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Czytaj książkę: «Justizmord », strona 8

Czcionka:

»So klug ist jede Frau«, erwiderte Dorothée.«

»Mister Harvey verliebte sich in Frau Marot. Der Liebe stand die Ehe mit Andrée im Wege. Was lag näher, als dies Hindernis zu beseitigen? Möglich, ja wahrscheinlich, daß Mister Harvey es anfangs mit der Autorität des Chefs gegenüber dem Angestellten versucht hat, Marot zu einem Verzicht zu bringen, Marot aber liebte seine Frau. Er verzichtete nicht auf sie. Also kam nur eine gewaltsame Lösung in Frage. Der« – sie ahmte die Stimme des Staatsanwalts nach – »wegen Körperverletzung vorbestrafte Henri Voisin hatte seiner Firma dreißictausend Franken unterschlagen. Er mußte mit schwerer Strafe rechnen. Was liegt näher, als daß er sich dieser Strafe durch eine Flucht nach Amerika zu entziehen suchte. Er befand sich in Marseille. Um sich zu orientieren, suchte er als vorsichtiger Mann statt des amerikanischen Konsuls, den Vertreter der Harvey-Presse, Marot, auf. Zufälligerweise befand sich an diesem Tage Mister Harvey selbst im Office der Redaktion. Er empfing Voisin. Seiner bekannten Gewandtheit, mit Menschen umzugehen, gelang es, Voisins Vertrauen zu gewinnen. Voisin erzählte, legte ihm ein Geständnis ab. Mister Harvey, gewöhnt, schnell zu denken, sagte sich: Das ist mein Mann! Er versprach, ihn mit nach Amerika zu nehmen, ihn in einem seiner Betriebe unterzubringen, vorerst aber sollte ihm Voisin noch einen kleinen Beweis seiner Zuverlässigkeit geben, indem er jenes Hindernis beseitigte, daß der Vereinigung und der gemeinsamen Reise Harveys mit Frau Marot im Wege stand. Voisin hatte zu wählen: zwischen dem Zuchthaus auf der einen und der Sicherheit, Freiheit und Stellung in' Amerika auf der anderen Seite. Genau, wie Frau Marot die Wahl hatte, als Gattin Mister Harveys in Amerika eine glänzende gesellschaftliche Rolle zu spielen, oder in dem langweiligen Marseille neben dem verschuldeten Marot ihre Jugend und Schönheit zu vergeuden. Mister Harveys Plan war schnell gefaßt. Ein harmlos anmutender Ausflug nach Nizza, der sich völlig programmäßig abwickelte. Nur der Scharfsinn des Staatsanwalts, der Frau Marot verdächtigte, verzögerte die gemeinsame Ausreise nach Amerika.«

»Und die Fußspuren, die wohl aus dem Hotel heraus, aber nicht hineinführten?« fragte Harvey, der nach beendeter Beweisaufnahme wieder im Saale war und förmlich an dem Munde Frau Turels hing.

»Richtig! diese Fußspuren!« rief Frau Turel. »Wissen Sie, meine Herren Geschworenen, was es damit für eine Bewandtnis hat? Mister Harvey führte einen mannshohen Schrankkoffer mit sich, der aus Versehen natürlich – statt in sein Zimmer, in das des Ehepaares Marot geriet. In ihm war Voisin, dieser schwachsinnige Mensch, der nicht als Täter, sondern nur als Werkzeug in Frage kommt, verborgen.«

»Fabelhaft!« rief Mister Harvey.

»Mithin könnte ich Sie, meine Herren Geschworenen, gestützt auf diese Indizien, die genau so stichhaltig sind wie die, auf Grund derer der Staatsanwalt den Kopf des Angeklagten von Ihnen fordert, bitten, Mister Harvey wegen Mordes, Frau Marot wegen Beihilfe zu bestrafen, Voisin aber, als schwachsinniges Opfer, einer Irrenanstalt zu überweisen.«

»Soll das ein Plädoyer sein?« fragte der Vorsitzende.

