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Czytaj książkę: «Wie Satan starb », strona 11

Czcionka:

XIV

Mit diesen Scherzen, die von den Betroffenen bitter empfunden wurden, suchte Margot sich abzulenken und zu betäuben. Sie hatte, kurz bevor sie Engelberg verließ, noch einen letzten Versuch gemacht, Peter umzustimmen. Sie war zu Frau Julie gestürzt und hatte auf die arme Frau mit allen Mitteln des Herzens und der Dialektik einzuwirken versucht.

»Sie haben recht mit allem, was Sie sagen,« stürmte sie auf Frau Julie ein. »Peter ist krank! Das heißt, sein Mitleid mit den gequälten Kameraden ist so tief und so stark, daß es ihn ganz ausfüllt und völlig von ihm Besitz ergriffen hat. Es gibt eben Schmerzen, bei denen die Vernunft naturgemäß aussetzt. Es gibt Menschen, die reißen vor Schmerz das Verbandszeug von ihren Wunden, obschon sie wissen, daß sie verbluten werden. Es ist nicht anders mit dem Schmerz der Seele. Und was ich will, liebste, beste Frau Geheimrat, ist ja doch nichts weiter, als bei ihm zu sein und mit ihm leiden zu dürfen.«

»Liebes Kind,« erwiderte Frau Julie gerührt und beengt, »grade mit dem, was Sie sagen und was durchaus den Charakter von Peters Krankheit trifft, beweisen Sie, daß Ihre Gemeinschaft für beide der Tod wäre. Ihr Mitleiden verstärkt und vertieft seinen Schmerz. Es verschlimmert die Wunden, die nur heilen können, wenn jemand rein sachlich und innerlich ganz unbeteiligt an ihre Heilung geht. Sie lieben sich! Was ist da natürlicher, als daß Ihre Gefühle die empfindlichste Stelle treffen und da zusammenfließen, wo sie schon lange aufgewühlt und in starker Bewegung sind?«

»Wenn die Wunden doch aber nicht heilen können, wenn sie tödlich sind,« bettelte Margot, »warum dürfen zwei Todkranke, die sich lieben, dann nicht zusammen sterben?«

»Sie macht die Leidenschaft kritiklos,« erwiderte Frau Julie. »Die Liebe ist nun einmal eine Krankheit, deren eins von vielen Merkmalen es ist, alles, was sie selbst angeht, zu übertreiben, gegenüber allem andern aber, was sie nicht unmittelbar berührt, blind zu sein. Das führt naturgemäß zu einer Ueberschätzung! – Lassen Sie ein paar Wochen darüber vergehen, das erste Fieber abflackern, und Sie werden sehen, daß Sie, wenn auch nicht gleich genesen, so doch zum mindesten an Ihrer Liebe und an Ihrem Mitleid nicht sterben werden.«

»Möglich, daß ich weiterlebe,« erwiderte Margot, »sogar wahrscheinlich; daß ich mich mehr noch als früher in Vergnügungen stürze und äußerlich den Eindruck eines glücklichen Menschen mache. Aber seien Sie ehrlich: wiegt so ein Leben, das innerlich leer ist, und wenn es hundert Jahre dauert, das Glück eines Jahres auf, das mich an Peters Seite erwartet?«

Frau Julie hatte ihre Hand genommen und sah sie teilnahmsvoll an. Was konnte sie tun, um dieser leidvollen Liebe Linderung zu schaffen? Es gab nur ein Mittel, sie zu entwurzeln; und waren die Schmerzen, die damit verbunden waren, noch so groß. – So sagte sie denn:

»Peter will leben. Er hat es Ihnen selbst gesagt. Ihnen gilt die Liebe mehr; ihm das Leben.«

»Er denkt dabei vielleicht auch an mich, fühlt die Verantwortung und würde, wüßte er, wie es in mir aussieht, anders handeln.«

