Begegnungen im DDR-Knast

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Begegnungen im DDR-Knast
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Artur Weiß

BEGEGNUNGEN IM DDR-KNAST

Sittlichkeitsdelikte im DDR-Strafvollzug und -Strafrecht

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Umschlaglayout: Karsten Müller

www.network-mediaservice.de

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Mein Bedürfnis

Neuanfang 1945 in der Russischen Zone

Folterhafte Taktik in der U-Haft

Gespräche mit Tätern und Sonstiges

Geteiltes Leid und Freude

Arbeit in der Küche

Der Weg und Begleiterscheinungen bis zum Mord

Die Strafe für den Henker

Vorbereitung zu meiner Gerichtsverhandlung

Auf dem Weg zum Strafvollzug

Sie hat mich nicht ernst genommen

Zur DDR Amnestie am 13.10.1972

Einzug in Berlin Rummelsburg

Bodos geheime Familie

Der Alltag hinter Gittern

Bodo startet durch

Gnadenlose Bestrafung in der JVA

Wilceks schamlose Sittentat

Arbeiten in ZW und Sonstiges

Wie Fred zum Täter wird

Freds Handeln endete blutig

Sabotage bei Bauabnahme

Gitter für ein Gerichtsgebäude und Alltägliches

Hilfe für einen jungen Täter

Baustelle Gitterwerk Berlin

Silvias Rache

Der Neuzugang

Meinungen von Täter zu ihrer Tat

Der Bau einer Turnhalle

Schlusswort

Weitere Bücher

VORWORT

In meiner Generation war das Zusammenleben von Mann und Frau ein Tabu-Thema, über das gar nicht oder kaum gesprochen wurde. Es wurde streng darauf geachtet, dass wir Kinder bei solchen Gesprächen nicht zugegen waren. Es kam nicht selten vor, dass, wenn Eltern ihre Tochter nach ihrem Freund befragten, es ihr die Schamröte in das Gesicht trieb. Wir Kinder sahen unsere Eltern niemals völlig entblößt. Dieses Schamgefühl ist auch auf uns Kinder übergegangen. Das hat sich erst im Erwachsenwerden leicht geändert. Auch die Beziehungen der Geschlechter untereinander war für uns Neuland. Im Besonderen die Beziehungen Gleichgeschlechtlicher, das ist für mich heut noch unakzeptabel. Das ist für mich und viele andere nicht mit dem Glauben in Einklang zu bringen, weil es da heißt: „Liebet und vermehret euch“. Leider sind diese Werte bei vielen über Bord gegangen, und Jüngere widmen sich stattdessen nur ihrem Vergnügen. Das DDR-Strafrecht hat über Homo und Sitte besonders streng geurteilt. Was unter dem Begriff Sittlichkeit (Sitte) alles möglich ist, habe ich in der U-Haft und später im Gefängnis aus Gesprächen und Akten Verurteilter entnommen. Manches habe ich auch beobachten können. Warum ich mit einer hohen Haftstrafe in Berlin Rummelsburg eingezogen bin und mich mit dem Thema Sittlichkeit befasse, wird in diesem Buch zu lesen sein. Um alle beschriebenen Ereignisse besser verstehen zu können, ist es notwendig zu wissen, wer ich bin und woher ich komme.

Bedingt durch Missernten in Folge herrschte um 1813 europaweit große Hungersnot, dazu brachen noch gefährliche Krankheiten aus, wie Pest, Cholera und andere. Dies bewog Zar Alexander I. zu dem wirtschaftlichen Plan, den notleidenden Menschen zu helfen und gleichzeitig unbebautes Land zu besiedeln. Er bot ihnen das Nomaden- und Steppenland Bessarabien an, was Tausende annahmen und sich auf den Weg gen Osten machten. Dieses verlockende Angebot nahmen auch meine Vorfahren aus Baden-Württemberg (Freudenstadt) an. Sie nutzten dazu die verschiedenen Landwege, aber auch die Donau abwärts nach Galatz oder Ismail. Auf dem Landweg zu Fuß und mit Ochsenkarren erreichten von 2.000 Kolonisten nur 500 das Siedlungsgebiet. Dort empfingen sie die Beamten des Zaren, welche ihnen ihre Privilegien erläuterten. Die Kolonisten wurden registriert und mit Ausweispapiere versehen, das versprochene Steppenland teilten sie ihnen zu. Mit Ochsengespannen und menschlicher Muskelkraft machten sie das Steppenland urbar, was ihnen alles abverlangte. Die fruchtbare Erde ernährte sie 150 Jahre bis zur Aussiedlung 1940 nach Deutschland.


