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Czytaj książkę: «Wie Satan starb », strona 13

Czcionka:

XVIII

Der alte Oberpedell Hoffmann war seit Jahren pensionsberechtigt. Aber eine innere Stimme sagte ihm, daß mit dem Aufhören der Arbeit und der damit verbundenen Abhaltungen und Zerstreuungen die Müdigkeit, mit der er sich jetzt alle Abende ins Bett legte, aufhören und daß er, statt zu schlafen, mit offenen Augen daliegen und die Nächte durch an seine Frau und an seine Aenne denken würde. Und das war es, was er seit Jahren fürchtete – diese Gedanken.

Fing er erst an, zu denken und sich Rechenschaft zu geben, das empfand er deutlich fast an jedem freien Sonntag, dann erkannte er seine Fehler und machte sich Vorwürfe. Infolgedessen beschränkte er sich nicht auf seine amtliche Tätigkeit, sondern half an freien Nachmittagen in Krankenhäusern und Lazaretten. Verkehr vermied er, las eine Zeitung und trieb für sich Politik. So, wie mittelkluge, ungebildete Leute Politik zu treiben pflegen. Eingeschworen auf das Programm seines Blattes ließ er eine andere politische Ueberzeugung nicht gelten, und empfand sie als Ausdruck eines schlechten Charakters. Genau, wie er in seiner Ehe an seinem engherzigen Philisterstandpunkt festgehalten hatte; unbekümmert um die Folgen, die er nun täglich mehr beklagte.

Peter sprach auf dem Wege zum Oberpedell kein Wort. Liebe Erinnerungen stiegen in ihm auf. Es war ein Glück gewesen, dessen er sich wohl nie so recht bewußt geworden war. Alles das hatte er damals wie etwas Selbstverständliches hingenommen. Nun aber fühlte er, daß es etwas Besonderes gewesen war, etwas, was nie wiederkehren würde. Starke Sehnsucht ließ ihn Vergangenes erleben, als läge nur das Dunkel einer Nacht darüber. Und er konnte, als er jetzt vor der Wohnung des Pedells anlangte, nicht fassen, daß nun alles dahin war, dahin für immer.

»Ob ich nicht vorausgehe und die Leute auf deinen Besuch vorbereite?« fragte Lux.

»Nein,« erwiderte Peter. »Ich will grade, daß sie unvorbereitet sind.«

»Sie werden nicht grade freudig überrascht sein.«

»Ich habe ihren Haß verdient.«

»Der Mann ist jähzornig. Wenn er sich an dir vergreift; dich gar über den Haufen schießt.«

»So wird man in Anbetracht der Motive nicht gar zu streng mit ihm ins Gericht gehen.«

»Und du? An dich denkst du nicht?«

»Sagte ich dir nicht schon, daß ich mich schuldig fühle?«

»Aber doch nicht auf die Art!« erwiderte Lux.

»Wer kann besser als er ermessen, was ich angerichtet habe? Etwa ein wildfremder Richter, der Aenne niemals gesehen hat und aus den Erzählungen Zobels und Molls ein ganz falsches Bild von ihr bekommt?«

»Du willst damit doch nicht etwa das System der Selbsthilfe verteidigen?«

»Nein! Wenigstens nicht im allgemeinen. In diesem Falle aber«, sagte er überzeugt, »wäre sie am Platze.«

Sie standen vor der Hoffmannschen Wohnung. Peter zog an der Glocke und fühlte, wie es ihm einen Stich ins Herz gab.

Ein nicht grade sauberes Dienstmädchen öffnete.

»Guten Tag!« sagte Peter. »Ist der Oberpedell zu Hause?«

»Ja.« – Sie öffnete eine zweite Tür und ließ sie eintreten.

Oberpedell Hoffmann kehrte ihnen den Rücken. Er stand vor einem großen Tisch mit unzähligen Tintenfässern, die er der Reihe nach mit Tinte füllte. Ohne sich umzudrehen, fragte er, die große Flasche in der Hand:

»Wer ist da?«

»Zwei Herren.«

»So . . .?« sagte Hoffmann und wandte den Kopf.

»Ich bin’s,« sagte Peter.