Zu nahe kam Margot schon der Wahrheit. Noch war sie freilich nur Instinkt und Vermutung. Aber noch eine Aussprache mit Peter und sie konnte, ja mußte Gewißheit werden. Dann waren sie unabwendbar einander ausgeliefert und verloren. Darum hieß es jetzt, Hand an die Wurzel legen. Wieder schwebte Frau Julie Aennes Bild vor Augen. Ein zweites Opfer bereitete sich vor. Diese Aussicht trieb Frau Julie an, zu handeln. Ich lüge, sprach sie sich zu; ich muß lügen; es ist meine Pflicht, ihr und Peter gegenüber. Sie sah Margot nicht in die Augen, beugte den Kopf über den Tisch, ließ ihre Hand los und sagte:

»Ich will offen sein, Margot, und Ihnen die Wahrheit sagen. So groß Peters Mitleid, so groß ist auch sein Haß. Sie selbst haben sich davon überzeugt. Er fühlt mit denen, die leiden, aber er haßt auch die, die die Leiden verursachen. Nicht nur die wilden Quälgeister da unten, die sich mit roher Gewalt auf ihre Opfer stürzen. Auch die daheim, die unter vornehmer Maske die letzte Kraft aus dem Körper des armen Volkes saugen, Reichtümer häufen, sich mästen und die andern hungern lassen. Er haßt alle, die Gewinn aus diesem Blutbad ziehen. Und wie es ihn treibt, sich auf die Menschenschinder da unten zu stürzen, so treibt es ihn auch, diese Vampire zu erdrosseln. – Ich will Ihnen nicht weh tun, Margot, aber erwägen Sie: ist danach ein Glück zwischen Ihnen denkbar? Peter ist krank und übertreibt. Aber in seiner krankhaften Vorstellung wird sich sein Haß auch gegen die wenden, denen Sie von Natur aus zu Liebe und Achtung verpflichtet sind.«

Margot verstand. Sie schwieg lange. Dann hob sie den Kopf, sah Frau Julie fest an und sagte, langsam und bestimmt:

»Auch – darin – könnte – ich – ihm – folgen.«

»Margot!« rief Frau Julie entsetzt. »Sie versündigen sich!«

Margot schüttelte den Kopf und sagte:

»Nein! Peter hat recht! Sie sind so schlimm wie die andern! – Man müßte ihnen den Spiegel vorhalten und sie verächtlich machen.« Sie dachte nach, lächelte und sagte: »Nein! es würde nichts nützen. Bei den Großen nicht. Nur bei den Kleinen. Reichtum deckt jeden Makel zu.« – Wieder dachte sie nach. – »So geht es nicht. Ihnen muß man anders zu Leibe!« sagte sie lebhaft. Dann stand sie auf und trat vor Frau Julie hin. »Merken Sie nun, wie unzertrennlich ich mit ihm verbunden bin? Wie sein Geist von mir Besitz ergriffen hat? Gewiß! Sie können uns trennen. Aber etwas eint uns, was stärker ist, das Wirken im selben Geist!«

Frau Julie sah sie teilnahmsvoll an.

»Sie sollten etwas für Ihre Nerven tun, Margot!«

Margot lachte hell auf. Frau Julie erschrak.

»Für meine Nerven?« rief sie spöttisch. »Ja! ich will sie aufpeitschen! Sie sind faul geworden. Die Vampire haben sie gemästet. Jetzt sollen sie sich erkenntlich zeigen. Das gehört sich so! – Sagen Sie’s Peter! Vergessen Sie’s nicht! Gegen die Vampire! Er gegen die da unten und ich gegen die andern!«

Margot lief aus dem Zimmer. Frau Julie sah ihr entsetzt nach. Sie stützte den Kopf in die Hände und sagte:

»Hilft mir denn niemand?«

Johann kam leise ins Zimmer, trat behutsam an den Tisch heran, beugte den weißen Kopf ein wenig zu Frau Julie hinab und flüsterte ihr zu:

»Gnädige Frau, der selige Herr pflegte zu sagen: so lange jemand lebt, soll man die Hoffnung nicht aufgeben.«

Frau Julie sah zu ihm auf, lächelte ihm zu und sagte:

»Sie haben recht, Jean! Wenn mein guter Mann noch am Leben wäre, würde er mich schelten und sagen: danke Gott, daß du ihn wieder hast.«

»Das sollten die gnädige Frau auch tun,« erwiderte Johann.

Frau Julie nickte, raffte sich auf und drückte ihm die Hand.