»Allerdings«, erwiderte Frau Turel. »Es soll zeigen, daß man mit Indizien Anklagen aufbauen kann, die verstandesgemäß jeden überzeugen. Ich glaube natürlich weder an eine Schuld Mister Harveys, noch Frau Marots, so wenig wie ich an die Schuld des Angeklagten glaube. Mein Gefühl – und dies Gefühl, meine Herren Geschworenen, ist mehr wert als alle Indizien, die unser Verstand zusammenträgt – sagt mir: der Angeklagte ist kein Mörder.«

»Wer denn?« fragte Dubois – und Frau Turel erwiderte:

»Hier endet meine Weisheit!«

»Aha!« rief Dubois spöttisch – und Frau Turel fuhr fort:

»Wer auf Grund von Indizien belastet erscheint, ist noch lange nicht überführt. Möglich, daß gegen den wirklichen Mörder überhaupt keine Indizien sprechen, möglich, daß es sich hier überhaupt um keinen Mord, sondern um eins der vielen menschlichen Mysterien handelt, für die wir keine Erklärung haben, möglich auch, daß die Erklärung zu einfach und zu primitiv ist, als daß wir mit unseren verstandesgemäßen Konstruktionen darauf kommen. Jedenfalls bitte ich Sie, meine Herren Geschworenen, mir zu glauben und die Schuldfrage zu verneinen.«

Trotz des offensichtlichen Eindrucks, den diese Rede auf die Geschworenen und das Publikum machte, erwiderte der Staatsanwalt:

»Ich glaube, daß wir uns, bei allem Respekt vor dem Mitgefühl einer Frau, die sich in ihrer Sensibilität bereits alle Schrecken einer Hinrichtung ausmalt, als ernste Männer die Pflicht haben, uns auf den Boden der Tatsachen zu stellen, den die Verteidigung einfach beiseite geschoben hat. Würden wir – wie es die Verteidigung will – nur noch auf Grund eines Geständnisses verurteilen, so dürfte es sehr bald überhaupt kein Geständnis, und damit keine Verurteilung mehr geben. Mehr habe ich nicht zu sagen.«

Da Frau Turel auf eine Replik verzichtete, so erteilte der Vorsitzende dem Angeklagten das letzte Wort. Der erhob sich und sagte:

»Ich bin unschuldig – ich habe Marot nicht ermordet – ich kann ihn garnicht ermordet haben.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte einer der Geschworenen – und der Angeklagte erwiderte mit fester Stimme:

»Daß Marot lebt!«

»Ist das alles, was Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen haben?« fragte der Präsident.

»Ist das nicht genug?« fragte der Angeklagte erstaunt, – »ich sagte: Marot lebt!«

Der Staatsanwalt beugte sich über sein Pult und rief dem Angeklagten spöttisch zu:

»Am Ende behaupten Sie noch, selbst Marot zu sein.«

»Der bin ich auch,« erwiderte der.

Das Publikum lachte.

Der Staatsanwalt wandte sich triumphierend an den Präsidenten und rief:

»Was habe ich gesagt?«

Unter stürmischem Gelächter, in das jetzt auch die Richter, Geschworenen und Dubois einstimmten, schloß der Vorsitzende die Verhandlung und erteilte den Geschworenen die Rechtsbelehrung.

Vierter Teil

1

Unmittelbar nach der Verurteilung des Angeklagten suchte Frau Turel den Amerikaner in seinem Hotel auf. Sie wurde trotz einer Menge von Menschen, die – zum Teil schon stundenlang – auf ihn warteten, sofort vorgelassen und in den Salon geführt, in dem ein mit besonderer Sorgfalt für zwei Personen gedeckter Teetisch sie erwartete.

Mister Harvey empfing Frau Turel sehr höflich. Aber er war so ruhig, als wenn sich in den letzten zwölf Stunden nichts, was ihn irgendwie interessierte, ereignet hätte. Frau Turel hingegen war in großer Erregung. Die lange Verhandlung hatte an ihre Nerven Anforderungen gestellt, die durch ihre innere Anteilnahme wesentlich verstärkt wurden. Wenn sie sich auch über den Ausgang des Prozesses keinen Illusionen hingegeben hatte, so war sie von der Verurteilung schließlich doch erschüttert.

In ihrer Erregung fiel es ihr nicht auf, daß man sie allen Wartenden gegenüber bevorzugte. Auch verriet ihr der gedeckte Teetisch, an dem sie auf die Aufforderung Harveys hin Platz nahm, nicht, mit welcher Bestimmtheit sie der Amerikaner erwartet hatte.

»Ich muß Sie – dringend – sprechen, Mister Harvey!« waren ihre ersten, erregt hervorgestoßenen Worte.