Ein Ruck ging durch den Alten. Er schob die Flasche, die ihm beinahe aus der Hand gefallen wäre, in den Arm, sah Peter an und sagte:

»Sie?«

So standen sie sich eine Zeitlang gegenüber. Nach einer Weile fragte Hoffmann, dem man die tiefe, innere Bewegung anmerkte:

»Und warum . . . warum . . . Herr Regierungsassessor . . . sind Sie . . . gekommen?«

Peter trat auf ihn zu. Er senkte den Kopf und sagte:

»Aennes wegen.«

»Ich will Ihnen erzählen!« erwiderte Hoffmann. Peter nickte. – Hoffmann wies auf ein paar Stühle.

Peter und Lux setzten sich. Und nun begann Hoffmann, an den Tisch gelehnt, und erzählte:

»Daß Aenne an Ihnen hing, wußte ich. Ich sah darin nicht ihr Glück und glaubte nie an eine Verbindung. Aber ich vertraute ihr. Für meine Aenne, da legte ich meine Hände ins Feuer. Als Sie nach Südwest gingen, da hoffte ich, mein Kind würde Sie vergessen. Um das zu beschleunigen, betrieb ich ihre Ehe mit dem Pedell Linke, einem braven Menschen, den sie, bevor sie Sie kennen lernte, auch immer gut leiden mochte. Aber Aenne wollte nicht. Ich quälte sie nicht weiter und dachte, man muß Geduld haben, die Zeit wird es machen. Da kamen eines Tages Baron Zobel und dieser Landrat zu meiner Frau, beschimpften und erniedrigten sie, weil sie« – er senkte den Kopf und schloß die Augen – »um den Verkehr meiner Aenne mit Ihnen wußte.«

Peter hielt sich nur mühsam aufrecht. Er litt. Wenn der Pedell doch über ihn herfiele, ihm an den Hals ginge, ihn zu Boden risse. Aber Hoffmann hob den Kopf, öffnete die Augen und fuhr fort:

»Ich war im Nebenzimmer, hörte alles mit an, sah meine Frau bleich werden, stürzte auf den Verleumder zu, packte und schüttelte ihn und forderte ihn auf, zu widerrufen. – Er aber lachte höhnisch – und bewies, was er behauptet hatte.«

»Schlagen Sie mich tot!« wollte Peter rufen und sich ihm vor die Füße stürzen. Aber er war keiner Bewegung fähig und brachte kein Wort heraus.

»Die natürliche Folge,« fuhr Hoffmann fort, »oder die unnatürliche« verbesserte er und zog die breiten Schultern in die Höhe – »jedenfalls, mir erschien sie damals natürlich – ich hatte ja noch nichts durchgemacht – war, daß ich mein Haus rein hielt – so sagte ich damals – heute denke ich anders darüber – und Aenne davonjagte.«

Peters Kopf schoß blitzartig in die Höhe.

»Hören Sie nur weiter!« sagte der Alte. »Das ist noch nicht alles. – Meine Frau verteidigte Aenne – und da sie zu ihr hielt, also gegen mich war, so —«

»Nicht möglich!« fuhr Peter auf.

»Doch! Meine Frau ging mit ihr. – Ich war allein. – Meine Frau ertrug’s nicht. Sie wurde krank. Aenne kam und sagte, die Mutter sterbe vor Sehnsucht. Ich verschwieg ihr, wie sehr auch ich litt. Bei dem Gedanken, Frau und Kind wieder zu bekommen, lebte ich auf. Aber Aenne hielt auch jetzt noch, trotz aller bösen Erfahrungen und Nachstellungen seitens Ihrer Familie, an Ihnen fest. Sie glaubte noch immer an Sie, die Aermste. Und wie heute steht der Tag vor mir, an dem sie mir meine Frau ins Haus zurückbrachte.«

Der alte Hoffmann, dem man ansah, wie er die Zeit noch einmal durchlebte, trat ans Fenster und fuhr fort:

»Als der Wagen, in dem sie und Aenne saßen, dort um die Ecke bog, streckte sie den Kopf vor und ich sah, wie sie Aennes Hand drückte und auf das Haus wies. Vor der Tür stand Linke. Und als der Wagen hielt und Linke eben den Schlag öffnete, kam auch ich.