Das Land Bessarabien

Die Aussiedlung aus Bessarabien nach Deutschland, die Ansiedlung in Polen, schließlich durch Krieg, Flucht und Vertreibung wieder in Deutschland angekommen, ist in meinen Büchern ausführlich zu lesen. Auch der Neuanfang 1945 in der damaligen Russischen Zone und das Leben in der DDR Stasidiktatur.


1. Von Bessarabien nach Belzig


2. Die letzten Kinder Bessarabiens

MEIN BEDÜRFNIS

Wenn ein Mann 83-jährig in seinem Leben einige Diktaturen überlebt und in ihnen moralische, seelische Grausamkeiten hat über sich ergehen lassen müssen, ist es schon eine seiner Pflichten, diese Erlebnisse seiner Nachwelt zu übermitteln. Schon als Neunjähriger sind mir 1940 die stalinistischen Gewalttätigkeiten während der Aussiedlung nach Deutschland aufgefallen. Als Kind konnte ich nicht verstehen, warum die Frauen und Mädchen aufgeregt davonliefen, wenn sich betrunkene russische Soldaten auf der Straße lautstark bemerkbar machten. Wenn ich von meiner Mutter den Grund dafür erfahren wollte, wurde mir nur ausweichend geantwortet. Aus dem Verhalten der Erwachsenen und einigen Gesprächsfetzen konnte ich mir früher oder später einen Reim daraus machen. Auf jeden Fall sah ich darin einen unfreundlichen Akt, der den Dorfbewohnern Angst und Schrecken einjagte. Schließlich hatten meine Vorfahren aus Baden-Württemberg 1813 als Kolonisten das Steppenland Bessarabien urbar gemacht. Sie lebten in ihrem Dorf Klöstitz 150 Jahre glücklich und zufrieden auf ihrem eigenen Besitz.

Auch mein Leben begann hier und es war mir ein Bedürfnis, in Klöstitz weiter zur Schule zu gehen wie meine Vorfahren und Eltern. Wir vier Geschwister waren in der Zeit 1931 bis 1939 auf dem elterlichen Bauernhof geboren. In der Klöstitzer Kirche wurden wir getauft, unsere Eltern, Alfred und Anna Maria Weiß geb. Messinger, waren in ihr auch getraut. Als Ältester war ich, Artur, 1937 in einer Rumänischen Schule eingeschult worden. Zu dieser Zeit gehörte Bessarabien zu Rumänien, musste aber durch ein Ultimatum Stalins kurzfristig von den Rumänen geräumt werden. Somit übte Russland wieder Macht über Teile der Ukraine und Moldawien aus. Die politische Entwicklung 1940 führte dazu, dass ein Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin geschlossen wurde. Dieser beinhaltete unter anderem die Aussiedlung der Bessarabien-Deutschen in das Deutsche Reich. Das Eigentum der Bessarabier musste bis auf persönliche Dinge zurückgelassen werden, das bedeutete nicht nur das tote, sondern auch alles lebende Inventar. Alle Dorfbewohner waren schlagartig mittellos, mich traf es als Kind besonders hart, weil ich mich von meinem bulgarischen Hirtenhund Tschornig trennen musste. Nicht nur unsere Eltern, sondern auch wir Kinder hatten das Lachen verlernt und unsere Augen glänzten nicht mehr.

 

So verließen die Klöstitzer Bauern, somit auch mein Vater, ihre Heimat.