XV

»Es ist am Ende gar kein Unglück, daß er von Aennes Selbstmord erfahren hat,« sagte der Arzt zum Landrat. »Denn, wenn ihn nach allem, was Sie mir darüber erzählt haben, das nicht ablenkt, dann ist der Fall in der Tat beinahe hoffnungslos.«

»Pst!« sagte der Landrat und deutete nach der Tür, durch die eben Peter am Arme seiner Mutter trat.

Arzt und Landrat standen auf.

»Nun? Geschlafen?« fragte der Arzt.

Frau Julie schüttelte den Kopf.

»Er hat die ganze Nacht über wach gelegen.«

»Und woran gedacht?« fragte der Arzt und griff nach Peters Hand, um den Puls zu fühlen. »Schwach!« sagte er. »Immer noch schwach.«

Peter sah ihn an.

»Entsinnen Sie sich unseres Gesprächs in Frankreich, kurz vor unserm Abtransport?« fragte er. »Es war von der Kausalität die Rede. Sie suchten verstandesgemäß den Dingen mit Logik auf den Grund zu kommen. Ich widersprach und bewies Ihnen die Unzulänglichkeit Ihres Satzes. Alles ist Bewegung; alles, was ist, schwingt. Auch das Gefühl. Nur so lassen sich seelische Zusammenhänge konstruieren.«

»Sie sind unklar, Reinhart,« sagte der Arzt. »Ich ahne kaum, was Sie meinen. Sprechen Sie verständlicher.«

Peter schüttelte den Kopf und sagte:

»Sie müssen es fühlen. – Lassen Sie sich die Geschichte meiner Aenne erzählen. So fängt es an. Es geht alles auf die nämliche Formel. Zwischen ihren Qualen und meinen besteht ein Zusammenhang. Dieselben Schwingungen über Millionen von Kilometern. Oder wieso hätte ich sonst, wenn Venéres Ochsenziemer auf meinen Rücken aufschlug, mich dabei ertappt, wie ich die Zähne zusammenbiß und sagte: ›Trag’s nur, Aenne! trag’s!‹ – Damals, als ich mir Rechenschaft gab, führte ich’s auf die Nerven zurück. Jetzt aber weiß ich, daß es ein Leid war, das in uns schwang.«

»Was nützt es Ihnen, solchen Gedanken nachzuhängen?« fragte der Arzt. »Das Leid wird dadurch nicht erträglicher; im Gegenteil, indem Sie es derart verankern, erschweren Sie nur die Möglichkeit, es zu lindern.«

»Möglich,« erwiderte Peter. »Sobald man klar sieht und jeden Widerstand aufgibt, resigniert man. Ein für alle Male verzichtet man dann auf das Glück, sobald man erkannt hat, daß das ganze Leben nicht auf Freude, sondern auf Leid gestellt ist.«

»Das ist eine einseitige Erkenntnis,« widersprach der Arzt. »Es gibt Millionen, die stellen sich nur auf Lust und Genuß ein.«

»Es sind die Klügeren,« mischte sich der Landrat in das Gespräch, und Frau Julie sagte:

»Die Wahrheit liegt, wie überall, in der Mitte. Jedes in seiner Zeit.«

»Das sind Kompromisse,« sagte Peter. »Das sind Ausflüchte und Verlegenheiten für Dummköpfe, die nicht denken . . .«

»Oder für ganz Kluge,« unterbrach ihn der Arzt, »die nicht denken wollen, weil sie auf dem Wege zur Erkenntnis die große schwarze Fläche sahen, deren Reflexe auf die menschliche Seele spürten, klug die Augen schlossen und rückwärts retirierten.«

»Das ist Feigheit!« sagte Peter.