›Da seid ihr ja!‹ sagte ich laut und gab ihr die Hand.

Meine Frau nickte nur immer und sagte: ›Ja!‹ Und als ich sie auf dem Arm hatte und ins Haus trug, da nickte sie noch immer und ließ keinen Blick von Aenne, bis auch sie im Hause war und Linke hinter ihr die Tür schloß; da war wieder der leichte Glanz in ihren Augen, und sie sagte zu Aenne:

›Na, siehst du!‹

Und Aenne nickte ihr zu und erwiderte: ›Gewiß, Mutter!‹

Oben setzte ich sie dort auf den alten grünen Sessel, nahm den Plaid, der auf dem Sofa lag, und deckte sie zu. Dann stellte ich mich vor sie hin, sah sie lange an und sagte:

›Na, Mutter?‹

Sie rekelte sich vor Behagen, wieder daheim zu sein.

›Gut! gut!‹ erwiderte sie breit und holte tief Atem. ›Nun ist alles gut.‹ Und sie umfaßte mit ihren Blicken das ganze Zimmer und begrüßte mit leichtem Lächeln jedes Stück Möbel wie einen alten Bekannten.

›Als wenn man nie weggewesen wäre!‹ sagte sie.

Auf dem Tische standen zwei Sträuße mit allen möglichen Blumen.

Als ich sah, daß Aenne sie bemerkte, wies ich auf Linke und sagte:

›Von ihm!‹

›Ah!‹ sagte meine Frau.

Aenne nahm einen Strauß aus der Vase, reichte ihn der Mutter. Sie zog die Hände unter dem Plaid hervor und beugte sich über die Blumen:

›Schön!‹ sagte sie und nickte Linke zu.

Ich sah Aenne an und wies auf den Tisch:

›Und der andre, Aenne, der ist für dich!‹

Aenne reichte Linke die Hand und sagte:

›Schönen Dank! Ich freue mich sehr!‹

Linke errötete.

›Das soll nur so ein Willkommengruß sein!« sagte er.

›Na, na!‹ rief ich. ›N’ bißchen mehr haben Sie sich wohl doch dabei gedacht!‹

Linke sah, wie Aenne erschrak – und sah zur Erde.

›Aber nein!‹ sagte er ganz verlegen.

›I was!‹ rief ich, ›ich liebe klare Verhältnisse! Das ist die Hauptsache unter Menschen, die zusammen leben und zusammen bleiben! – Was, Mutter?‹

Mutter sah ängstlich zu mir hinüber:

›Hoffentlich!‹ hauchte sie.

›Und darum sagt von heute ab jeder, was er auf dem Herzen hat – ob’s gefällt oder nicht.‹

Eine Pause entstand.

Aenne sah Linke an; nicht gerade feindlich; aber bestimmt und reserviert; und es gelang ihr, meinen Worten die Wirkung zu nehmen.

Denn Linke, der schon zu Aenne aufsah und eben reden wollte, stand unbeweglich und sprach kein Wort.

›Nun!‹ sagte ich und ermunterte ihn.

Mutter richtete sich auf und hob beide Arme:

›Last nur!‹ bat sie und zitterte am ganzen Körper. ›Das wird schon alles kommen – nicht wahr, Aenne?‹

›Gewiß!‹ sagte Aenne, und meine Frau meinte:

›Das braucht ja nicht gleich heut zu sein!‹

Ich sah erst Aenne, dann meine Frau an. Einen Augenblick schwieg ich, dann sagte ich plötzlich verändert:

›Ach so!‹

›Es wird . . . sich . . . ja . . . alles . . . finden!‹ flehte meine Frau. ›Nur nicht . . . gleich . . . heut. . . . Morgen . . oder in ein paar Tagen.‹

Ich ließ kein Auge von Aenne.

›Hat das eine Bewandtnis?« fragte ich – und ich fühlte, daß meine Stimme beinahe wieder wie damals klang, als sie von mir gingen.

›Was?‹ erwiderte Aenne.

›Daß du Hut und Mantel anbehältst!‹

Ich sah an den Augen meiner Frau, wie ihr Herz ging. In Todesangst saß sie auf ihrem Sessel. Ihr Blick hing an Aenne. Es war, als wenn sich ihre Lippen bewegten und ›Aenne!‹ flehten.

