigt, mit dem Erzählen aufzuhören. Meine Familie bezeichnete mich als Philosophin. Ich wedelte ständig mit den Armen und gestikulierte wild. Poesie schrieb ich mit einem Zimmermannsstift. Ich war wirklich besonders. Ich war anders.
»Ich habe nicht den Eindruck, dass du so anders bist«, sagte Zubrovka.
Sie beugte sich über meine Geschichte, tippte mit dem Finger auf das Wort »besonders«.
»Das ist nur eine Geschichte«, sagte ich.
»Ich weiß, ich wollte nur sagen, dass du dir nicht allzu viel einbilden sollst. Du bist nicht die erste, die an diesem Tisch sitzt und schreibt.«
»Genau an diesem Tisch?«
»Genau an diesem Tisch, ja«, sagte Tristessa, die auf der anderen Seite stand.
»Wie viele Menschen genau saßen vor mir an diesem Tisch?«, fragte ich.
»Das können wir dir nicht sagen, das ist vertraulich.«
Ich war verwirrt: Wenn ich selbst einen solchen Tod zusammengeträumt habe, wie war es möglich, dass ich von etwas geträumt habe, wovon vor mir schon andere geträumt hatten?
»Ich verstehe das nicht«, sagte ich, »ihr habt von Kartoffeln in der Erde oder irgendetwas anderem gesprochen, aber in Wirklichkeit geht es um Kartoffel in der Erde oder das hier?«
»Ist das hier die Hölle oder das Paradies?«, fügte ich hinzu.
Zubrovka und Tristessa sahen sich bedeutungsvoll an.
»Je nachdem, um wen es sich handelt«, sagten sie. »Für die Menschen, die nicht schreiben können, ist das hier die Hölle, für die, die es mögen und beherrschen, ist es das Paradies.«
»Damit bin ich nicht einverstanden.«
Ich stand auf und zerknüllte die Geschichte.
»Ich will zurück in die Erde.«
»Unmöglich«, antwortete Tristessa, »zuerst die Geschichten, dann kannst du weiter.«
»Dieses ›weiter‹, was heißt das genau?«, fragte ich nervös.
»Das können wir dir nicht sagen, es ist vertraulich«, sagten sie gleichzeitig.
Ich begann, um den Tisch zu laufen. Tristessa versuchte, mich zu berühren.
»Fass mich nicht an! Wag es nicht!«, rief ich.
Die beiden gingen rückwärts zur Tür. Sie ließen mich nicht aus den Augen. Als sie fort waren, glättete ich das zerknüllte Papier und schrieb den Anfang der Geschichte auf ein anderes Blatt ab. Man musste weitermachen, man musste den Tod zu Ende bringen.
Eigentlich war ich nicht besonders. Ich hatte einen bemerkenswerten Charakter, aber einen bemerkenswerten Charakter haben auch viele andere. Ich bin nicht die Einzige. Bevor ich diesen Gedanken fortsetzte, hielt ich inne. Die zweite Phase quälte mich. Es klang so, als planten die Sekretärinnen, eine Bank zu überfallen oder die Regierung zu stürzen, und ich solle ihnen dabei helfen. Ich lachte über mich selbst und schrieb: Schreiben ist kein Sprengstoff, es kann keinen Safe, keine Wand und keinen Keller hochgehen lassen.
Da irrst du dich, ich stellte mir vor, wie Tristessa mich korrigierte. Wir haben dir gesagt ein Dutzend Geschichten, weil wir eine ausreichende Anzahl von Geschichten brauchen, damit wir ein Feuerwerk machen können.
»Ich will mich nicht an illegalen Vorgängen beteiligen«, erwiderte ich, als würde ich mich tatsächlich mit Tristessa unterhalten.
Du Dummkopf, rief sie, und an diesem Punkt endete unser imaginärer Streit.
Ich schrieb weiter.