»Ich halte es nicht dafür. Selbst wer nach Erkenntnis dürstet, selbst der Hungrige wird auf die in greifbarer Nähe hängenden Trauben verzichten, wenn er schon von ferne ihren bitteren Geschmack spürt und fühlt, daß sie ihm lebenslänglich den Appetit verlegen.«

»Sie vermögen eben nur materiell zu denken,« tadelte Peter. Der Arzt widersprach:

»Ich beweise Ihnen an materiellen Beispielen, daß Sie einer Irrlehre nachhängen. Oder zum mindesten die absolute Unzweckmäßigkeit Ihrer Sätze. Denn meines Erachtens muß aller Weisheit letzter Schluß, selbst für den Lebensverneiner, darin gipfeln, Mittel und Wege zu finden, sich das Leben so erträglich wie irgend möglich zu gestalten, nicht aber, es sich nach Möglichkeit zu erschweren.«

»Mir scheint, Sie reden aneinander vorbei,« sagte Frau Julie. »Sie sind Rationalist, Herr Doktor, und ich wünschte, auch mein Sohn wäre es.«

»Gefühle lassen sich nicht wegdiskutieren,« sagte Peter. »Und mit dem Verstande laufen Sie ergebnislos gegen das Unterbewußtsein an. – Was kann alles Reden nützen, wo ich doch ganz deutlich fühlte: Aenne – ich – Margot, wir drei sind durch ein und dasselbe Gefühl, durch dieselbe Schwingung miteinander verbunden. Und ich erkläre Ihnen« – dabei hob er die Stimme – »mögen die Menschen sich mit Dunst, Gelehrsamkeit, Kunst, Wissenschaft, Politik und gesellschaftlichem Ballast noch so schwer beladen, so daß die beschwerte Seele außerstande ist, zu schwingen – unter all dem künstlich und mit viel Mühe von außen Herangeholten schlummert doch bei allen das gleiche Gefühl. Erst wenn der Mensch von jedem Zweck genesen ist, offenbart sich ihm sein wahres Wesen. Erst dann kann die Seele schwingen, erst dann wird sich zeigen, daß ein und derselbe Ton aus ihnen allen klingt: das Mitleid!«

»Möglich, daß dem so ist,« sagte der Arzt. »Möglich, daß, weil dem so ist, die Menschheit instinktiv vor ihr wahres Wesen, vor ihre Seele, als Ablenkung und Schutz alle diese Dinge vorbaut. Wer sie einreißt, erweist der Menschheit keinen Dienst.«

»Ja, glauben Sie, daß andere der Weg zu Gott führt?

Was tut denn die katholische Kirche? Auch sie erkennt, daß alle diese weltlichen Funktionen und Berufe, da sie die Schwingungen der Seele hemmen, den Weg zu Gott versperren. Sie einreißen, die Seelen bloßlegen aber hieße den staatlichen Organismus erschüttern. Statt die Menschheit von dem weltlichen Mantel, den sie sich umgehängt hat, zu entblößen, hängt sie ihr einen noch schwereren Mantel darüber, der alles Weltliche verdeckt und überstrahlt. Sie begeht eine bewußte Täuschung.«

»Sie gewährt Hunderten von Millionen Menschen Trost,« erwiderte der Arzt. »Braucht es noch mehr als diese Tatsache, um sie zu rechtfertigen?«

»Durch die Lüge!« sagte Peter.

»Heiligt denn der Zweck, die Leiden der Menschheit zu lindern und zu heilen, nicht das Mittel?«

»Quacksalberei ist es!« widersprach Peter. »Man blendet, man hüllt die wunden Seelen in schwere Seidenstoffe und betäubt die Schmerzen durch Gebete, Orgeltöne und Weihrauch. – Bloßlegen soll man sie! Dann ist die Verbindung zu Gott da! Und um sie zu vermitteln, bedarf es keiner Kanzel, keines Weihrauchs und keiner Gesänge. Die Seele klingt von selbst, man befreie sie nur von ihren Fesseln, lege ihr den Weg frei.«

»Und alle diese Gedanken sind dir da unten in der Gefangenschaft gekommen?« fragte Frau Julie.

»Ja!« sagte Peter. »Mir ging ein, daß die verbildete Menschheit den Sinn des Lebens ins Gegenteil gekehrt hatte und daß sie, um zu sich zurückzufinden und um sich zu lieben, alles von sich abwerfen müsse, womit sie sich beschwert und was sie Jahrhunderte lang mit sich herumgeschleppt hat. Der Sinn des Lebens ging ihr verloren und wandelte sich in Unsinn. Oder wie sonst ist das Geschehen der letzten Jahre zu verstehen, das nur eine Folge der verstandesgemäßen Entwicklung auf Kosten des Gemüts ist. Verstand gebiert Macht, Gemüt Liebe. Das sind doch elementare Dinge, die aber in Vergessenheit gerieten und die man daher der Menschheit immer von neuem predigen muß.«