›Ich kann ja ablegen!‹ sagte Aenne und öffnete ihren Mantel.

›Du bleibst also nicht?‹ fragte ich.

›Das entscheidest du!‹ erwiderte sie.

›Laß sie bei mir!‹ flehte meine Frau.

Ich faßte mich an den Kopf und sagte: ›Ja, das klingt ja grade, als ob . . aber das ist ja nicht möglich! . . . Also so sag schon, was ist? Nicht wahr, du gehörst doch jetzt uns? Du bist doch nun eine andre?‹

›Ich bin dieselbe geblieben!‹ sagte sie ruhig und bestimmt.

›Das heißt . . . doch . . . nicht‹ – Ich quälte mich mit jedem Wort. ›Daß du noch immer . . . wie? . . . Ja, das ist doch nicht denkbar . . . Aenne! Daß du noch immer an diesen Reinhart denkst.‹ Ich suchte mich selber zu beruhigen. – ›Vielleicht, daß du innerlich noch nicht drüber weg bist,‹ sagte ich. ›Aber du bist doch ein anständiger Mensch! Wie?‹

›Das bin ich, Vater!‹

Meine Frau stand jetzt halb in ihrem Sessel.

›Er ist fort!‹ sagte sie, ›in Südwest! Wer weiß, wann er wiederkommt!‹

›Hier handelt es sich um was anderes, – um ein Prinzip – ob du einsiehst, darauf kommt es an, ob du das verstehst, daß davon nie die Rede sein kann, daß das etwas war, ja, wie drückte ich mich aus? – etwas Verkehrtes, etwas, was dich einfach hier heraushebt aus unserer Sauberkeit.‹

›Ich habe nicht das Gefühl, daß ich beschmutzt bin,‹ sagte sie.

›Soo!‹ rief ich. ›Na, dann freilich! Wenn du das Gefühl nicht hast! Ich hab’ es! Na, und schließlich – da ich dein Vater bin, da ist dir das vielleicht auch nicht ganz gleichgültig!‹

›Gewiß nicht!‹ erwiderte sie.

›Nun also!‹ sagte ich.

Ich hatte mich noch immer in der Gewalt. Ich hatte nie geglaubt, daß ich so viel Haltung aufbringen könnte.

›Nun reiß dich da raus!‹ sagte ich. ›Schon der Mutter wegen! Das sind schiefe Sachen. Die bringen kein Glück!‹

Meine Frau stand jetzt und hielt sich mit beiden Armen an den Lehnen des Sessels fest.

›Das mein ich auch!‹ sagte sie.

›Mutter!‹ rief Aenne.

›Ich weiß, mein Kind, ich weiß!‹ sagte sie, als wenn sie Aenne trösten wollte. ›Ich weiß alles, was du durchmachst!‹

›Ja . . . aber . . .‹

›Laß nur! laß nur!‹ wehrte meine Frau ängstlich. ›Ich will dir nicht weh tun! Du tust mir leid, ich will auch nichts gegen ihn sagen, obschon . . .‹

›Was?‹ fragte Aenne ängstlich.

›Obschon es nicht recht ist.‹

›Was ist nicht recht?‹ drängte Aenne meine Frau – und sie erwiderte zögernd:

›Laß nur! . . . Ich weiß doch, daß du Sorgen hast.«

›Dafür kann er doch nicht!‹ sagte Aenne.

›Doch!‹

Aenne und ich staunten, wie bestimmt sie das sagte.

›Ein Jahr Trennung,‹ sagte meine Frau, ›das ist für dich eine Ewigkeit! Freilich, für ihn, den hohen Herrn‹ – sie zog die Schultern in die Höhe, ›da ist’s nicht so schlimm. So oder so – in seiner Lage, da läßt sich’s ertragen.‹

›Ich hatte es ja so gewollt,‹ erwiderte Aenne.

Aber meine Frau ließ das nicht gelten.

›Wenn auch! Wenn auch!‹ sagte sie. ›Vorher, ehe er ging, da mußte er mit dem Vater sprechen. Siehst du, schon seinetwegen mußte er das! Seiner Ruhe wegen. Daß er das nicht tat, das war nicht recht – daß er ging, ohne daß er wußte, was aus dir wird.‹

›So bist du auch also gegen ihn?‹ fragte Aenne.