»Gewiß! Aber erst nehmen Sie mal eine Tasse Tee und ein paar Sandwiches. Sie sind ja völlig erschöpft.«

»O nein! Ich bin erregt. Und ehe ich nicht Gewißheit habe, bringe ich keinen Schluck herunter.«

»Gewißheit?« fragte Harvey und tat erstaunt. »Ja, die haben Sie doch? – Oder wollen Sie etwa die gräßlichen Sachen noch einmal aufrollen und Revision anmelden? Ich rate Ihnen ab. Denn der Enderfolg wäre derselbe und Sie würden Ihrer heutigen Niederlage, die man schnell vergessen wird, mit großer Wahrscheinlichkeit eine zweite hinzufügen. Im übrigen haben Sie sich nichts vorzuwerfen. Sie haben getan, was Sie konnten. Ihre Verteidigung war gescheit und umsichtig. Ihr Name ist heute in aller Munde. Sämtliche Blätter bringen Ihr Bild. Ich werde auch in Amerika dafür sorgen, daß man erfährt, wer Frau Turel ist.«

»Woran mir gar nichts liegt«, erwiderte Frau Turel – und der Amerikaner rief erstaunt.

»Nanu?«

»Wenigstens in diesem Augenblick, in dem es sich nicht um mich, sondern um den Kopf Voisins handelt.«

»Wenn Sie mit jedem Ihrer Klienten innerlich derartig mitgehen, werden Sie sich sehr schnell verbraucht haben.«

»Sie sprechen schon wieder von mir. Ich bin aber zu Ihnen gekommen, um Sie zu fragen: in welcher Verbindung stehen Sie mit Voisin?«

»Mit Voisin – in gar keiner.«

»Es wäre meine Pflicht gewesen, Sie in der Hauptverhandlung zu stellen. – Als Sie mich vor der Vernehmung der alten Voisin veranlaßten, den Angeklagten zu bestimmen, aus dem Saal zu gehen und der alten zu insinuieren, daß Voisin die Tat für einen anderen auf sich genommen habe, da hatte ich keine Zeit, nachzudenken, sondern folgte meinem Gefühl – oder besser wohl Ihrer Einwirkung. Die Folge war, daß die Vernehmung der einzigen, dem Angeklagten günstigen Zeugin, wirkungslos verpuffte.«

»Wahrscheinlich war das meine Absicht.«

»Ich bin davon überzeugt. Ich habe mich bluffen lassen. Zu spät kam mir die Erkenntnis, daß Ihr sehr geschicktes Manöver gegen Voisin gerichtet war. Mein eigentlicher Gegner in diesem Prozeß war nicht der Staatsanwalt – waren Sie!«

»Es macht Ihnen alle Ehre, daß Sie mich durchschaut haben.«

»Damit ist dem Verurteilten nicht geholfen.«

»Was also gedenken Sie zu tun?«

»Die Wiederaufnahme zu betreiben.«

»Die hierfür notwendigen neuen Momente?«

»Daß die Verteidigung sich in einem der kritischsten Augenblicke der Verhandlung in unverantwortlicher Weise von dem Zeugen Lincoln Harvey hat beeinflussen lassen.«

»Sie müßten auch angeben, welche den Angeklagten nachteiligen Folgen durch das Verhalten der Verteidigung entstanden sind.«

Frau Turel erhob sich, sah dem Amerikaner fest in die Augen und sagte:

»Daß ein von Ihnen bestochener Mensch sich für Voisin ausgab und an seiner Stelle verurteilt wurde.«

Der Amerikaner verzog keine Miene und erwiderte vollkommen ruhig:

»Ähnliches haben Sie, wenn ich nicht irre, ja schon in Ihrem Plädoyer gesagt.«

»Als Hypothese! – Denn vor zwei Stunden glaubte ich es selbst nicht. – Instinkt und Phantasie gaben mir diese Konstruktion ein, die nur als Gleichnis für das, was der Staatsanwalt vorbrachte, gedacht war. Hinterher erst, als ich mir die Haltung der alten Voisin ins Gedächtnis zurückrief, wurde mir klar, daß ich ganz unbewußt die Wahrheit gesagt hatte.«

»Hatten Sie da nicht noch immer Zeit, sich zu berichtigen?«

»Ich wollte Sie nicht angeben, ohne es Ihnen zuvor gesagt zu haben.«

Harvey erhob sich und trat an Frau Turel heran, und es war deutlich, daß die Angelegenheit ihn erst jetzt zu interessieren begann. Er sagte:

»Aus welchem Gefühl heraus?«

»Das darf Ihnen gleich sein,« erwiderte Frau Turel und sah zur Seite.