»Wenn du predigen willst, mußt de Theologie studieren,« sagte der Landrat. »So ’ne Jefühlsduseleien sind für einen Regierungsbeamten direkt jefährlich. Jesinnung, lieber Peter, is die Hauptsache. Hat man die, dann braucht man sich den Deibel was um sein Jefühl zu kümmern. Das führt nur zu Dummheiten.«

»Mir scheint doch, daß Sie Ihren Herrn Schwager da mißverstehen,« erwiderte der Arzt. »Ich sehe in dem, was er da sagt, vielmehr eine Art unentwickelter Philosophie . . .«

»Religion,« verbesserte Frau Julie. »Gottmenschen möchte mein Sohn schaffen oder vielmehr: dem Göttlichen, das in jedem Menschen schlummert, zum Durchbruch verhelfen. Erfordernis hierfür ist die Unterordnung alles Uebernommenen, also alles Geistigen und Materiellen, was sich die Menschheit im Laufe der Jahrhunderte an sogenannter Kultur aufgebürdet hat, unter das Göttliche in ihr, das Gemüt. Ich glaube schon,« fuhr Frau Julie fort, »daß sich auf diesem Wege weiterdenken läßt. Aber dazu, Peter, gehört ein klarer, ungehemmter Geist! Wer die Seele der Menschheit rühren will, dessen eigne Seele muß schwingen, Peter! Wer der ganzen Menschheit helfen will, der darf nicht, wie du, Monomane sein und sich unfrei an eine Idee klammern.«

»Sehr gut gesprochen!« stimmte der Arzt bei und suchte im Sinne von Frau Julie auf Peter einzuwirken.

Peter lächelte resigniert und sagte:

»Gelingt es mir doch nicht einmal mit euch! Denn was liegt daran, euch verstandesgemäß zu überzeugen, daß, was ich sage, Sinn hat und Geltung gewinnen könnte? Genau so würde es mir mit den andern ergehen. Und im besten Falle gäbe es eine Arbeit mit dem Titel: ›Gedanken zu einer neuen Religion‹. Eine Streitschrift, mit der sich die Theologie befaßte, um wissenschaftlich nachzuweisen, daß es Humbug ist. Solange ich auf den Verstand und nicht auf die Herzen wirke, ist alles umsonst. Was ich so stark fühle, muß die Herzen treffen, muß dort, als Saat aufgehend, die Herzen befruchten. Diese Wirkung ging von mir aus auf jene Unglücklichen da unten. Ihnen war ich mehr als Tröster, ihnen konnte ich Erlöser werden. Aus ihnen schöpfte ich die Kraft. Ihrem Kreis entrückt, versagt sie.«

»Versuche es wo anders,« redete ihm Frau Julie zu. Peter sah seine Mutter an.

»Wo anders,« wiederholte er. »Ich weiß, wohin du mich führst. Soll ich Tote lebend machen? Soll ich den Mord auf dem Gewissen vor die Menschen treten und ihnen sagen: sie starb für mich; also will ich für euch sterben. Ist Sühne ein Opfer?« Er lachte laut auf. »Schaut mich doch an! Sieht so ein Prophet aus?« Dann senkte er den Kopf und sagte mit gedämpfter Stimme: »Durch mich starb Aenne. Ich klage mich an. Ich weiß, ich bin schuldig. Ich trug mein Leid und half andern tragen. Aber dein Leid, Aenne, fühlte ich nicht.« – Er schwieg. Plötzlich warf er den Kopf hoch und rief laut: »Ich klage mich an! Treulos war ich! Das hast du gefühlt. Tausendmal besser als ich warst du! Ich litt. Gut! Aber ehe ich litt? Wo war da mein Gefühl? Wo waren da meine Gedanken? Bei dir?« – Er schüttelte traurig den Kopf. – »Wären sie bei dir gewesen, Aenne, du hättest es gefühlt, du lebtest noch heute! – Karriere sollte ich machen. Karriere! Ein großer Mann sollte ich werden! Und dann: Ich, Peter von Reinhart, und du, die Tochter eines Pedells! Schande über Schande! Kamen nicht solche Gedanken zu mir? geflüstert von euch, ihr Lieben, die ihr um mich und meinen guten Ruf bedacht wart? – Nahm ich die Einflüsterungen auf? oder wies ich sie von mir? schalt ich sie absurd? – Was paßte euch nicht? Der Gang? Die Hüften? Oder der Charakter? I Gott bewahre! War sie lahm? Blind? War sie ein ausgefeimtes Frauenzimmer? Trieb sie sich mit Männern herum? Log sie? War sie eine Betrügerin? Ließ sie die Eltern hungern? I Gott bewahre! Sie war tapfer, klug und gütig. Aber wenn sie feig, dumm und schlecht gewesen wäre, und der Vater war kein Pedell, sondern ein kaiserlicher Rat und aus altem Geschlecht und sie hatte Geld – ihr hättet sie mir auf goldener Schüssel gereicht und gesagt: nimm, nimm sie dir! – Nun!« forderte er den Landrat heraus. »Wer waren die Gesunden? Diejenigen, die Aenne mit Liebe umgaben und sie vor euch schützten« – er ging drohend auf den Landrat zu —