›Ich bin für dein Glück,‹ erwiderte meine Frau.

›Und du meinst, wenn er mit dem Vater gesprochen hätte . . .‹

›Laß mich aus dem Spiele!‹ rief ich wütend, ballte die Fäuste und hob die Arme und stand da, als wenn ich jemanden gepackt hätte und nun hin- und herschüttelte. – ›Wenn er’s gewagt hätte, mir unter die Augen zu treten, dieser Halunke . . .‹

Aenne schrie laut auf; ihr war, so schien es, als wenn ich ihr einen Schlag versetzte.

›. . ich habe mich in der Gewalt, aber ich glaube, wenn er hier vor mir stünde – und du daneben, ich brächte ihn um, den Schuft!‹

›Vater!‹ schrie Aenne, es schien, als erschrecke sie vor ihrer eigenen Stimme. ›Wenn er ein Schuft ist, was bin dann ich?‹ forderte sie mich heraus.

›Gibst du ihn auf?‹ fragte ich.

›Nein!‹ schrie Aenne, warf den Kopf zurück und sah mich an.

›Du bleibst bei ihm?‹

›Ja!‹

›Auch so . . . ohne Ehe . . . ganz gleich, als was?‹

›Ja!‹ gellte sie, ›tausendmal ja!‹

›Und fragst mich, was du bist?‹ Wir standen uns dicht gegenüber. ›Ich will es dir sagen, eine Hu . .‹

Ich weiß nicht, ob ich es aussprach, mit einem dumpfen Geräusch fiel neben uns etwas zu Boden. Ich wandte mich um, es war meine Frau.

Ohne daß wir es merkten, war sie, die sonst keinen Schritt allein tun konnte, an uns herangetreten. Aenne wurde es schwarz vor den Augen, sie sah nichts mehr.« —

Oberpedell Hoffmann, der die ganze Szene so bildhaft deutlich, als wäre sie gestern geschehen, wieder durchlebte, machte eine Pause. Dann fuhr er fort:

»Es lagen Stunden dazwischen, als Aenne auf einer Chaiselongue im Nebenzimmer erwachte. Ein Arzt, den ich hatte holen lassen, hielt ihre Hand und fühlte den Puls.

›Nehmen Sie einen Schluck Wasser!‹ sagte er und reichte ihr ein Glas.

Sie trank.

›Schonen Sie sich! Sie haben nicht viel zuzusetzen.‹ sagte der Arzt.

Er wies auf ein Rezept, das neben ihr auf dem Stuhl lag, nickte ihr zu und ging.

Ich hatte bisher vor der Tür gestanden; nun trat ich ins Zimmer.

›Sobald du dich kräftig genug fühlst« sagte ich, ›draußen steht ein Wagen! Linke fährt dich nach Hause!‹

›Danke!‹ sagte sie und mühte sich auf.

›Es bleibt also dabei?‹ fragte ich.

›Laß mir doch Zeit!‹ bat sie.

›Ich fürchte, du hast schon zu viel Zeit darauf verwendet,‹ erwiderte ich.

›Was ist denn?‹ fragte sie ängstlich und wußte noch immer nicht, was eigentlich geschehen war.

›Wenn du die Mutter noch einmal sehen willst . . .‹ sagte ich.

›Was?‹ stieß sie kurz hervor.

›Sie liegt drinnen.‹

Aenne sprang auf und stürzte ins Nebenzimmer.

›Sie weiß von nichts mehr,‹ sagte ich, als sie an mir vorbeischoß.

Ich folgte ihr. Leichenblaß, wie tot stand sie vor meiner toten Frau. Jetzt muß sie umfallen, dachte ich. Aber sie stand und starrte – und weinte nicht.

Ich weiß nicht, wie lange sie und ich so standen. Ich weiß auch nicht, was geschah. Ich spürte nur, irgend etwas ging in ihr vor – irgendeine Veränderung, ich spürte es deutlich. Denken konnte ich nichts. Mir war, als setzten die Funktionen meines Gehirns aus. Als stände es still.