Am Morgen des 30. September 1940 begann für die Klöstitzer der Abschied von ihrem Dorf. Mit Pferd und Wagen ging es zum Donauhafen Galatz. Die Männer machten mit ihren Wagen den Anfang der Umsiedlung nach Deutschland. Es folgten die Frauen mit ihren Kindern in Bussen und auf LKW. Es ereigneten sich herzzerreißende Abschiedsszenen am Wegesrand, bis sich dann die Fahrzeuge in Gang setzten. Ich hatte ein großes Problem mit meinem bulgarischen Hirtenhund Tschornig, der unserem Bus nachlief, bis ihn der aufgewirbelte Steppenstaub verschlang. Es tat mir in der Seele weh und meine Tränen konnte ich nicht zurückhalten. Es war eine Tragödie zu sehen, wie das freigelassene Vieh umherirrte. Da wünschten sich sicherlich alle, in unserem Dorf Klöstitz zu bleiben. Noch hörten wir den Glockenklang der Klöstitzer Kirche, bis ihn das Motorengeräusch des Busses übertönte. Die Weiterfahrt nach Galatz, wo uns die Donauschiffe erwarteten, wurde mit Klagen und Weinen der Frauen und Kinder begleitet.


Pastor Immanuel Baumann verabschiedet die letzten Klöstitzer.

Am späten Nachmittag erreichten Busse und LKW den Donauhafen Galatz, wo die Umsiedler in bereitliegenden Schiffen an Bord gingen. Es herrschte drangvolle Enge an Bord, zumal noch die Väter der Familien hinzukamen. Kurzfristig kam Freude auf, waren doch die Familien wieder vereint. In die Freude des Zusammenseins hinein ertönten die Schiffssirenen und ein Schiff nach dem anderen nahm donauaufwärts Fahrt auf. Diese endete nach zwei Nächten und einem Tag in Serbien bei Belgrad. Nach einer Woche Lagerleben ging es mit der Eisenbahn in das Deutsche Reich, wieder in ein Lager. Das Lagerleben in Mülhausen Thüringen dauerte bis 1941. Dann siedelte das NS-Regime die bessarabischen Bauern im besetzten Polen an.


Heute beleben moderne Schiffe die Donau


Dampfschiffe brachten 93.000 Bessarabiendeutsche 1940 nach Semlin (Serbien)

Das Leben im besetzten Polen endete wegen des Krieges gegen Russland im Januar 1945. Als Familie ohne unseren Vater mussten wir uns mit Pferd und Wagen am 04. 01. 1945 auf die Flucht nach Deutschland begeben. So verloren wir zum zweiten Mal innerhalb von fünf Jahren unsere Heimat. Vater war Soldat an der Ostfront, wo er an einem verlorenen Krieg teilnehmen musste. Nach einer 14tägigen Flucht war Mutter mit uns vier Geschwistern per Eisenbahn am 21. 01. 1945 in Belzig, Mark Brandenburg, angekommen. Hier hat man uns warme Mahlzeiten verabreicht und unsere erfrorenen Gliedmaßen behandelt. Das Dorf Mörz bei der Kreisstadt Belzig wurde unsere dritte Heimat.

Der Krieg erreichte uns noch einmal im Mai 1945 mit voller Wucht und wieder gab es viele Tote und einige Bauerngehöfte im Dorf brannten nieder.

NEUANFANG 1945 IN DER RUSSISCHEN ZONE

Als die seelischen und moralischen Wunden, die uns der Krieg geschlagen hatte, nicht mehr so wehtaten, gingen wir Heimat- und Mittellosen ohne finanzielle Mittel daran, den Neuanfang zu wagen. Dies geschah, indem Mutter als Magd und ich als Knecht stundenweise auf dem Bauernhof eine Arbeit aufnahmen. Später erhielten wir eine Vollbeschäftigung, die bis zum 15. 10. 1947 andauerte, dann erlernte ich in Belzig den Schmiedeberuf. Mein Lehrbetrieb war mit kurzer Unterbrechung für viele Jahre mein Arbeitsplatz, bis ich 1966 die Meisterprüfung ablegte und den Betrieb übernahm. Diesen kleinen Reparaturbetrieb baute ich zu Gunsten einiger VEB-Betriebe zur Serien-Produktionsstätte aus. Mit meinen Mitarbeitern erzielte ich hohe Umsätze, was vom Finanzamt jährlich überprüft und bestätigt wurde.