»Halt!« schrie der Landrat.

Peter packte ihn.

»Oder ihr, Hunde, die ihr sie ermordet habt.«

»Sie selbst – äh – sie selbst hat sich – ich schwöre!« rief der Landrat.

Peter schüttelte ihn.

»Sie selbst?« wiederholte er. »Aus Liebe! Und ihr habt nichts dazu getan? Hieltet sie zurück? Wie? Wart besorgt um sie, die feine Dame? Oder lüftetet ihr nicht die Stuben, damit der Pestgeruch des armen Mädchens euch nicht in die empfindsamen Nasen stieg? Rastet ihr nicht vor sittlicher Empörung, daß ich mich zu dieser Liebe erniedrigte? Schütteltet ihr euch nicht vor Ekel in dem Gedanken, daß Blut von eurem Blute an eine eheliche Verbindung mit diesem hergelaufenen Mädel dachte? Gab es in eurer Vorstellung einen gröberen Verrat, ein abscheuwürdigeres Verbrechen? Habt ihr nicht mit diesen Gefühlen auf sie eingewirkt, sie gehetzt, sie in den Tod getrieben? Antworte!« brüllte er den Landrat an und wollte sich auf ihn stürzen. Da schob Frau Julie sich an ihn heran, sank vor ihm auf die Knie, faltete die Hände, sah zu ihm auf und sagte:

»Ja, Peter! Ja! Wir sind die Schuldigen! Wir haben sie umgebracht; dem Geiste nach.«

Peter zog seine Mutter zu sich empor und schmiegte sich an sie.

»Du bist schuldig und ich. Wir haben in den Menschen nicht gesehen, was sie sind; nur was sie vorstellen.«

»Ich habe erkannt: Aenne war ein Engel. – Aber da war es zu spät.«

»Wir waren alle blind, Mutter. Nun aber, da wir begonnen haben, zu sehen, wollen wir reinlich Scheidung halten zwischen Bösen und Guten.«

»Man muß ihn in eine Anstalt bringen,« sagte der Landrat zum Arzt gewandt und wies auf Peter. »Er ist gefährlich.«

Peter hörte es. Die Mutter am Arm, wandte er sich zu dem Landrat um, hob den Arm und sagte mit starker Betonung:

»Ja, nimm dich in acht! Denn von heute ab bin ich gefährlich! Allen Bösen! Und mir scheint fast, als gibt es für mich eine Aufgabe zu erfüllen, die mehr drängt und näher liegt als das Leid meiner Kameraden.«

Einen Augenblick lang war Frau Julie fast glücklich. Der Tod Aennes schien die schwersten Gedanken in ihm verdrängt zu haben. Aber gleich darauf erschrak sie: Wenn sein Mitleid gleich stark in Haß umschlug und sich gegen die wandte, die an Aennes Tod schuld waren? Was dann? Was dann?