Nach einem Unfall lebte mein Onkel eine Zeit lang bei uns. Mama pflegte ihn. Er schlief einige Monate lang in unserem Wohnzimmer. Manchmal sah ich in der Nacht direkt an seinem Kopfende stehend Pornofilme und lachte mich tot. Ich wusste, dass er mich nicht hörte. Er hatte eine gute Ausrede, er war krank. Die anderen Familienmitglieder waren gesund, aber sie beachteten mich trotzdem nicht. Von allen Kindern in der Schule war ich am unsichtbarsten. Zumindest schien es so. Ich ging allein in die Schule. Und ich kehrte allein nach Hause zurück. Ich hatte keine Freunde, nur den großen Wunsch, alles zu wissen.
Ich hatte aber einen imaginären Freund – das Einhorn Sebastian, das ich nur erwähnte, wenn ich hohes Fieber hatte. Deshalb lehnte ich es ab, ins Krankenhaus zu gehen, da ich einmal den falschen Leuten von meinem Einhorn erzählt hatte. Sie dachten, dass ich verrückt bin. Meine Schwester rettete mich im letzten Moment, wir flüchteten gemeinsam aus dem Krankenhauszimmer.
»Wenn es euch Sonderlinge nicht gäbe«, hatte Zubrovka gesagt, als wir uns kennenlernten, »wäre jeder Tod eine Kartoffel.«
Ich bekam Rückenschmerzen, ich musste mir die Füße vertreten. Ich ging hinaus in den Flur und blieb vor dem Zimmer stehen, in das ich gehen wollte. Ich hörte das Kichern von Tristessa und Zubrovka nicht, deshalb nahm ich an, dass sie irgendwohin ausgegangen waren. Ich griff wieder nach der Türklinke: verschlossen. Ich brach das Schloss auf – ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm. Ich trat einige Male mit dem Fuß gegen die Tür, und ich schaffte es, einzubrechen.
Das Zimmer stand voller Kartons. Sie waren aufeinandergestapelt bis zur Decke. In der Mitte des Zimmers stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und eine kleine Lampe. Ich nahm an, dass hier die beiden Sekretärinnen saßen. Ich öffnete eine beliebige Kiste und sah, dass sie vollgepackt mit Manuskripten war.
»Was machst du da?«, hörte ich die wütende Stimme von Zubrovka.
»Die Tür war offen«, log ich.
»Sie hat die Tür aufgebrochen«, sagte Tristessa und hob die kaputte Türklinke vom Teppichboden auf.
»Ich musste es wissen.«
»Wir hätten es dir bald gesagt, du hättest dich noch ein wenig gedulden müssen.«
»Das konnte ich nicht. Die zweite Phase hat mich gequält.«
Die Sekretärinnen setzten sich an den Tisch. Es gab keinen dritten Stuhl, daher musste ich stehen. Tristessa knipste die kleine Lampe an, und das schwache Licht beleuchtete ihre grimmigen Gesichter. Doch ihre schlechte Laune hielt nicht lange, Tristessa begann zu lachen und mit der Faust auf den Tisch zu schlagen.
»So ist das also, du musstest es wissen!«, sagte sie.
Sie lachte laut auf, als wäre ihr Mund gefüllt mit fremdem Lachen – als hätte sie sich mit Lachen anstelle von Kuchen vollgestopft.
»Du gefällst mir«, sagte sie. »Ich weiß, dass du auch Zubrovka gefällst, deshalb werde ich dir alles erzählen.«
»Die Situation sieht folgendermaßen aus«, legte sie los. »Unsere Aufgabe besteht darin, interessante posthume Texte zu sammeln, ein großes rituelles Feuer anzuzünden, Papier in das Feuer zu werfen und …« Sie hielt inne. Ihre Arme hatte sie angehoben, sie wollte die Spannung erhöhen. »… bumm!«, rief sie aus. »Das Beste vom Tod wird ans Tageslicht kommen.«
»Du meinst, die Toten werden zu den Lebenden kommen?«, fragte ich verwirrt.
»Nicht alle Toten, nur die Toten, die gut schreiben.«
Zubrovka, die zuvor still dagesessen hatte, mischte sich in das Gespräch ein.