So fing alles es an


In dieser alten Schmiede lernte ich und machte Kariere

Amtlicherseits abgesichert, konnte ich sagen, die Investition und vor allem die eigene Arbeit hatten sich gelohnt. In der Zeit meiner Aufbauphase war aus der Russischen Zone die so genannte DDR entstanden, die den Privatunternehmen nicht wohlgesonnen gegenüber stand und 1972 die Sozialisierung derselben beschloss. Dem widersetzte ich mich mit allen Mittel der Rechtsprechung des Landes. Ich verwehrte mich entschieden dagegen, mir als Arbeiter- und Bauernsohn mein Lebenswerk zu nehmen. Auch mein Hinweis, dass meine Eltern durch Krieg, Flucht und Vertreibung schon zweimal Habe und Heimat verloren hatten, stieß auf taube Ohren. Ich beschwerte mich und riet, dass hierzulande die Diktatur des Proletariats solche Fehler wie Hitler und Stalin nicht machen sollten. Meine Verärgerung war so groß, dass ich der Abordnung Hausverbot erteilte.

Das war wohl zu viel für die SED- und Stasi-Genossen, so dass sie beim Verlassen der Werkstatt mir Folgen androhten, weil ich mich nach ihrer Meinung mit der Staatsmacht angelegt hätte. Fortan wurde gegen mich ermittelt, so dass ich spürte, wie eine Lawine auf mich zurollte. Dies bestätigte sich Wochen später, als ich eine Ladung der VP (Volkspolizei) erhielt, „zwecks Klärung eines Sachverhalts“ nach Potsdam zu kommen. Wie es in Diktaturen üblich ist, wird kurzer Prozess gemacht. Ein Uniformierter brachte mich zu einem Staatsanwalt, der mir meine angeblichen Vergehen vortrug. Es waren dies:

1 Verbrechen zum Nachteil sozialistischen Eigentums

2 Widerstand gegen die Staatsgewal.

3 Boykotthetze

Als ich dann noch einem Haftrichter vorgeführt und verhaftet wurde, brach eine Welt in mir zusammen. Ein Beamter der JVA legte mir die Handschellen an und brachte mich auch in die U-Haft Potsdam. Auf dem Weg dorthin wurde ich von ihm misshandelt. Sein Schlagstock landete des Öfteren in meiner Nierengegend, so dass mir die Luft wegblieb. Auch auf dem Weg zur Sammelzelle spürte ich seinen Knüppel auf meinem Rücken. Als 18. U-Häftling stieß mich der Schließer in die Zelle hinein, mit dem Bettzeug auf den Händen machte ich eine Bauchlandung. Nun war ich in der Hölle angekommen und bezog ein Dreistockbett, ganz oben unterhalb der Zellendecke.

FOLTERHAFTE TAKTIK IN DER U-HAFT

Die erste Nacht in der U-Haft belastete mich sehr, zumal meine Familie nicht wusste, wo ich abgeblieben war. Auch die Ankündigung des Schließers, dass ich diese Nacht nicht vergessen werde, bestätigte sich. Zum wiederholten Male riss man mich in dieser Nacht bei höllischem Lärm aus dem Schlaf und brachte mich zum Verhör. Immer spürte ich den Knüppel im Rücken und ich musste mir Sprüche anhören: „Wir haben bis jetzt alle klein gemacht!“ Diese Schikanen dauerten etwa eine Woche bei Tag und Nacht. Als der Druck nachließ und etwas Ruhe eintrat, machte ich den Versuch, das Geschehene einzuordnen. Ich stellte fest, dass mir die Hände gebunden waren und ich der DDR Stasi-Diktatur voll ausgeliefert war.