XVI

Peter betrieb, wie zu erwarten war, mit allen Mitteln des Intellekts und unter Ausnutzung aller seiner Beziehungen seine Repatrierung, ein von der Schweiz geprägtes Wort, das Austausch und Heimkehr der Gefangenen-Internierten bedeutete. Er entwickelte dabei einen Scharfsinn, der Frau Julie und ihre Umgebung in Erstaunen setzte. Der Arzt sprach von einem durch das viele Denken übertrainierten Gehirn, das erst nach Rückkehr in eine regelmäßige, möglichst unpersönliche Beschäftigung zu dem Normalzustand zurückkehren werde. Frau Julie, die dem Zustande ihres Sohnes im Gegensatz zum Arzte, der ihn studierte, gefühlsmäßig nachhing, behauptete das Gegenteil. Peter hatte ihrer Meinung nach lange Zeit hindurch alles Denken ausgeschaltet und das ausgeruhte Gehirn arbeitete nun doppelt scharf. Kurzum: es gelang ihm mit Hilfe eines Schweizer Hauptmanns, dem so mancher deutsche Mann seine Befreiung aus französischer Gefangenschaft und damit Leben und Gesundheit verdankte, die Heimkehr nach Deutschland zu erwirken.

Der Oberst ließ Peter kurz vor der Abreise zu sich kommen und redete ihm ins Gewissen.

»Ich will heute mal nicht als Vorgesetzter, sondern als Mensch zu Ihnen sprechen. Sie kommen unter die Hunde, Reinhart, wenn Sie sich nicht zusammenreißen und militärischen Schliff annehmen. Sie sind Offizier, wenn leider auch kein aktiver. Immerhin: Offizier bleibt Offizier, und das muß irgendwie auch äußerlich zum Ausdruck kommen. Ihnen aber sieht das kein Mensch an. Sie wirken selbst in Uniform noch wie ’n Zivilist. Es ist Aufgabe des Militarismus, den Zivilisten in jedem Menschen sozusagen umzubringen und ein Instrument des obersten Kriegsherrn aus ihm zu machen. Das ist bei Ihnen leider noch immer nicht jelungen. Der Ansicht ist auch Ihr Schwager, der Herr Landrat von Moll, übrigens ein ganz vortrefflicher Mann, dem Sie nachleben sollten. Aber wie jesagt: Zusammenreißen! Nerven kennt ein preußischer Offizier nicht. Einfach mal de Hände von den Frauenzimmern weg. Dann werden Sie mal sehen, wie Sie wieder in Reih und Glied kommen. – Also, ich bitt’ mir aus, daß Sie das beherzigen!«

Die Frau Oberst, die im Nebenzimmer saß, war von der menschlichen Art, in der ihr Oberst-Gemahl zu einem seiner Untergebenen sprach, ganz gerührt und sagte, als Peter, der kaum hingehört hatte, fort war, zu ihrem Manne:

»Du vereinigst alle Tugenden in dir. Ein Vater könnte nicht anders zu seinem Sohne sprechen. Wenn ihm das nicht zu Herzen gegangen ist, dann ist ihm überhaupt nicht zu helfen.«

»Ich habe meiner Würde doch nichts vergeben?« fragte der Oberst.

Seine Frau beruhigte ihn, und er setzte sich wieder an den Schreibtisch und hing seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Auswendiglernen der Stammbäume regierender Herrscherhäuser nach.

Peter packte inzwischen seine Koffer. Der Form nach besorgte das zwar Johann. Aber Peter, der nicht duldete, daß der alte Mann für ihn den steifen Rücken krümmte, half ihm in einer Form, die dem Alten die Arbeit erleichterte, ohne ihn fühlen zu lassen, daß er eigentlich unbeteiligt war.