»Wissen Sie, daß mich das, was Sie mir da sagen, sehr glücklich macht?«

Frau Turel hob trotzig den Kopf und sagte:

»Glauben Sie, ich kann einen Mörder lieben, der noch dazu einen anderen für sich büßen läßt?«

»Haben Sie eine andere Erklärung?«

»Mitleid – vermutlich«, erwiderte Frau Turel. Und als Mister Harvey lächelnd schwieg, fuhr sie in echter Weiblichkeit fort: »Überhaupt – Sie lieben ja Frau Marot – derentwegen Sie zum Verbrecher wurden.«

»Aber nein!« rief Harvey froh, und ergriff ihre Hände. »Wissen Sie, was ich jetzt möchte? Sie in die Arme schließen und nicht mehr loslassen.«

»Dann müßten Sie mir erst erklären . . .« entgegnete Frau Turel. Aber der Amerikaner fiel ihr ins Wort und sagte:

»Nein, Turel, Sie müssen mich so lieben, wie ich bin – ohne daß ich Ihnen irgendeine Erklärung gebe.«

»Ich könnte das – aber in diesem Falle – Sie selbst haben mich veranlaßt, die Verteidigung zu übernehmen – Sie haben es getan – zu Ihrem Schutz – weil Sie fühlten, daß ich Ihnen . . .«

»Nein!« rief Harvey bestimmt. »Halten Sie mich meinetwegen für einen Mörder, aber sagen Sie mir nichts, was meine Gefühle für Sie verletzt.«

»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. – Als ich zu Ihnen kam, war ich mir ganz klar, und fest entschlossen . . .. meine Pflicht zu tun.«

»Das sollen Sie! Niemand hält Sie davon zurück. Aber ich bitte um eins: lassen Sie mir zwei Wochen Zeit. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß sich bis dahin alles geklärt hat.«

»Und wenn Voisin bis dahin . . .«

»So schnell richtet man in Frankreich niemanden hin. – Im übrigen haben Sie ja in letzter Stunde immer noch Zeit, Ihre Angaben zu machen und die Vollstreckung des Urteils zu verhindern.«

»Seien Sie ein Mann, Harvey! Gehen Sie mit mir zum Oberstaatsanwalt! Gestehen Sie! – Ich werde Sie verteidigen – mit mehr Glück, ich fühle es, als ich diesen armseligen Menschen heut verteidigt habe.«

»In vierzehn Tagen – ich verspreche es Ihnen.«

»Bedenken Sie, was für den Ärmsten jeder Tag und jede Nacht bedeutet.«

»Ich werde Ihnen die Mittel in die Hand geben, ihn für alles zu entschädigen.«

»Und wenn ich es nicht tue«, fragte Frau Turel, obschon sie fest entschlossen war, zu warten.

»Dann werden Sie sich nicht gegen mich durchsetzen – und das Urteil wird vollstreckt werden.«

»Ich warte!« versprach Frau Turel, gab Harvey die Hand und ging.

2

Die Verteidigung legte keine Revision ein. Der Verurteilte weigerte sich, ein Begnadigungsgesuch einzureichen. Er forderte sein Recht, keine Gnade. Der Justizminister empfahl dem Präsidenten der Republik, dem Recht freien Lauf zu lassen. Der Präsident bestätigte das Todesurteil. Die Vollstreckungsbehörde setzte den Termin der Hinrichtung fest.

Es waren erst zwölf Tage vergangen, da überführte man den Verurteilten in die Mörderzelle.

Auf Vorstellungen Frau Turels hin erklärte Mister Harvey, der die ganze Zeit über geschäftlich bald in Paris, bald in London zu tun hatte, sie möge sich nicht beunruhigen, und im übrigen sich an ihr Wort gebunden halten.

