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Czytaj książkę: «Der Weg ins Freie», strona 15

Czcionka:

»Wenn mir einer in der Sache leid tut«, sagte Therese, »ist es jedenfalls nur der Alte, der bei seinem guten Herzen wahrscheinlich heute die Unannehmlichkeiten schon bedauert, die er seinem versnobten Sohn verursacht hat.«

»Gutes Herz!« rief Demeter aus, »ein Millionär! ein Fabrikbesitzer!… Aber Therese… «

»Ja, es kommt vor. Das ist zufällig einer von jenen, die in der Tiefe ihrer Seele mit uns eines Sinnes sind. Und an dem Abend, Demeter, an dem du das Vergnügen gehabt hast, mich zum erstenmal zu sehen, weißt du, warum ich damals bei Ehrenbergs gewesen bin… ? Und weißt du, für welchen Zweck er mir damals ohne weiteres tausend Gulden gegeben hat… ? Für… «, sie biß sich auf die Lippen, »ich darf's ja nicht sagen, das war die Bedingung.«

Plötzlich erhob sich Demeter und verbeugte sich vor jemandem, der eben vorbeiging. Es war der österreichische Herr, der gestern angekommen war. Er lüftete den Hut und verschwand im Dunkel des Gartens.

»Sie kennen den Mann?« fragte Georg nach ein paar Sekunden. »Mir ist auch, als kennte ich ihn, wer ist's denn nur?«

»Der Prinz von Guastalla«, sagte Demeter.

»So?« rief Therese unwillkürlich, und ihre Augen bohrten sich ins Dunkel.

»Was schaust du denn?« sagte Demeter. »Ein Mensch wie ein anderer.«

»Er soll ja von Hof verbannt sein«, sagte Georg, »nicht wahr?«

»Davon ist mir nichts bekannt«, entgegnete Demeter, »aber jedenfalls ist er nicht gern gesehen. Er hat neulich eine Broschüre herausgegeben über gewisse Zustände in unserm Heer, insbesondere über das Leben der Offiziere in den Provinzen, was ihm sehr übel genommen wurde, obwohl in Wirklichkeit gar nichts Böses darin steht.«

»Da hätt' er sich an mich wenden sollen«, sagte Therese, »ich hätt' ihm auch einiges mitteilen können.«

»Liebes Kind«, wehrte Demeter ab, »das, was du wahrscheinlich wieder meinst, ist doch ein Ausnahmefall, da darf man nicht gleich verallgemeinern.«

»Ich verallgemeinere nicht, aber ein solcher Fall genügt, um das ganze System… «

»Keine Rede, Therese… «

»Ich spreche von Leo«, wandte sich Therese an Georg. »Was der heuer durchmacht, das ist wirklich ungeheuerlich.«

Georg erinnerte sich plötzlich wie einer vollkommen vergessenen und höchst merkwürdigen Sache, daß Therese Leos Schwester war. Ob der wußte, daß sie hier, und mit wem sie hier war?

Demeter nagte etwas nervös an seinen Lippen.

»Da ist nämlich ein antisemitischer Oberleutnant«, sagte Therese, »der ihn auf eine besonders niederträchtige Art seckiert, weil er spürt, wie Leo ihn verachtet.«

Georg nickte. Er wußte ja davon.

»Liebes Kind«, sagte Demeter, »wie ich schon mehrere Male erwähnte, mir stimmt in der Sache etwas nicht. Ich kenne zufällig den Oberleutnant Sefranek und versichre dich, es ist mit ihm auszukommen. Er ist nicht besonders gescheit, und daß er für die Israeliten keine Vorliebe hat, mag auch richtig sein, aber schließlich muß man doch sagen, es gibt sogenannte antisemitische Schimpfwörter, die gar keine Bedeutung haben, die von Juden meiner Erfahrung nach ebensoviel angewendet werden wie von Christen. Und dein Herr Bruder leidet da entschieden an einer krankhaften Empfindlichkeit.«

»Empfindlichkeit ist nie krankhaft«, entgegnete Therese. »Nur Unempfindlichkeit ist eine Krankheit und zwar die widerwärtigste, die ich kenne. Ich stimme bekanntlich mit meinem Bruder, das wissen Sie am besten, Georg, in meinen politischen Anschauungen so wenig überein als möglich, mir sind jüdische Bankiers geradeso zuwider wie feudale Großgrundbesitzer, und orthodoxe Rabbiner geradeso zuwider wie katholische Pfaffen. Aber wenn sich jemand über mich erhaben fühlte, weil er einer andern Konfession oder Rasse angehört als ich, und gar im Bewußtsein seiner Übermacht mich diese Erhabenheit fühlen ließe, ich würde so einen Menschen… also ich weiß nicht, was ich ihm täte. Aber jedenfalls würd ich den Leo begreifen, wenn er bei der nächsten Gelegenheit diesem Herrn Sefranek ins Gesicht springt.«