Bis dahin hatte mich das Erlebte so in Anspruch genommen, dass ich alles, was um mich herum geschah, kaum wahrgenommen hatte. Langsam bekam ich das Gefühl, mich in mein Schicksal widerspruchslos fügen zu müssen, wie es meine Zellenbewohner auch taten. Fortan brachte ich mich in die Gespräche mit meinen Leidensgenossen ein. So erfuhr ich, welche schrecklichen Täter mit mir in der Zelle sind: Einbrecher, Betrüger, Totschläger, Schwule, Sitte, Vergewaltiger und Mörder. Wenn ich mir die Männer so anschaute, konnte ich es nicht glauben, dass sie zu solchen Taten fähig waren. Die Tage vergingen mit Verhören draußen und Gesprächen in der Zelle, wodurch man sich näher kennen lernte. Mir fiel auf, dass ein Gleichaltriger des Öfteren zu nah an mich heranrückte. Ich stellte ihn zur Rede und verbot ihm unmissverständlich Kontakte dieser Art. Eine Zeitlang unterließ er es. Hier stand ich zum ersten Mal einem Mann gegenüber, der auf Männer und Kinder stand, was mir Unbehagen einflößte. Weil ich aber im Gespräch mit ihm bleiben wollte, verbarg ich ihm gegenüber meine Abneigung. Oft sind unsere Gespräche von JVA-Angestellten unterbrochen worden, weil man mich zum Verhör holte.

Weil bei den Verhören immer dieselben Fragen gestellt wurden, veränderte ich mein Verhalten den Beamten gegenüber. Es erschien mir wichtig, einen Rechtsanwalt zu beauftragen, um vielleicht noch etwas zu retten. Ein Anwalt aus meiner Heimatstadt erklärte sich bereit, mich zu vertreten. Als Erstes beauftragte ich ihn, eine Sprecherlaubnis für meine Frau zu erwirken, weil mich die Ungewissheit um das Schicksal meiner Familie Tag und Nacht quälte. War es doch so, dass wir am Tag meiner Verhaftung einfach auseinander gerissen wurden. Es war mir nicht gestattet zu telefonieren, um meine Frau zu informieren. Dies empfand ich skrupellos und menschenunwürdig, was aber zum zweiten Gesicht der DDR passte. Nach langer Zeit des Verhörs brachte mich ein Schließer in die Zelle zurück, wo kurz darauf das Mittagessen gereicht wurde, was nur der Hunger reintrieb.

GESPRÄCHE MIT TÄTERN UND SONSTIGES

Was mir ungerechterweise vorgeworfen wurde, ist schon genannt, so macht es Sinn, über die Tatbestände anderer zu reden. Weil es in der U-Haft keinerlei Medien gab, war es ohnehin der einzige Gesprächsstoff, worüber aus Langeweile gesprochen wurde. In Gruppen oder zu zweit unterhielten sich die U-Häftlinge über ihre Taten und Vernehmungen. Auch mein Gesprächspartner, ich nannte ihn Schwuli, suchte das Gespräch mit mir. Meine Absicht war es herauszufinden, mit wem ich es hier zu tun hatte. Das eindringliche Auf-ihn-Einreden führte dazu, dass er gestand, wegen Sitte schon einmal zwei Jahre gesessen zu haben. Nun wollte ich es genau wissen. Zunächst zögerte er. Dann erzählte er aber wie ein Wasserfall seine Geschichte.

„Schon in meiner Kindheit“, so Schwuli, „fühlte und bemerkte ich gewisse Unterschiede zwischen mir und meinen Spielkameraden. Dieses Anderssein war immer da und ich bekam zunehmend Probleme damit. In der Zeit, als ich meinen Schlosserberuf erlernte, zog es mich in der Berufsschule zu einem Gleichgesinnten hin. Dies gab mir die Bestätigung, dass noch andere mit den gleichen körperlichen Problemen konfrontiert waren. Weil wir uns gut verstanden, wurden wir für lange Zeit gute Freunde. Meine Eltern waren nicht erfreut darüber, dass ich schwul war und das war für mich immer eine Belastung. Sie wünschten sich wie alle Eltern, dass junges Leben in das Haus einzieht und dass sie Enkel heranwachsen sehen. Diesen Wunsch werde ich ihnen nie erfüllen können, weil es mir nicht möglich ist, Liebesgefühle und Zuneigung zu Frauen zu entwickeln. Dann schwieg er eine Weile, sah mich fragend an: „Könntest du mit einem Mann Sex haben?“ Verlegen war meine Antwort: „Niemals, weil es mich anekelt.“