Auch Dorothée hatte der Amerikaner so sicher gemacht, daß sie ihm nach Paris gefolgt war und dort über die Einrichtung der neuen Wohnung, die sie mit Marot nach dessen Freilassung beziehen wollte, über Einkäufen in den großen Magazinen, über Theater, Modetees und sportlichen Veranstaltungen – kurz über den faszinierenden Schimmer, mit dem Paris sie blendete und völlig in Bann hielt, gar nicht Zeit fand, darüber nachzudenken, daß ein zum Tode Verurteilter sich auch dann noch in Gefahr befand, wenn er unschuldig war, und ein reicher und einflußreicher Amerikaner es übernommen hatte, seine Unschuld an dem ihm geeignet erscheinenden Zeitpunkt nachzuweisen. Ihre Beziehungen zu Harvey – den sie im übrigen, da er in Claridges, sie in Meurice wohnte, kaum zu sehen bekam, waren wenn möglich noch formellere, als sie es unter dem Schein der Verlobung in Marseille gewesen waren. Sie war überzeugt, daß eines Tages die Tür aufgehen würde und Andrée mit ausgebreiteten Armen auf der Schwelle stände. Ihr Ehrgeiz war es, bis dahin nicht nur die Wohnung fertiggestellt, sondern sich selbst in eine so echte und vollkommene Pariserin verwandelt zu haben, daß Andrée sie im ersten Augenblick gar nicht wiedererkennen würde. Ja, manchmal, wenn sie beim Tee im Riz oder bei der Modenschau der Madame Agnes entdeckte, daß sie in einigen, für die Pariserin so charakteristischen Modedingen doch noch nicht ganz auf der Höhe war, dann wünschte sie wohl, Andrée möge sie nicht gar zu schnell überraschen. Die Vorstellung, unter welchen Verhältnissen er als zum Tode Verurteilter lebte, kam ihr in diesem Falle so wenig wie der Gedanke, daß der in der Politik aufgehende Andrée für diese Art des Glanzes und des Luxus ja gar kein Verständnis hatte. Sie hatte dieselben Gefühle, wie manche junge Frau sie im Krieg hatte, deren Mann eine Zeitlang verschollen war, sich dann wieder angefunden hatte und nun auf den langersehnten Urlaub in die Heimat wartete.

Ganz unberechtigt war das nicht, wenn man bedenkt, daß selbst Marot, der doch ständig das Schwert des Damokles über sich fühlte, nicht einen Augenblick lang an der Zuverlässigkeit des Amerikaners zweifelte. Auch jetzt noch nicht, a\s man ihn von der bevorstehenden Vollstreckung des Urteils in Kenntnis setzte und im Anschluß daran in die Mörderzelle überführte.

Der Raum für die letzte Nacht war unbehaglich genug. Das schwer vergitterte Fenster, das auf den Hof ging und kaum Licht in die Zelle ließ, drückte unheimlich auf den kleinen Raum, in dem vorn rechts nur eine Pritsche, und im Vordergrund ein kleiner Holztisch mit ein paar Schemel standen.

Marot saß auf einem der Schemel, während der Wächter unter dem Fenster stand und ihn beobachtete.

»Warum stieren Sie mich so an?« fragte Marot.

»Vorschrift«, erwiderte der Wächter.

»Haben Sie Furcht vor mir?«

»Ich habe Waffen.«

»Worauf passen Sie also auf?«

»Daß Sie keinen Selbstmord begehen.«

»Wozu soll ich mich um etwas bemühen, was ich in einigen Stunden sicher und sehr viel bequemer habe?«

»Sie haben gar keine Furcht?«

»Interessiert Sie das?«

Der »Wächter hob ein Heft hoch und sagte:

»Wir führen ein Buch über die Hinrichtungen.«

»So? – was schreiben Sie denn da hinein?«

»Ob der Deliquent während der letzten Nacht Haltung bewahrt oder schlapp gemacht hat.«

»Wen interessiert denn das?«

»Auch seinen letzten Wunsch – was er gegessen und getrunken hat.«

»Der Mensch in der Nacht vor seiner Hinrichtung – das muß ein grausiges Buch sein. Ich werde mir als letzten Wunsch die Lektüre dieses Buches ausbitten.«

»Da machen Sie höchstens schlapp. Bestellen Sie sich lieber ein Filetbeafsteak und eine Flasche Wein – da haben Sie mehr von.«

»Ich verlange das Buch.«

»Das kriegen Sie doch nicht. Aber wenn Sie es hören wollen – ich weiß so ziemlich, was drin steht.«