»Mein liebes Kind«, sagte Demeter, »wenn du nur den geringsten Einfluß auf deinen Bruder hast, so solltest du diesen Gesichtssprung um jeden Preis zu verhindern suchen. Meiner Ansicht nach bleibt es doch bei einem solchen Fall das beste, den anständigen, das heißt den vorschriftsmäßigen Weg einzuschlagen. Es ist nämlich gar nicht wahr, daß damit nichts erreicht wird, die obern Chargen sind meistens ruhige, jedenfalls korrekte Persönlichkeiten und… «

»Aber das hat ja der Leo längst getan… schon im Februar. Er ist beim Obersten gewesen, der Oberst war sogar sehr nett zu ihm und hat, wie aus verschiedenen Anzeichen hervorgeht, dem Oberleutnant sehr ins Gewissen geredet; nur daß es leider nicht das geringste genützt hat, im Gegenteil. Bei nächster Gelegenheit hat der Oberleutnant seine Bosheiten erst recht wieder aufgenommen und setzt sie mit einer raffinierten Konsequenz fort. Ich versichere Sie, Baron, von Tag zu Tag fürcht ich, daß da irgendein Malheur geschieht.«

Demeter schüttelte den Kopf. »Wir leben in einer verrückten Zeit. Ich versichere Sie«, wandte er sich an Georg, »der Oberleutnant Sefranek ist so wenig Antisemit als Sie und ich. Er verkehrt in jüdischen Häusern, ich weiß sogar, daß er mit einem jüdischen Regimentsarzt direkt intim war durch Jahre. Es ist wirklich, wie wenn die Leute wahnsinnig wären.«

»Da könntest du recht haben«, meinte Therese.

»Nun, Leo ist so vernünftig«, sagte Georg, »so klug bei all seinem Temperament, daß ich überzeugt bin, er wird sich zu keiner Dummheit hinreißen lassen. Schließlich weiß er doch, in ein paar Monaten ist alles vorbei, solang macht man's halt durch.«

»Wissen Sie übrigens, Baron«, sagte Therese, während sie, dem Beispiel der Herren folgend, aus einer Schachtel, die der Kellner gebracht hatte, eine Zigarette nahm. »Wissen Sie, daß Leo von Ihren Kompositionen sehr entzückt war?«

»Na, entzückt«, sagte Georg, indem er Therese Feuer gab, »davon hab ich eigentlich nichts bemerkt.«

»Also gefallen hat ihm einiges«, schränkte Therese ein, »das ist beinahe schon soviel, wie wenn ein anderer entzückt wäre.«

»Haben Sie auch auf der Reise komponiert?« fragte Demeter verbindlich.

»Nichts als ein paar Lieder.«

»Die werden wir wohl im Herbst zu hören bekommen«, meinte Demeter.

»Ach Gott, reden wir nicht vom Herbst«, sagte Therese. »Bis dahin können wir tot sein, oder eingesperrt.«

»Na, das letztere wäre doch bei einigem guten Willen zu vermeiden«, rief Demeter.

Therese zuckte die Achseln. Georg saß nahe bei ihr und glaubte die Wärme ihres Körpers zu fühlen. Aus den Fenstern des Hotels glänzten Lichter, und ein langer, rötlicher Streif fiel bis zu dem Tisch, an dem die beiden Paare saßen.

»Ich schlage vor«, sagte Georg, »daß wir den schönen Abend benützen, um noch am Ufer spazieren zu gehen.«

»Oder Kahn zu fahren«, rief Therese aus.

Alle waren einverstanden. Georg eilte rasch aufs Zimmer, um Umhüllen zu holen. Als er wieder herunterkam, fand er die andern bereit zum Fortgehen an der Tür des Parks stehen. Er half Anna in ihren hellgrauen Mantel, hing Therese seinen eigenen, langen Überzieher um die Schultern und behielt einen dunkelgrünen Plaid über dem Arm. Sie gingen langsam durch die Allee, bis zu der Stelle, wo Kähne verankert lagen. Zwei Schiffer führten die Gesellschaft mit raschen Ruderschlägen aus der Dunkelheit des Ufers in das schwärzlich glänzende Wasser hinaus. Unnatürlich riesenhaft ragten die Berge zum Himmel auf. Die Sterne waren nicht sehr zahlreich. Kleine, graublaue Wölkchen hingen in der Luft. Die Ruderer saßen auf zwei quergelegten Brettern; in der Mitte des Kahns auf schmalen Bänken, einander gegenüber, die beiden Paare: Georg und Anna, Demeter und Therese. Alle waren zuerst ganz schweigsam. Erst nach einigen Minuten unterbrach Georg die Stille. Er nannte den Namen des Berges, der den See nach Süden abschloß, machte auf ein Dorf aufmerksam, das wie in unendlicher Entfernung an einer Felsenlehne ruhte und doch in einer Viertelstunde zu erreichen wäre; erkannte das weiße, leuchtende Haus auf der Höhe über Lugano als das Hotel, in dem Demeter und Therese wohnten, und erzählte von einem Spaziergang, den er neulich unternommen, zwischen besonnten Weinbergen weit ins Land hinein.