Der Landrat sah es vom Nebenzimmer aus. Für Peters Takt zeigte er kein Verständnis. Takt, an dem man die wahre Kultur jedes Menschen erkennt, schien ihm etwas Serviles, was er, der Landrat von Moll, »einfach nicht nötig« hatte. Und jetzt zum ersten Male, wo er den königlich preußischen Regierungsassessor von Reinhart mit der selbstverständlichsten Miene von der Welt immer wieder an Stelle des Kammerdieners sich bücken sah, teilte auch er die Meinung des Arztes, daß er unter den Nachwirkungen der Gefangenschaft litt und krank sei. – »Ich habe ihm unrecht getan,« schrieb er an seine Frau nach Berlin, »er ist für seine Handlungen nicht verantwortlich zu machen, er ist krank. Ich habe mich, als er sich unbeobachtet wähnte, selbst davon überzeugt. Er hat sein Unterscheidungsvermögen verloren, er verwechselt die Begriffe. Es unterliegt keinem Zweifel mehr: Peter ist geisteskrank. Ich habe ihn in einer Situation beobachtet, die mir ein Vorstadium jener Geisteskrankheit meines Onkels Bolo von Moser zu sein scheint, der sich, wie du weißt, für einen Hund hält und auf allen Vieren auf der Erde herumkriecht. So weit ist es zwar mit Peter nicht. Aber es liegen Anzeichen vor, die mich befürchten lassen, daß es dahin kommt.«

Und von nun an änderte der Landrat seine Haltung Peter gegenüber. Er war ängstlich, scheu, aber zuvorkommend; er widersprach nicht mehr und gab ihm in allem recht. Als Peter von ihm Abschied nahm und zu ihm sagte:

»Und wenn du nun wirklich an diesen verantwortungsvollen, für Deutschland so wichtigen Posten nach Bern kommst, darf ich dir dann, obschon ich der Jüngere bin, sagen, lieber Anton, zeige Takt! Denn durch ihre Ueberhebung und ihre Taktlosigkeit haben grade diese Stellen, die doch Sympathien für uns in der Schweiz werben sollen, den Stimmungswechsel zugunsten der Entente mitverschuldet und der feindlichen Propaganda Vorschub geleistet. Darum nochmals, Anton: Takt! Takt! und abermals Takt!!«

Als Peter so zu ihm sprach, da nickte er zwar mit dem Kopfe, aber sein teilnahmsvoller Blick ließ erkennen, daß er den armen Peter schon auf allen Vieren als Hund in seiner Zelle sah.

Frau Julie war ständig bemüht, Peters Gedanken zu erraten. Und sonderbar! Mutter und Sohn verstanden einander so gut, daß, wenn Frau Julie ihn ansah, er oftmals dachte, es auch hin und wieder aussprach:

»Nun weißt du schon wieder, was ich denke.«

»Weißt du, was mir scheint?« antwortete darauf Frau Julie. »Daß sich Aenne und Margot in deiner Vorstellung immer mehr und mehr zu einem Bilde verdichten, obgleich sie doch im Grunde verschieden geartete Menschen sind.«

»Du hast recht,« erwiderte Peter. »Ich sehe sie immer nebeneinander. Und mir scheint, daß sie sich immer ähnlicher werden.«

»Sie haben beide das gleiche gute Gefühl für dich,« sagte Frau Julie.

Peter dachte nach und sagte:

»Wie sonderbar das ist! Nun, wo die arme Aenne nicht mehr am Leben ist, sind sie durch ein und dieselbe Liebe miteinander verbunden. Noch über das Grab hinaus.«

»Ist denn das sonderbar?« fragte Frau Julie, und Peter antwortete:

»Ja! – Nimm an, Aenne wäre noch am Leben. Dann würde dieselbe Liebe zwischen ihnen Haß erzeugen. – Und darum fürchte ich: wenn es dahin käme, daß alle Menschen sich lieben, würde dann nicht bald überall auch der Haß sich regen?«

Frau Julie sah ihren Sohn an; wieder las sie in seinen Zügen:

»Weil auch in dir schon der Haß sich regt!« sagte sie und ließ ihn nicht aus den Augen.

»Ja!« gestand Peter. »Ich hasse!«

»Wen haßt du?« fragte sie zaghaft.

»Die Macht und die Gewalt! Und die Lüge! – Die Gesellschaft hasse ich! der Aenne erlegen ist.«

»Gehöre nicht auch ich dazu?« fragte Frau Julie. »Hat nicht auch dein Vater dazu gehört?«

»Nein!« sagte Peter bestimmt. »Vater war gut; Vater hatte ein Herz für die Menschen. – Auch du bist gütig. Aber du bist schwach. Du bist eben Mutter und liebst deine Kinder. Alle Menschen aber haben eine Mutter! Man sollte Maria von ihrem Throne heben und aus der Mutter Gottes die Mutter der Menschheit machen! Und zu ihr beten.«