»Die Literatur«, sagte sie, »ist die Hauptverbindung zwischen Tod und Leben.«
Ich hatte den Eindruck, dass die beiden das Schreiben allzu romantisch betrachteten, ich wollte sie aber nicht unterbrechen.
»Wir brauchen das Feuer des geschriebenen Wortes, um einen winzigen Riss an der Oberfläche der Wirklichkeit entstehen zu lassen, um so in sie eintreten zu können. Du hast doch Märchen gelesen, du weißt, wie das funktioniert.«
»Märchen sind aber Hirngespinste«, sagte ich.
»Märchen ja, der Tod nicht. Mit dem Tod ist nicht gut Kirschen essen«, sagte Tristessa.
»Der Tod dringt auch an schwer erreichbare Orte vor, aber nur mit Hilfe der Literatur. Sonst kann er gar nichts.«
»Und die anderen Künste? Was ist mit Malerei, Bildhauerei, Musik?«
»Das interessiert uns nicht«, sagten sie. »Sie können nützlich sein, aber das Schreiben bewegt uns viel mehr.«
Ich schloss die Augen. Ich stellte mir meinen Freund Sebastian vor.
»Hörst du, was diese beiden Idiotinnen erzählen?«, fragte ich ihn.
»Ich höre, ich höre«, wieherte er. »Erinnere dich an Heraklit«, fuhr er fort. »Wenn die Menschen sterben, erwartet sie das, worauf sie nicht hoffen und woran sie nicht denken. Zähle bis fünfzig, um dich zu beruhigen.«
»Ich habe die Zahlen vergessen«, sagte ich nervös. »Ich komme nur bis zehn.«
In dem Augenblick, in welchem ich wieder die Augen öffnete, zeigten Tristessa und Zubrovka auf einen Karton.
»Dort sind Manuskripte, die besonders wertvoll sind.«
»Wer hat das alles für euch geschrieben?«, fragte ich.
»Das ist ein Geheimnis«, sagte Zubrovka. »Du wirst es erfahren, wenn wir in das Leben hinaustreten.«
»Jetzt musst du weiterschreiben«, sagte Tristessa, »wir haben nicht mehr viel Zeit. Die Bedingung für unser Hinaustreten ist eine vollständige Sonnenfinsternis.«
»Das oder Vollmond. Es ist eigentlich egal. Es müssen nur Elemente des Grauens sein.«
»In Ordnung«, sagte ich.
Ich verließ das Zimmer, und im Flur kam mir der Gedanke, dass ein Banküberfall im Vergleich zu dem Unsinn, den die beiden Sekretärinnen erzählten, eigentlich eine gute Idee sei.
»Gold ist wertvoller als das Leben«, dachte ich.
Woher weiß ich, dass Gold und andere Edelmetalle mehr wert sind? Ich weiß es, weil ich einst gelebt und mich davon überzeugt habe. Man musste das Nachdenken über soziale Fragen beiseitelegen. Die Sekretärinnen wollten ins Leben zurückkehren, und sie wollten mich mitnehmen. Ich hatte eigentlich nicht den dringenden Wunsch, wieder Luft zu atmen und zu sehen, was auf der anderen Seite geschieht, aber die Idee, dass die Literatur Macht hat, erfasste mich vollständig. Alles, was ich zuvor geschrieben hatte, endete in der Heimatbibliothek, zwei dünne Poesiebände, die niemand mehr lesen wird. Das Schreiben, das Staub ansetzt, gegenüber jenem Schreiben, das von den Toten erweckt. Es gab keinen Zweifel daran, welche dieser beiden Schreibarten mir besser gefiel.
Ich schrieb Tag und Nacht, ununterbrochen. Tristessa und Zubrovka brachten mir Getränke und Essen, manchmal wischten sie mir den Schweiß von der Stirn. Nach dreißig Tagen kam die Stunde der Wahrheit. Sie saßen an dem Tisch und lasen das Geschriebene. Sie glitten mit ihren Blicken schnell über Binde- und Fürwörter, sie lachten.