Anna hielt unter dem Plaid, während er sprach, seine Hand gefaßt. Demeter und Therese saßen ernst und korrekt nebeneinander, gar nicht wie Liebesleute, die einander erst vor kurzem gefunden haben. Nun erst gewann Georg für Therese allmählich seine Neigung zurück, die während ihres lauten, heftigen Redens beinahe geschwunden war.

Wie lang wird diese Geschichte mit Demeter währen? dachte er. Wird sie zu Ende sein, wenn der Herbst da ist, oder wird sie am Ende so lange oder länger dauern, als meine mit Anna? Wird diese Fahrt auf dem dunkeln See auch einmal eine Erinnerung an vollkommen Entschwundenes sein, so wie die Fahrt auf dem Veldeser See mit dem Bauernmädel, die mir jetzt seit Jahren zum erstenmal wieder einfällt… wie die Reise mit Grace übers Meer? Wie seltsam. Anna hält meine Hand, ich drücke sie, und wer weiß, ob sie nicht in diesem Augenblick ganz ähnliches in Hinsicht auf Demeter empfindet, wie ich in Hinsicht auf Therese? Nein, doch nicht… sie trägt ein Kind unter ihrem Herzen, das sich sogar schon regt… Deswegen… ach Gott… Auch mein

 Kind ist es ja… Nun fährt unser Kind auf dem See von Lugano spazieren… Werd ich es ihm einmal erzählen, daß es vor seiner Geburt auf dem See von Lugano herumgefahren ist… ? Wie wird das alles nun werden? In wenigen Tagen ist man wieder in Wien. Existiert denn dieses Wien überhaupt? Es ersteht erst langsam wieder, während wir zurückfahren… Ja, so ist es… Sobald ich zu Hause bin, wird ernstlich gearbeitet. Ich werde ruhig in meiner Wiener Wohnung bleiben und Anna immer nur besuchen; nicht mit ihr auf dem Lande wohnen höchstens in den allerletzten Tagen… Und im Herbst ich in Detmold? Und wo wird Anna sein? Und das Kind? Bei fremden Menschen irgendwo auf dem Land?… Wie unwahrscheinlich ist das alles… Aber es war auch heute vor einem Jahr sehr unwahrscheinlich, daß ich mit Fräulein Anna Rosner, und Stanzides mit Fräulein Therese Golowski auf dem See von Lugano spazieren fahren würde… und jetzt ist es die selbstverständlichste Sache von der Welt. – Mit einem Male hörte er neben sich, überdeutlich, als wenn er eben erwachte, Demeters Stimme. »Wann geht unser Schiff morgen ab?«

»Um neun Uhr früh«, erwiderte Therese.

»Sie ist nämlich der Reisemarschall«, sagte Demeter, »ich brauche mich um gar nichts zu kümmern.«

Nun stand mit einemmal der Mond über dem See.

Es war, wie wenn er hinter den Bergen gewartet hätte und nun zum Abschied aufgestiegen käme. Ganz weiß und nahe lag plötzlich jenes unendlich ferne Dorf an der Berglehne. Der Kahn legte an. Therese erhob sich und sah, von der Nacht umgeben, auffallend groß aus. Georg sprang aus dem Kahn und half ihr beim Aussteigen. Er spürte ihre kühlen Finger, die nicht zitterten, sondern sich wie mit Absicht leise bewegten, in seiner Hand und fühlte den Hauch ihrer Lippen nah. Nach ihr stieg Demeter aus, dann kam Anna, schwerfällig und müd. Die Schiffer dankten für das reichliche Trinkgeld, und die beiden Paare spazierten heimwärts. Auf einer Bank in der Uferallee, in einem langen, dunkeln Mantel saß der Prinz, rauchte eine Zigarre, schien auf den nächtlichen See hinauszusehen und wandte den Kopf, offenbar um nicht gegrüßt zu werden.