Ich fühlte: es mußte etwas geschehen. Jetzt mußte ich sie bei den Händen nehmen. ›Aenne!‹ mußte ich sagen, ›arme Aenne!‹ – und auf die Mutter weisen. Da war ja, was und einte: die große Leere und der große Schmerz! Ein Wort, das ihr Herz traf, und ich hätte alles – auch Sie, Herr von Reinhart, von ihr fordern können.

Ich stand vor ihr, Tränen in den Augen und sagte mir: es muß etwas geschehen.

Aber was geschah? Ich nahm sie nicht bei den Händen. Ich sagte auch nicht: ›arme Aenne!‹ Ich wies auch nicht auf die Mutter. Kein Wort traf ihr Herz – und ich forderte nichts von ihr.

›Draußen steht dein Wagen!‹ sagte ich und erschrak vor mir selbst.

Aenne ging.

Da blieben mir die Tränen in den Augen stehen, als wenn sie zurücksuchten. Da stand auch mein Herz einen Augenblick still, da haßte ich mich – und stürzte hinaus. – Dann habe ich sie nie mehr gesehen.«

Oberpedell Hoffmann senkte den Kopf und schwieg.

»Und dann!« fragte Peter, ohne zu wissen, daß er den Mund auftat.

»Dann,« fuhr Hoffmann fort, »hörte ich nichts mehr von ihr. Ich weiß nur, daß man sie in den Tod getrieben hat.«

»Wer?« fragte Lux, mit tränenerstickter Stimme.

»Wer?« wiederholte Hoffmann mit einem schmerzvollen Blick auf Peter.

»Der Landrat!« rief Lux und sprang auf.

»Ich!« bekannte Peter, und Hoffmann schüttelte den Kopf und sagte:

»Nicht Sie! Ich allein bin schuld daran. – Nun, wo sie beide tot sind, nun erst weiß ich, was Liebe ist und daß ich ihnen beiden unrecht tat.«

Mehr noch als von der Erzählung war Peter von der Wandlung erschüttert, die sich in Hoffmann vollzogen hatte. Was war aus diesem harten, rauhen, abweisenden Menschen geworden! Hätte man es verstanden, rechtzeitig in ihm das Gefühl zu wecken, das, wie sich nun zeigte, auch in ihm schlummerte, viel Leid wäre allen erspart geblieben. – Allen? fragte er sich und dachte an die ganze leidende Menschheit. Und aus vollster Ueberzeugung gab er sich die Antwort: Allen! Man hätte nur, wie man Jahre hindurch den Neid, die Gier und den Haß geweckt, gepflegt und gesteigert hatte, so das Gefühl für die geplagte Menschheit zu wecken, zu pflegen und zu vertiefen brauchen.

Peter trat jetzt dicht an Hoffmann heran und sagte:

»Nicht nur Sie sind schuldig. Wir sind es sämtlich. Ich vor allem!«

»Das habe ich anfangs auch gedacht,« erwiderte Hoffmann. »Aber dann habe ich mir gesagt: Sie sind in den Kreisen aufgewachsen und kennen’s nun mal nicht anders. Und dann steht die Aenne mir als Tochter ja schließlich auch näher als sie Ihnen stand. Also hatte auch ich mehr als Sie die Pflicht, sie zu schonen und ihrem Gefühl Rechnung zu tragen. Genau wie meine Frau es getan hat.«

Peter staunte. Statt ihm und dem Schicksal zu grollen, machte dieser einsam-unglückliche Mann sich noch Vorwürfe. Dabei hatte er nur nach den verlogenen Grundsätzen einer gefühllosen Bourgeoisie gehandelt. Sein Haus hatte er rein halten wollen. Und dieser dummen und daher beliebten Phrase hatte er Frau, Kind und häusliches Glück geopfert. Nun, wo er seinen Irrtum erkannte, wandte er sich nicht gegen jene, die schuld an diesen starren Ehrbegriffen waren, nicht gegen ihn, der deren Anwendung verschuldet hatte – sondern sah nur seinen eigenen Fehler, klagte nur sich an.