»Wer hat als letzter vor mir in dieser Zelle gesessen?«

»Ein gewisser Henri Lavoisier. Maschinist. Einundzwanzig Jahre alt.«

»Und wen hatte er umgebracht?«

»Er hat des Nachts seine Braut erdrosselt.«

»Aus welchem Grunde?«

»Nach seiner Aussage aus Eifersucht und im Streit. Aber man hat es ihm nicht geglaubt, weil er ihr die Barschaft in Höhe von drei Franken und siebzig Centimes und eine Brosche geraubt hat.«

»War er gefaßt?«

»Er hatte unsagbare Angst und rief fortwährend: Ich will nicht sterben! – Er bestellte Wein und Zigaretten. Aber er rührte nichts an. Um zwei Uhr früh forderte er Briefpapier, um an seine Mutter zu schreiben. Aber vor Angst und Schluchzen kam er über die Überschrift: Mein armes, gutes Muttchen! nicht hinaus. – Als man ihn um fünf Uhr früh zum Richtplatz führen wollte, saß er noch immer vor dem Brief und war vor Angst schon halbtot. Aber er kritzelte noch schnell hin: Dein treuer Sohn Henri – , so daß der Brief nur eine Überschrift und Unterschrift hatte.«

»Grauenhaft!«

»Ich hab's gewußt. – Soll ich Ihnen also das Beefsteak und die halbe Flasche Wein bestellen?«

Marot sah den Wächter an und sagte:

»Ach so – wenn Sie Appetit darauf haben.«

»Den hätte ich schon«, erwiderte der und schnalzte mit der Zunge.

»Meinetwegen.«

Der Wächter ging zur Tür, öffnete und rief einem seiner Kollegen, der draußen Wache hielt, zu:

»Die Henkersmahlzeit! – wie üblich! – Aber sie sollen die halbe Flasche Wein nicht vergessen es kann auch eine ganze sein – der Deliquent ist verflucht schlapp.«

Dann schloß er die Tür wieder und trat in die Zelle zurück. Aber statt ans Fenster zu gehen, stellte er sich jetzt an den Tisch, an dem Marot saß.

»Sind Sie bei den Hinrichtungen auch dabei?«

»Immer nicht. Aber bei Staatsanwalt Dubois habe ich Aussicht, daß er mich zusehen läßt.«

»Das ist wohl sehr interessant?«

»Unsereiner hat sonst keine Zerstreuung. – Höchstens mal ins Kino. Aber das kostet Geld.«

»Ich fürchte, daß ich Sie enttäuschen werde.«

»Auf Sie kommt es da nicht mehr viel an. Das besorgen die anderen.«

»Oder auch nicht.«

Der Wächter stutzte:

»Was soll das heißen?«

»Daß ich noch nicht recht an meine Hinrichtung glaube.«

»Na, dann wird es aber Zeit.«

»Kaum!«

»Hoffen Sie auf ein Wunder?«

»Wunder? Nein! Das geht alles mit ganz natürlichen Dingen zu.«

»Sie haben sich mit Ihrem Schicksal also abgefunden?«

»Was ist da viel abzufinden – jetzt, wo ich es hinter mir habe.«

»Das Ärgste steht Ihnen noch bevor.« »Nein, Freundchen!« Er klopfte dem Wächter, der ihn erstaunt ansah, auf die Schenkel, atmete tief auf und erhob sich. »Wir haben es geschafft! – Einfach war es nicht.«

»Was reden Sie denn da?«

»Jetzt bin ich ein gemachter Mann mit Wohnsitz in Paris – rue La Fayette treize, Office der Chicago Times und der ihr angegliederten Blätter Mister Harveys.«

»Ach so! Sie spielen verrückt! – Na, man zu.«

»Nein, mein Lieber!« – Er trat an den Wächter, der ängstlich zur Tür wich, heran und fuhr fort: »Aber merken Sie sich! Nur in Paris kann es ein Politiker zu etwas bringen. In zwei Jahren bin ich Deputierter – vorausgesetzt, daß ich mich bis dahin für eine Partei entschieden habe.«

»Sie glauben wohl, Sie werden amnestiert?« »Das Opfer wird meine Frau mir nie vergessen. Wir sind unsere Schulden los – statt in einer Taxi in den staubigen Straßen Marseilles werden wir von nun ab in einem eleganten Buik in den Champs Elysées von Paris spazieren fahren und uns in den Nachtlokalen auf dem Montmartre die Zeit vertreiben.«