»So einer könnte einem manches erzählen«, sagte Therese zu Georg, mit dem sie immer weiter zurückblieb, während Demeter und Anna vor ihnen gingen.

»So bald also fahren Sie schon nach Wien?« fragte Georg.

»In vierzehn Tagen, finden Sie das so bald? Jedenfalls werden Sie vor uns daheim sein, nicht?«

»Ja, in ein paar Tagen reisen wir. Es läßt sich nicht länger verschieben. Auch werden wir einigemale unterbrechen müssen. Anna verträgt das Fahren nicht gut.«

»Wissen Sie denn schon, daß ich noch gerade vor meiner Abreise die Villa für Anna gefunden habe?« sagte Therese.

»Wirklich? Sie? Haben Sie denn auch gesucht?«

»Ja, ich hab meine Mutter ein paarmal aufs Land begleitet. Es ist ein kleines, ziemlich altes Haus in Salmansdorf, mit einem schönen Garten, der direkt auf Wiese und Wald hinausführt, und der Vorgarten ist ganz verwachsen… Anna wird Ihnen schon mehr erzählen. Ich glaub, es ist das letzte Haus im Ort, dann kommt noch ein Gasthof, aber ziemlich weit davon.«

»Sollt ich dieses Haus auf meinen Entdeckungsreisen im Frühjahr übersehen haben?«

»Offenbar, sonst hätten Sie es gemietet. Auf einem Rasenplatz, nah am Gartenzaun, steht eine kleine Figur aus Ton.«

»Kann mich nicht erinnern. Aber wissen Sie, Therese, es ist wirklich nett, daß Sie sich auch für uns bemüht haben. Mehr als nett.« ›Bei Ihrer aufreibenden Tätigkeit‹, wollte er hinzusetzen, unterdrückte es aber.

»Warum wundern Sie sich«, fragte Therese. »Ich habe Anna sehr gern.«

»Wissen Sie, was ich einmal über Sie habe sagen hören?« bemerkte Georg nach einer kleinen Pause.

»Nun, was?«

»Daß Sie entweder auf dem Schafott enden werden, oder als Prinzessin.«

»Das ist ein Ausspruch vom Doktor Berthold Stauber, er hat es mir selbst auch einmal gesagt. Er ist sehr stolz darauf, aber es ist doch ein Unsinn.«

»Jetzt stehen die Chancen allerdings mehr auf der Prinzessinnenseite.«

»Wer sagt Ihnen das? Der Prinzessinnentraum ist bald zu Ende.«

»Traum?«

»Ja, ich fange sogar schon an zu erwachen. Es ist ungefähr, wie wenn Morgenluft ins Schlafzimmer hereinwehte.«

»Und dann fängt wohl der andere Traum an?«

»Wieso der andre Traum?«

»Ich stell mir das so bei Ihnen vor. Wenn Sie wieder in der Öffentlichkeit stehen, Reden halten, sich für irgendeine Sache opfern, dann kommt Ihnen in irgendeinem Moment wieder das wie ein Traum vor, nicht? Und Sie denken, das wahre Leben, das ist wo anders.«

»Das ist nicht einmal so dumm, was Sie da sagen.«

In diesem Augenblick wandten sich Demeter und Anna, die schon am Gartentor standen, nach den beiden um, und nahmen gleich die breite Allee zum Eingang des Hotels. Auch Georg und Therese gingen weiter, ungesehen, außerhalb des Gitters, im finstersten Schlagschatten. Plötzlich ergriff Georg die Hand seiner Begleiterin. Diese wandte, wie erstaunt, sich zu ihm, und beide standen sich nun gegenüber, von Dunkel umhüllt und näher als sie verstehen konnten. Sie wußten nicht wie… sie wollten es kaum, und ihre Lippen ruhten aufeinander, einen kurzen Augenblick, der mehr erfüllt war von der wehen Lust der Lüge als von irgend einer andern. Dann gingen sie weiter, schweigend, unbeglückt, verlangend, und durchschritten das Gartentor.

Die beiden andern vor dem Hotel wandten sich jetzt um und gingen ihnen entgegen. Rasch sagte Therese zu Georg: »Selbstverständlich fahren Sie nicht mit uns.« Georg nickte leicht. Nun standen alle in der breiten, ruhigen Helle der Bogenlampen.

»Es war ein wunderschöner Abend«, sagte Demeter und küßte Anna die Hand.

»Also auf Wiedersehen in Wien«, sagte Therese und umarmte Anna.

Demeter wandte sich zu Georg. »Ich hoffe, wir sehen uns morgen früh auf dem Schiff.«

»Es wäre möglich, aber ich will nichts versprechen.«

»Adieu«, sagte Therese und reichte Georg die Hand.