»So wehren Sie sich doch!« regte ihn Peter an. »So lehnen Sie sich doch auf! Gegen mich! Gegen das Schicksal! Gegen die Menschen, deren Einrichtungen schuld an Ihrem Unglück sind.«

Hoffmann schüttelte den Kopf und sagte:

»Nein! Warum grade ich? Wo ich doch schuldig bin. Während Millionen schuldlos leiden müssen. Ich hatte es in der Hand, das Unglück abzuwenden. Es war ja doch mein Wille, und ich konnte es richten wie ich wollte.«

»Meine Schwäger haben Sie gehetzt.«

»Warum ließ ich mich hetzen? Statt schirmend meine Hände über mein Kind zu breiten. – Wenn der Landrat sich für Sie, seinen Schwager, Nutzen daraus versprach, daß er mich gegen mein Kind hetzte, so durfte er das tun. Was ging ihn mein ihm fremdes Kind an? Sie standen ihm näher.«

»Aber ich,« sagte fassungslos Peter, »ich hatte Pflichten – denn ich stand Aenne am nächsten.«

»Sie?« wiederholte Hoffmann, richtete sich auf und schüttelte den Kopf. »Sie nicht! – Es war Aennes freier Wille, daß sie mit Ihnen ging. Woraus also leiten Sie Pflichten ihr gegenüber ab?«

Peter war erstaunt über die Frage und sagte mit starker Betonung:

»Aus meiner Liebe!«

Abermals schüttelte Hoffmann den Kopf und sagte:

»Nein!! – Sie haben sie nicht geliebt. Sonst hätten Sie nicht so schlecht an ihr gehandelt.«

»Ich war ja auch in dem Irrtum befangen,« erwiderte Peter. »Mir fehlte mit Rücksicht auf meine Familie und meine Stellung ja auch der Mut, laut zu bekennen: Ich liebe Aenne, die Tochter eines Pedells. Was zwischen ihr und mir geschieht, geht niemanden etwas an. Ihr habt sie zu respektieren! Sie ist meine Braut! Und wird meine Frau sein! Wann, das geht nur uns an.«

»Hätten Sie das doch getan!« sagte Hoffmann. »Alles wäre vermieden worden.«

»Erkennen Sie nun meine Schuld?« fragte Peter.

Hoffmann nickte und sagte:

»Freilich! Wenn Sie sie liebten. Dann sind Sie so schuldig wie ich.«

Hoffmann und Peter reichten sich die Hände.

»Es ist nicht mehr gut zu machen,« sagte Peter. »Aber wir wollen im Gedenken an Aenne für unsern Teil mithelfen, die hohe Lügenmauer, die die feige Gesellschaft zu ihrem Schutze zwischen sich und den andern errichtet hat, einzureißen. Es gibt Millionen armer Mädchen, denen es ergeht wie ihr. Ihnen wollen wir Aenne zuliebe helfen.«

Hoffmann drückte Peters Hand.

»Auf mich können Sie zählen,« sagte er mit Tränen in der Stimme. »Früher, da hätte ich Sie nicht verstanden. Aber heut versteh ich Sie.«

»Sie sind weich geworden, Hoffmann.«

Der wehrte ab und sagte:

»Die paar Tränen.«

Peter wies auf den Tisch und auf die Kommode. »Und die Blumen?« sagte er. »Ich entsinne mich, daß Sie Aenne früher schalten, wenn sie die Zimmer mit Blumen schmückte.«

»Ich habe sie nicht hingestellt,« erwiderte Hoffmann.

»Wer denn?« fragte Peter.

Hoffmann überhörte die Frage, trat an die Kommode heran, beugte sich über einen großen Strauß lila Flieder, atmete den Duft und sagte:

»Das denke ich alle Tage.«

»Was?« fragte Peter.

»Wenn sie doch von Aenne wären.«

»So haben Sie alle Tage frische Blumen?«

»Tag für Tag.«

»Zur Erinnerung an sie?«

»Ich denk’s mir so. Jeden Mittag, wenn ich herunter komme, stehen sie da. Immer auf dem gleichen Platz.«

»Sonderbar!« sagte Peter.

»Und wer sie Ihnen hinstellt, wissen Sie nicht?« fragte Lux.