Wieder einmal war ich aus der Zelle geholt worden, diesmal war der Grund mein Rechtsanwalt. Dieser kam gleich zur Sache, bestellte Grüße von meiner Frau und den Kindern, die wie ich am Boden zerstört waren. Dass er eine Sprecherlaubnis erwirkt hatte, war nach langer Zeit für mich ein freudiges Ereignis. Dann kamen wir schnell zu dem Eigentlichen, meine Anklage. Er hatte Akteneinsicht genommen. Es folgte ein sachbezogenes Gespräch über die Anklageschrift, von der er mir eine Abschrift übergab. Für mich stand jetzt schon fest, dass ich dieses Schreiben niemals unterzeichnen werde. Das riet mir auch mein Anwalt, der sich um meine beschlagnahmten Beweismittel kümmern wollte, die beim Finanzamt in Potsdam lagern. Er versäumte auch nicht, mich auf das kommende Gerichtsverfahren hinzuweisen. Um mich darauf vorzubereiten, bekam ich ein Schreiben von ihm mit den für mich notwendigen Gesetzblättern.

 

Es war mir ein Bedürfnis, mich über die Schikanen der JVA-Angestellten bei meinem Anwalt zu beschweren. Somit war erstmals alles gesagt, worauf der Anwalt sich von mir mit den Worten verabschiedete: „Wir bleiben in Verbindung.“ Dann klapperte der Schließer mit den Handschellen, die er mir anlegte, und er brachte mich zurück in die Zelle.

Auf dem Weg dorthin war ich gedanklich bei meiner Familie und freute mich, bald meine Frau wiederzusehen. Andererseits fürchtete ich mich vor dem, was auf mich zukommt, weil die Ungewissheit an meinen Nerven nagte. Die Gespräche mit dem Anwalt hatten sich in die Länge gezogen, so dass inzwischen das Abendbrot ausgegeben wurde. Die nie so üppigen Malzeiten waren schnell von den Insassen eingenommen und die Langeweile nahm wieder Besitz von uns. Die Raucher sorgten dafür, dass die stinkende Luft in der Zelle zusätzlich vernebelt wurde. Die Nichtraucher, zu denen auch ich gehörte, hatten es besonders schwer, zumal es nicht möglich war, den Raum zu lüften. Dicht unter der Zellendecke empfand ich den Gestank besonders stark. Um Neun wurde Nachtruhe ausgerufen und das Licht erlosch.