Dann wandte sie sich mit Demeter zum Gehen.

»Wirst du mit ihnen fahren?« fragte Anna, während sie durchs Tor in die Halle gingen, wo Herren und Damen saßen, rauchten, tranken, plauderten.

»Was fällt dir ein«, erwiderte Georg, »ich denke nicht dran.«

»Herr Baron«, rief plötzlich jemand hinter ihm. Es war der Portier, der ein Telegramm in der Hand hielt.

»Was ist denn das?« fragte Georg etwas erschrocken und öffnete rasch. »O«, rief er aus, »wie entsetzlich.«

»Was ist denn?« fragte Anna.

Er las ihr vor, während sie in das Blatt schaute. »Oskar Ehrenberg hat heute früh im Wald bei Neuhaus einen Selbstmordversuch verübt. Schuß in die Schläfe, wenig Hoffnung, sein Leben zu erhalten. Heinrich.« Anna schüttelte den Kopf. Schweigend gingen sie die Treppen hinauf und ins Zimmer, das Anna bewohnte. Die Balkontür war weit geöffnet. Georg trat ins Freie. Aus der Dunkelheit heraus drang ein schwerer Duft von Magnolien und Rosen. Vom See war nichts zu sehen. Wie aus einem Abgrund gewachsen ragten die Berge. Anna trat zu Georg. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und liebte sie sehr. Es war, wie wenn das ernste Geschehnis, von dem er eben Kunde erhalten, seinen eigenen Erlebnissen das Gefühl ihrer wahren Bedeutung aufgezwungen hätte. Er wußte wieder, daß es nichts Wichtigeres für ihn auf der Welt gab, als das Wohl dieser geliebten Frau, die mit ihm auf dem Balkon stand und ihm ein Kind gebären sollte.

Kapitel 6

Als Georg aus dem kühlen Stadtrestaurant, in dem er seit einigen Wochen mittags zu speisen pflegte, auf das sommerheiße Pflaster trat und den Weg nach Heinrichs Wohnung einschlug, war sein Entschluß gefaßt, die Reise ins Gebirge schon in den nächsten Tagen anzutreten. Anna war ja darauf vorbereitet, hatte ihm sogar selbst zugeredet, auf ein paar Tage wegzufahren, seit sie fühlte, daß die eintönige Lebensweise der letzten Zeit ihm Langeweile und innere Unruhe zu verursachen begann.

Vor sechs Wochen, an einem lauen Regenabend, waren sie nach Wien zurückgekehrt, und Georg hatte Anna geradenwegs von der Bahn in die Villa gebracht, wo in einem großen, aber ziemlich leeren Zimmer mit schadhaften, gelblichen Tapeten, beim trüben Schein einer Hängelampe, Annas Mutter und Frau Golowski die Verspäteten seit zwei Stunden erwarteten. Die Tür auf der Gartenveranda stand offen, draußen fiel der Regen klatschend auf den Holzboden, und der laue Duft befeuchteter Blätter und Gräser zog herein. Beim Schein einer Kerze, die Frau Golowski vorantrug, besichtigte Georg die Räumlichkeiten des Hauses, während Anna abgespannt in der Ecke des großen mit geblümtem Kattun überzogenen Sofas lehnte und auf die Fragen der Mutter nur müde zu antworten vermochte. Bald hatte Georg von Anna gerührt und erleichtert Abschied genommen, war mit ihrer Mutter in den Wagen gestiegen, der draußen wartete, und während sie über aufgeweichte Straßen in die Stadt fuhren, hatte er der befangenen Frau mit gekünstelter Beflissenheit die gleichgültigen Erlebnisse der letzten Reisetage berichtet. Eine Stunde nach Mitternacht war er zu Hause, verzichtete darauf, Felician zu wecken, der schon schlief, und streckte sich im langentbehrten eignen Bett mit ungeahnter Wonne nach so vielen Nächten zum ersten Heimatschlummer aus.