Hoffmann schüttelte den Kopf und sagte:

»Nein! – Aber in Verbindung mit der Aenne steht’s schon.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Das erstemal, da war ein Brief dabei, darin stand« – Hoffmann senkte den Kopf ein wenig, und es schien Peter, daß er die Augen schloß, dann memorierte er:

»Sofern Sie in Liebe an Ihre Tochter denken, denken Sie nicht in Haß an den, den sie liebte.«

»Und alle Tage,« fuhr Hoffmann fort, »wenn ich die Blumen sehe, wiederhole ich mir diese Worte. Und daher kommt’s wohl, Herr von Reinhart,« wandte er sich an Peter, »daß ich mich Ihnen nahe fühle und mich gleichsam für mein Kind freue, daß Sie jetzt bei mir sind.«

Er nahm aus dem Glas einen Stiel Flieder, reichte ihn Peter und sagte:

»Ich hasse nicht.«

Wie ein kostbares Heiligtum hielt Peter die Blumen in den Händen.

Wie gut sind die Menschen! dachte er. Aber er war nicht imstande, es auszusprechen. Er drückte Hoffmann die Hand und hauchte: »Danke! – Danke!«

»Und wenn Sie öfters kämen,« sagte Hoffmann.

»Gewiß! Gewiß!« versprach Peter. »Wenn ich weiß, daß meine Gegenwart Sie nicht kränkt, dann komme ich so oft ich kann.«

»Mir ist’s, als wenn ich der armen Aenne damit etwas Gutes täte.«

Peter war ganz von dem Gefühl erfüllt: Hier ist mein Platz, hier möchte ich bleiben. Der ganze Raum schien ihm angefüllt von Aennes Liebe. Nur schwer entschloß er sich zum Gehen.

»Eine Frage noch,« sagte er zögernd. »Was ist aus dem Pedell Linke geworden?«

Hoffmann zuckte zusammen.

»Schonen Sie mich nicht,« bat Peter.

»Er hatte die Aenne so lieb.«

»Ich weiß es,« erwiderte Peter. »Wäre ich nicht gewesen, sie wären heute glücklich miteinander.«

»Er hat ihren Tod nicht überwinden können.«

Peter erschrak.

»Er ist ihr nachgefolgt?« fragte er entsetzt.

Hoffmann schüttelte den Kopf.

»Wenn es das nur wäre! – Er ist krank geworden. Aus Kummer. Vor allem wohl aber aus Mitleid. Und das hat sich dann bei ihm so festgesetzt. Erst hat er nur die arme Aenne bedauert. Aber dann wollte er allen armen Menschen helfen.«

Wie ich, dachte Peter.

»Und da hat er denn gegen das Gesetz verstoßen. Denn die Gesetze sind nicht für die Armen und für die, die Mitleid haben. Er mußte es bitter büßen. Er stahl bei den Reichen, um den Armen zu helfen. Erst einmal und dann noch einmal. Anfangs, da gingen sie noch milde mit ihm ins Gericht. Aber beim dritten Male, da meinten sie, er sei ein gewohnheitsmäßiger Verbrecher und verurteilten ihn zu Zuchthaus.«

Peter fuhr entsetzt auf:

»Und da . . . da . . . sitzt . . . er nun?«

»Ja! Sie haben ihn in die Abteilung für geisteskranke Strafgefangene überführt. – Er hat wohl den Verstand verloren.«

»Wo . . . wo ist er?« fragte Peter lebhaft.

Hoffmann nannte ihm den Ort.

»Komm!« rief Peter seinem Freunde zu, drückte Hoffmann die Hand und sagte: »Auf Wiedersehn!« —

Auf dem Wege zum Zuchthaus sprachen Peter und Lux kein Wort. Nach einer Weile fragte Lux:

»Was glaubst du, Peter, von wem die Blumen sind?«

Peter sah Lux an und sagte:

»Das solltest grade du wissen.«

Lux fuhr zurück:

»Du meinst doch nicht etwa?«

»Doch!« erwiderte Peter. »Verlaß dich drauf, sie sind von ihr.«

»Von Margot Rosen?«

»Ja.«

»Um gut zu machen, was du gesündigt hast.«

Peter nickte.

»Dann liebt sie dich also doch?«

»Ich sagte es dir ja.«