Seit dem Besuch meines Anwalts hatte ich eine für mich wichtige Aufgabe zu erfüllen, die Vorbereitung auf den Tag X. Zunächst aber möchte Schwuli mir seine Geschichte zu Ende erzählen. Als gelernter Schlosser nahm er eine Arbeit als Hausmeister in einer Schule an, wo es ihn auf Grund seiner körperlichen Verfassung hinzog. Der Direktor zeigte ihm seinen zukünftigen Arbeitsbereich und übergab ihm eine kleine Werkstatt. Auch auf die Hausordnung wurde er hingewiesen. Nun hatte er eine gute Arbeit. Sorge bereitete ihm die Tatsache, dass sein langjähriger Freund mit seinen Eltern verzogen war. So verlor er nicht nur einen Freund, sondern auch seinen ganzen Halt. Das Naheliegende trat ein, er begab sich auf die Suche, um neue Freunde zu finden. Vorerst konzentrierte er sich auf seine Arbeit, die ihn voll in Anspruch nahm. Auch genoss er die Pausen, wo die Kinder Groß und Klein sich auf dem Schulhof tummelten. So verging die Zeit ohne besondere Vorkommnisse, bis eines Tages eine Prügelei auf dem Schulhof entstand. Größere Jungs attackierten einen ihnen Unterlegenen, diesem kam Schwuli zu Hilfe. Fortan machte er es sich zur Aufgabe, in den Pausen den Schulhof zu überwachen. Dies brachte ihm ein Lob des Direktors ein und die Zuneigung des Jungen, was ihm zum Verhängnis wurde. Die Eltern des Jungen hatten ihn als Kleinkind adoptiert, wenig später verstarb der Vater. Das konnte der Junge, namens Philip, seinerzeit sechs Jahre alt, nicht so richtig verarbeiten. Es fehlte ihm an der Seite seiner Mutter der Vater, zu dem er ein besonders gutes Verhältnis hatte. So konnte sich zwischen Schwuli und dem Jungen eine Vater-Sohn-Beziehung entwickeln. Ihre Freundschaft und Zuneigung vertiefte und festigte sich. Beide verbrachten viel Zeit miteinander. In den Pausen aßen sie ihre Brote in der Werkstatt und tranken Tee dazu. In ihrer Freizeit gingen sie schwimmen und bekamen so Körperkontakt. Das löste bei Schwuli seine Gefühlsströmungen aus, die er nur schwer unter Kontrolle bringen konnte. So begann er den Jungen zu befummeln, auch an seinem Unterleib. Philip wehrte sich verzweifelt, konnte aber gegen den kräftigen Mann nicht ankommen. In seinem Wahn schlug er Philip so heftig, dass dieser die Besinnung verlor. Schwuli schleppte den Jungen in ein Gebüsch, wo er sich dann an ihm verging. Während des Aktes kam Philip wieder zu sich und rief jämmerlich um Hilfe, worauf Schwuli ihn würgte. Erst als er seinen Orgasmus hatte, ließ Schwuli von dem Jungen, der fast leblos und wimmernd am Boden lag. Selbst erschrocken von dem, was er angestellt hat, rief Schwuli lautstark um Hilfe. Eine Gruppe Frauen und Männer eilten herbei, die dem Jungen halfen. Andere benachrichtigen die Polizei und das DRK. Der Täter wurde mit Handschellen festgenommen und Philip in ein Krankenhaus gebracht.

Hier stoppte er seinen Redefluss und bemerkte, dass ihm alle zuhörten, einer rief lautstark: „Du bist ja nicht nur schwul, sondern echt krank.“ Dann senkte Schwuli seinen Kopf und verbarg das Gesicht hinter seinen Händen. Ich hatte das Gefühl, dass er sich nicht nur maßlos schämte, sondern auch die Tat bereute.

Nachgefragt

Etwas derart Schreckliches hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gehört und schon gar nicht für möglich gehalten. Daher unternahm ich den Versuch, seine Beweggründe für eine solch schändliche Tat zu ergründen. Die Frage an Schwuli war: „Was war der Auslöser, um eine solche Tat zu begehen?“

Er begann damit, dass er schon einmal eine ähnliche Straftat begangen habe, die ihn aber nicht geändert hat. Obwohl seine Unmoralität medizinisch behandelt und therapiert wurde, ist Schwuli doch zum Kinderschänder geworden. Dass er zum Wiederholungstäter wurde, begründete er damit, dass in ihm ein unlöschbares Programm installiert ist, das immer dann in Aktion tritt, wenn er Kinder sieht und mit ihnen in Körperkontakt kommt. Es ist für ihn wie ein Rausch, dem er willenlos ausgesetzt ist.

So schlimm es auch für die Täter ist, dürfen aber nicht die Opfer vergessen werden, die aus der Lebensbahn geworfen, oder gar getötet werden. Immerhin werden den vergewaltigten Frauen und Kindern tiefe seelische und moralische Wunden geschlagen. Für die Täter wird am Ende immer gesorgt, die Opfer jedoch oft allein gelassen. Aus der Sicht der Verletzten ist es eine Zumutung, dass sie mit ihren Steuern den Täter im Gefängnis unterstützen. Vielmehr herrscht die Meinung vor, dass der Täter im Gefängnis durch seine Arbeit dem Opfer Schmerzensgeld schuldet.