Seither war er beinahe jeden Tag zu Anna aufs Land hinaus gefahren. Wenn es ihn nicht zu kleinen Umwegen über die Sommerfrischen der Umgebung lockte, konnte er zu Rad leicht in einer Stunde bei ihr sein. Öfters aber nahm er die Pferdebahn und spazierte dann durch die kleinen Ortschaften bis zu dem niedern, grün gestrichenen Staketzaun, hinter dem, im schmalen, leicht ansteigenden Garten das bescheidene Landhaus mit dem dreieckigen Holzgiebel stand. Nicht selten wählte er einen Weg, der sich oberhalb des Dorfes zwischen Gärten und Wiesen hinzog, und stieg dann gerne den grünen Hang aufwärts, bis zu einer Bank am Waldesrand, von wo der Blick auf die kleine, im schmalen Talgrund länglich hingebreitete Ortschaft freilag. Er sah von hier gerade auf das Dach, unter dem Anna wohnte, ließ seine milde Sehnsucht nach der Geliebten, der er so nahe war, mit Willen allmählich lebhafter werden, bis er hinabeilte, die kleine Türe aufschloß und über den Kies mitten durch den Garten zum Haus hinunterschritt. Oft, in schwüleren Nachmittagsstunden, wenn Anna noch schlief, setzte er sich in der gedeckten Holzveranda, die längs der Rückseite des Hauses hinlief, auf einen bequemen, mit geblümtem Kattun überzogenen Lehnstuhl, nahm ein mitgenommenes Buch aus der Tasche und las. Dann, in einfach-sauberm, dunkeln Kleid, trat aus dem dämmrigen Innenraum Frau Golowski und stattete mit leiser, etwas wehmütiger Stimme, einen Zug mütterlicher Güte um den Mund, von Annas Befinden Bericht ab, insbesondere, ob sie mit Appetit gegessen hatte und ob sie fleißig im Garten auf und ab gegangen war. Wenn sie geendet, hatte sie immer in Küche oder Haus etwas Notwendiges zu besorgen und verschwand. Dann, während Georg weiterlas, kam wohl auch eine trächtige Bernhardinerhündin herbei, die Leuten in der Nachbarschaft gehörte, begrüßte Georg mit tränenvoll-ernsten Augen, ließ sich von ihm das kurzhaarige Fell streicheln und streckte sich dankbar zu seinen Füßen hin. Später, wenn ein gewisser, strenger, dem Tiere wohlbekannter Pfiff ertönte, erhob es sich, mit der Schwerfälligkeit seines Zustands, schien sich durch einen schwermütigen Blick zu entschuldigen, daß es nicht länger bleiben durfte, und schlich davon. Im Garten daneben lachten und lärmten Kinder, ein und das andermal hüpfte ein Gummiball herüber, an der niedern Hecke erschien ein blasses Kindermädchen und bat schüchtern, man möge ihn wieder zurückschleudern. Endlich, wenn es kühler wurde, zeigte sich am Fenster, das auf die Veranda ging, Annas Antlitz, ihre stillen, blauen Augen grüßten Georg, und bald, in leichtem, hellen Hauskleid, trat sie selbst heraus. Nun spazierten sie im Garten auf und ab längs der abgeblühten Fliederbüsche und treibender Johannisbeerstauden, meist auf der linken Seite, an die die freie Wiese grenzte, und ruhten sich auf der weißen Bank nah dem obern Gartenende unter dem Birnbaum aus. Erst wenn das Abendessen aufgetragen wurde, erschien Frau Golowski wieder, nahm bescheiden ihren Platz am Tische ein und erzählte auf Befragen allerlei von den Ihrigen; von Therese, die nun in die Redaktion eines sozialistischen Blattes eingetreten war, von Leo, der dienstlich jetzt weniger beschäftigt als früher, mathematischen Studien emsig oblag und von ihrem Gatten, dem sich, während er in einer rauchigen Kaffeehausecke den Schachkämpfen unermüdlicher Spieler mit Hingebung zuschaute, immer neue Hoffnungen regelmäßigen Erwerbs eröffneten und gleich wieder verschlossen. Nur selten kam Frau Rosner zu Besuch und entfernte sich meist bald nach Georgs Erscheinen. Einmal an einem Sonntagnachmittag war auch der Vater hier gewesen und hatte mit Georg eine Unterhaltung über Wetter und Landschaft geführt, als wäre man einander zufällig bei einer leidenden Bekannten begegnet. Nur den Eltern zulieb hielt sich Anna in der Villa völlig zurückgezogen. Denn sie selbst, zu völliger Unbefangenheit gereift, fühlte sich nicht anders, als wäre sie Georgs angetraute Gattin, und als jener kürzlich, der eintönigen Abende müde, um Erlaubnis gebeten, gelegentlich Heinrich mit herauszubringen, hatte sie sich zu Georgs angenehmer Überraschung ohne weiteres damit einverstanden erklärt.