»Geben Sie sich keine Mühe, Voisin! An solch Theater ist der Gerichtsarzt gewöhnt. Der fühlt Ihnen einfach den Puls und sagt: in Ordnung.«

Marot, der mit den Händen in der Tasche in der Zelle auf und ab gegangen war, überlegte, blieb stehen und sagte:

»Eigentlich müßte er schon hier sein.«

»Wenn Sie durchaus den Arzt haben wollen – aber ich sage Ihnen gleich, es nützt Ihnen nichts. Sie verlängern damit Ihr Leben nicht um fünf Minuten.«

»Ich will keinen Arzt, ich fühle mich vollkommen gesund.«

»Dann werden Sie es ja auch gut überstehen. Manche sind schon halbtot, bevor der Scharfrichter sie überhaupt in die Hand bekommt.«

Marot schüttelte sich und sagte:

»Das kommt für mich gar nicht in Frage«, und mit einem ruhigen Blick zur Tür hin fuhr er fort: »Wo bleibt er bloß?«

»Werden Sie nur nicht unruhig.«

»Für wann ist die Hinrichtung angesetzt?«

»Wie üblich – auf halb sechs Uhr.«

»Und jetzt ist es?«

»Halb fünf vorbei.«

»Ich begreife gar nicht. . .«

Der Wächter suchte ihn zu beruhigen und sagte:

»Das geht alles so schnell vorüber.«

»Wenn er sich nun im Tage irrt – oder in der Zeit?«

»Das gibt's nicht. – Bei uns klappt alles auf die Minute.«

»Ich spreche von dem Amerikaner.«

»Was für ein Amerikaner? – Ah so! der große Unbekannte! Von so einem gescheiten. Mann wie Sie hätte ich doch mal was Neues erwartet.«

»Die Erwartung wird sich hoffentlich erfüllen.«

»Sie wollen doch nicht etwa einen Fluchtversuch machen?«

»Das habe ich nicht nötig.«

»Oder rechnen Sie damit, daß man Sie gewaltsam befreit?«

»Gewaltsam nicht – aber befreien wird man mich.«

»Sie glauben, daß wir uns bestechen lassen?«

»Aber nein!«

»Das müßte dann schon – wirklich ein Amerikaner sein.«

»Davon ist gar keine Rede.«

»Ich möchte wissen, woraufhin Sie sonst freikommen sollten.«

»Vielleicht durch den Nachweis, daß ich Marot bin.«

»Sie! mit dem Unsinn hören Sie auf! Damit haben Sie sich schon in der Hauptverhandlung lächerlich gemacht.«

»Ich schwöre . . .«

»Schwören können Sie schon nicht.«

»Wieso denn nicht?«

»Weil man Ihnen die bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit aberkannt hat.«

»Und da meinen Sie . . .« – Marot stutzte, ihm kam ein furchtbarer Gedanke – »ich könnte sagen, was ich will – es würde mir doch niemand glauben!«

»Das sowieso!«

Marot entfärbte sich und rief:

»Wenn dieser Amerikaner ein falsches Spiel mit mir treibt?«

»Jetzt haben Sie es schon wieder mit diesem Amerikaner. Sagen Sie mal, wenn Sie Marot sind, wer war denn der Ermordete?«

»Es ist überhaupt niemand ermordet worden.«

»Und der Tote, der im Bett lag?«

»Das war Voisin!«

»Nun werde ich aber doch den Arzt holen.«

»Ich will keinen Arzt!« rief Marot. »Ich will Harvey.«

Draußen schlug die Uhr. – Marot horchte entsetzt – laut zählte er die Schläge:

»Eins – zwei – drei – «

»Ein Viertel vor fünf«, sagte der Wächter. Sie haben noch drei Viertelstunden Zeit!« Dann ging er zur Tür und meinte: »Wo nur das Essen bleibt!«

»Er läßt mich sitzen!« rief Marot erregt.

Im selben Augenblick hörte man, wie draußen jemand den Schlüssel ins Schloß schob. Marot atmete auf, stürzte zur Tür und rief:

»Da ist er!«

Durch die geöffnete Tür trat der Anstaltsdirektor.

Marot wich entsetzt zurück.

Der Wächter legte die Hände an die Hosennaht und stand stramm.