»Das ist es!«, sagten sie. »Es wird Zeit loszugehen.«
Sie stopften mein Manuskript in einen offenstehenden Karton, verschlossen ihn mit Paketband und stellten ihn zur Seite. Ich reckte meinen Hals, um zu sehen, ob sie mich in die »besonders wertvoll«-Kiste abgelegt hatten, glaube aber, dass diese bereits verschlossen war. Als hätte sich all das Beste in der Literatur schon in der Vergangenheit abgespielt, in der Zeit vor mir. Das ärgerte mich. Zwei dünne Gedichtbände, okay, aber dennoch von Bedeutung. Egal, wie dünn sie sind.
»Schließe dich in einem der Zimmer ein«, sagte Zubrovka. »Du darfst das Zimmer nicht verlassen, bevor du spürst, dass dich so etwas wie ein Lasso zur Ausgangstür zieht.«
»In Ordnung.«
Ich schloss mich in jenes Zimmer ein, in dem ich geschrieben hatte. Der Stuhl war unbequem, mein Leben war ebenfalls unbequem gewesen, und auch mein Tod war unbequem. Ich war schon an Druckstellen gewöhnt. Im Raum verbreitete sich eine große Hitze. Ich dachte, dass ich zusammen mit meinen posthumen geistigen Produkten verbrennen würde. Ich saß ruhig da, ich erwartete nicht, dass das, was die Sekretärinnen angekündigt hatten, eintreten würde. Plötzlich spürte ich, dass mich etwas an der Taille drückte, etwas presste meine Arme eng an den Körper und zog mich zur Tür.
Mein Freund Sebastian erschien.
»Wir gehen wieder zu den Lebenden«, sagte ich. »Kannst du es fassen?«
»Heraklit sagt, dass die Unsterblichen sterblich und die Sterblichen unsterblich sind, denn das Leben von diesen ist der Tod von jenen, der Tod von jenen das Leben von diesen«, sagte Sebastian.
»Schluss jetzt mit dem Heraklit«, rief ich.
Sebastian sah mich ein wenig beleidigt an.
»Was für eine Gans du bist. Mir wäre es lieber, Heraklits imaginärer Freund zu sein als deiner. Fein sein ist nichts für dich. Man sieht aus dem Flugzeug, dass du aus Bosnien kommst.«
Bevor es mir gelang, etwas zu antworten, öffnete sich die Tür, und ich verschwand in der Dunkelheit des Flurs. Über mir verbreitete sich das Schwarz. Ich konnte nicht erkennen, wo genau ich gerade war. Als wäre ich aus der Tiefe aufgetaucht.
»Wo sind wir?«, fragte ich die Person neben mir. Ich konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen.
»Ich glaube, dass wir in Montenegro sind«, sagte eine Frauenstimme.
Mein Kopf tauchte auf, ich sah mich um. Ich war noch nie in Montenegro.
»Der Durmitor«, rief jemand.
Ich befand mich im Wasser. Ich sah Tristessa.
»Wo sind wir aufgetaucht?«
»Im Teufelssee«, sagte sie und lachte.
Über uns schien der Vollmond. Ich sah mein Spiegelbild auf der Oberfläche des Sees. Natürlich war ich ein Zombie. Niemand kehrt unversehrt aus dem Reich der Toten zurück.
»Du hast mich nicht gewarnt«, sagte ich zu Tristessa.
»Was meinst du, warum Zombies Menschenhirne essen?«, fragte sie. »Sicher nicht deshalb, weil sie, als sie am Leben waren, Genitalien und Füße am meisten schätzten.«
Sie hatte selbstverständlich recht. Der große Ansturm der Schriftsteller auf das menschliche Gehirn begann. Alle beeilten sich, aus dem Wasser zu kommen. Irgendwo vor mir erblickte ich Njegoš.
Ihm steht sicher die Ehre zu, als erster zuzubeißen, dachte ich enttäuscht.
Auch Zombies halten sich leider an irgendeine Ordnung und beachten die Hierarchie. Ich wollte die Hand zur Faust ballen, aber es ging nicht. Jenes Lasso hielt mich auch weiterhin fest. Wer am Seil zog, wer mich zu einem fremden Gehirn leitete – ich erfuhr es nicht.