Heinrich war der einzige von Georgs nähern Bekannten, der sich in diesen drückenden Julitagen noch in der Stadt aufhielt. Felician, der sich nach des Bruders Heimkehr, wie in neuerwachter Jugendfreundschaft, ihm angeschlossen hatte, weilte nach bestandener Diplomatenprüfung mit Ralph Skelton an der Nordsee. Else Ehrenberg, die Georg bald nach seiner Rückkunft im Sanatorium am Krankenbett ihres Bruders einmal gesprochen hatte, war mit ihrer Mutter längst wieder im Auhof am See. Auch Oskar, den sein unglücklicher Selbstmordversuch das rechte Auge gekostet, aber, wie es hieß, die Leutnantscharge gerettet hatte, war von Wien abgereist, die schwarze Binde über dem erblindeten Auge. Demeter Stanzides, Willy Eißler, Guido Schönstein, Breitner, alle waren sie fort, und sogar Nürnberger, der so feierlich erklärt hatte, auch dieses Jahr die Stadt nicht verlassen zu wollen, war mit einemmal verschwunden.

Ihn hatte Georg nach seiner Rückkehr vor allen andern besucht, um ihm Blumen vom Grab der Schwester aus Cadenabbia zu überbringen. Auf der Reise hatte er endlich den Roman Nürnbergers gelesen, der in einer nun halbvergangenen Zeit spielte, derselben, wie es Georg schien, von der der alte Doktor Stauber einmal zu ihm gesprochen hatte. Über jener lügendumpfen Welt, in der erwachsene Menschen für reif, altgewordene für erfahren und Leute, die sich gegen kein geschriebenes Gesetz vergingen, als rechtlich; in der Freiheitsliebe, Humanität und Patriotismus schlechtweg als Tugenden galten, auch wenn sie dem faulen Boden der Gedankenlosigkeit oder der Feigheit entsproßt waren, hatte Nürnberger grimmige Leuchten angezündet; und zum Helden seines Buches hatte er einen tätigen und braven Mann gewählt, der, von den wohlfeilen Phrasen der Epoche emporgetragen, auf der Höhe Überblick und Einsicht gewann und in der Erkenntnis seines schwindelnden Aufstiegs von Grauen erfaßt, in das Leere hinabstürzte, aus dem er gekommen war. Daß einer, der dies starke und rings widerhallende Werk geschaffen, später nur mehr wie in lässig höhnischen Randbemerkungen zum Gang der Zeit sich hatte vernehmen lassen, wunderte Georg sehr, und erst ein Wort Heinrichs: daß wohl dem Zorne, nicht aber dem Ekel Fruchtbarkeit beschieden sei, ließ ihn verstehen, warum Nürnbergers Werk für immer abgeschlossen war. – Die einsame dunkelblaue Spätnachmittagsstunde auf dem Friedhof von Cadenabbia hatte sich Georg so seltsam tief eingeprägt, als wäre ihm das Wesen, an dessen Grab er gestanden, bekannt, ja wert gewesen. Es hatte ihn ergriffen, daß die goldenen Buchstaben auf dem grauen Stein matt geworden und die Beete im Rasen von Unkraut durchwuchert waren, und nachdem er ein paar gelbblaue Stiefmütterchen für den Freund gepflückt hatte, war er mit bewegtem Herzen geschieden. Jenseits des Friedhoftors warf er einen Blick durch das offene Fenster der Totenkammer und sah im Dämmer, zwischen hohen, brennenden Kerzen, von schwarzem Tuch bis über die Lippen bedeckt, eine Frauensperson aufgebahrt, über deren schmalem Wachsgesicht die Lichter der Kerzen und des Tags ineinanderrannen.

Nürnberger war von der teilnehmenden Aufmerksamkeit Georgs nicht ungerührt geblieben, und sie sprachen an diesem Tage vertrauter miteinander als je zuvor.

Das Haus, in dem Nürnberger lebte, stand in einer engen, düstern Gasse, die aus der innern Stadt treppenweise gegen die Donau zu führte; war uralt, schmal und hoch. Die Wohnung Nürnbergers befand sich im obersten, fünften Stockwerk, wohin man über eine vielfach gewundene Treppe gelangte. In dem niedrigen, aber geräumigen Zimmer, in das Georg aus einem dunkeln Vorraum trat, standen alte, aber wohlgehaltene Möbel, und aus dem Alkoven in der Tiefe, vor dem ein mattgrüner Vorhang herabgelassen war, drang ein Duft von Kampfer und Lavendel. Jugendbildnisse von Nürnbergers Eltern hingen an der Wand und bräunliche Stiche von Landschaften nach holländischen Meistern. Auf der Kommode in holzgeschnitzten Rahmen standen allerlei alte Photographien, und aus einer Schreibtischlade, unter vergilbten Briefen suchte Nürnberger ein Bildnis der verstorbenen Schwester hervor, das sie als achtzehnjähriges Mädchen zeigte, in einer wie historisch anmutenden Kindertracht, einen Ball in der Hand, vor einem Zaune stehend, hinter dem eine Felsenlandschaft sich türmte. All diese Unbekannten, Entfernte und Verstorbene, stellte Nürnberger dem Freunde heute im Bilde vor und sprach von ihnen in einem Tone, der den Zeitraum zwischen einst und jetzt zu verbreitern und vertiefen schien.

Georgs Blick schweifte manchmal hinaus über die enge Gasse zu dem grauen Mauerwerk uralter Häuser. Er sah schmale, verstaubte Scheiben mit allerlei Hausrat dahinter; auf einem Fensterbrett standen Blumentöpfe mit ärmlichen Pflanzen, zwischen zwei Häusern in einer Rinne lagen Flaschenscherben, zerbrochene Tongefäße, Papierfetzen, vermodertes Pflanzenwerk. Ein verwittertes Rohr lief zwischen all dem Zeug hin und verlor sich hinter einem Rauchfang. Andere Rauchfänge zeigten sich links und rechts, die Rückseite eines gelblichen Steingiebels war sichtbar, zum blaßblauen Himmel ragten Türme auf, und unerwartet nah, in lichtem Grau, mit durchbrochener Steinkuppel erschien einer, der Georg wohlbekannt war. Unwillkürlich suchte sein Blick die Richtung, wo er das Haus vermuten durfte, an dessen Eingang die zwei steinernen Riesen auf gewaltigen Armen das Adelswappen eines versunkenen Geschlechts trugen, und in dem sein Kind gezeugt worden war, das in wenig Wochen zur Welt kommen sollte.

Georg erzählte von seiner Reise, und in der Stimmung dieser Stunde wäre er sich kleinlich erschienen, wenn er es bei halben Wahrheiten hätte bewenden lassen. Nürnberger aber hatte auch die ganze längst gewußt, und als Georg sich darüber ein wenig erstaunt zeigte, lächelte er spöttisch. »Erinnern Sie sich nicht mehr«, fragte er, »jenes Vormittags, an dem wir uns in Grinzing eine Sommerwohnung angesehen haben?«

»Gewiß.«

»Und erinnern Sie sich auch, daß uns in Garten und Haus eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm herumgeführt hat?«

»Ja.«

»Bevor wir weggingen, hat das Kind die Arme nach Ihnen ausgestreckt, und Sie haben es mit einem ziemlich gerührten Blick betrachtet.«

»Und daraus haben Sie geschlossen, daß ich… «

»Ach, Sie sind nicht der Mensch, über den Anblick kleiner und überdies etwas ungewaschener Kinder in Rührung zu geraten, wenn sich nicht Ideenverbindungen persönlicher Art daran knüpfen.«

»Vor Ihnen muß man sich in acht nehmen«, sagte Georg scherzend, aber nicht ohne einiges Unbehagen.

Die leichte Gereiztheit, die er Nürnbergers Überlegenheit gegenüber immer wieder empfand, hielt ihn durchaus nicht ab, den Verkehr mit ihm weiter zu pflegen. Manchmal holte er ihn vom Hause ab, um mit ihm in Straßen und Gärten umher zu spazieren, und wie eine Genugtuung, ja wie einen persönlichen Sieg empfand er es, wenn es ihm gelang, ihn aus den luftdünnen Regionen bittrer Weisheit in die sanftern Gefilde herzlicher Unterhaltung hinabzuziehen. Die Spaziergänge mit ihm waren Georg zu einer so angenehmen Gewohnheit geworden, daß er es wie eine Verarmung seiner Tage empfand, als er eines Morgens die Wohnung Nürnbergers verschlossen fand. Tags darauf kam eine entschuldigende Abschiedskarte aus Salzburg, von einem Ehepaar mit unterzeichnet, einem Fabrikanten und dessen Frau, liebenswürdigen, heiteren Leuten, die Georg einmal durch Nürnberger flüchtig auf dem Graben kennen gelernt hatte. Nach Heinrichs boshafter Darstellung war der gemeinsame Freund von diesem Ehepaar, nach verzweifelter Gegenwehr natürlich, die Stiege hinuntergeschleppt, in einen Wagen gesetzt und gewissermaßen als Gefangener auf die Bahn transportiert worden. Wie Heinrich behauptete, hatte Nürnberger einige Bekannte dieser harmlosen Art, die das Bedürfnis empfanden, sich von dem berühmten Spötter in den wohlschmeckenden Trank des Daseins einige Tropfen Bosheit träufeln zu lassen, so wie Nürnberger seinerseits sich in ihrer bequemen Gesellschaft von den anstrengenden Bekannten aus Literaten- und Psychologenkreisen zu erholen liebte.

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Data wydania na Litres:
30 listopada 2019
Objętość:
470 str. 1 ilustracja
Właściciel praw:
Public Domain

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