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Czytaj książkę: «Justizmord », strona 5

Czcionka:

8

Als sich Frau Turel, die sich ihrer Zofenstellung eigenmächtig enthoben hatte, mit einem kurzen Gruß zur Tür wandte, rief ihr Mister Harvey nach:

»Einen Augenblick, bitte!«

Frau Turel blieb stehen, wandte sich um und fragte in einem Ton, der nicht gerade höflich war:

»Was wollen Sie denn noch von mir?«

»Sie haben Ihr Staatsexamen gemacht?«

»Allerdings.«

»Würden Sie dann, wenn es zur Hauptverhandlung kommt, die Verteidigung von Frau Marot übernehmen?«

»Sie treiben schon wieder Ihren Spott mit mir.«

»Ich meine es vollkommen ernst – und zwar in Ihrem und Frau Marots Interesse.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Sie werden mit einem Schlage berühmt, wenn Sie in diesem Sensationsprozesse als Verteidiger auftreten.«

»Das ist wahr.«

»Sie werden Erfolg haben, denn die Pariser Geschworenen sind viel zu galant, um eine Frau zu verurteilen, die Sie verteidigen.«

Frau Turel stutzte, überlegte einen Augenblick und sagte dann:

»Ich werde die Verteidigung nicht übernehmen.«

»Ja, warum denn nicht?«

»Sie wollen sich einen unbequemen Zeugen vom Halse schaffen.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Aber das wäre nur ein Grund mehr.«

»Um es nicht zu tun«, ergänzte Frau Turel den Satz. »Denn wie soll ich Frau Marot erfolgreich verteidigen, wo ich zum mindesten nicht von ihrer Unschuld überzeugt bin.«

»So wenig wie ich von Ihrer«, erwiderte Dorothée und sah Frau Turel herausfordernd an, die erwiderte:

»Das sagen Sie jetzt aus Verlegenheit.«

»O nein! Und wenn der Staatsanwalt nicht von der Idee besessen wäre, daß kein anderer als ich in Frage kommt, so säßen Sie längst hinter Schloß und Riegel.«

Frau Turel trat von der Tür aus wieder ins Zimmer, sie blieb ein paar Schritte vor Dorothée stehen und sagte:

»Das ist ja unerhört, was Sie da sagen.«

»Auch irren Sie,« erklärte Dubois, »wenn Sie annehmen, daß für die Staatsanwaltschaft als Täter nur Sie in Frage kommen.«

»Wollen Sie mich nicht gegen Frau Marot in Schutz nehmen, Herr Staatsanwalt?« fragte Frau Turel erregt – , worauf Dubois erwiderte:

»Ich habe kein Recht, Frau Marot in ihrer Verteidigung zu beschränken.«

»Gut!« erwiderte Dorothée, trat dicht an Frau Turel heran und rief: »Also sage ich Ihnen den Mord auf den Kopf zu.«

Frau Turel zuckte zusammen.

»Wie kannst du nur, Dorothée!« sagte Harvey, um den Eindruck zu mildern.

»Ist es dir lieber, daß man mich verdächtigt?«

»Was für Beweise hast du?«

»Die gleichen, die man gegen mich hat.«

»Sagen Sie, was Sie wissen, Frau Marot!« drängte Dubois.

»Erinnern Sie sich noch der Nacht im Hotel Excelsior Regina?« fragte Dorothée – und Frau Turel, die ihre Fassung wiedergewonnen hatte, erwiderte:

»Als wenn es heute wäre.«

»Sie selbst haben damals erklärt, daß es keinem Laien, geschweige denn einem Verbrecher, der auf Raub oder Mord ausgeht, einfallen würde, im selben Augenblick, in dem das Licht im Zimmer erlischt, durch das Fenster einzusteigen.«

»Das ist auch heute noch meine Überzeugung.«

»Sie haben ferner erklärt, daß Sie unser Hotelzimmer vom Augenblick unserer Ankunft an unter Kontrolle gehalten haben.«

»Das ist der Fall.«

»Sie haben sich vor unserer Ankunft davon überzeugt, daß sich niemand in dem Zimmer verborgen hielt.«

»Unter Garantie.«

»Da Sie auf dem Korridor standen und die Tür unseres Zimmers nicht aus den Augen ließen, so hätten Sie demnach sehen müssen, wenn sich jemand nach elf Uhr in das Zimmer eingeschlichen hätte.«

»Unbedingt.«

»Da aber jemand im Zimmer gewesen sein muß, können nur Sie ihn eingelassen oder zuvor darin versteckt haben.«

»Alles, was Sie da vorbringen,« sagte Dubois, »hat Frau Turel selbst vor dem Untersuchungsrichter erklärt, teils schon an jenem Abend, teils später.«

»Weil sie gescheit ist.«

»Das hätte sie doch verschwiegen.«

»Weshalb?«

»Weil es den Verdacht auf sie gelenkt hätte.«

»Hat es das getan? Weder Sie noch der Untersuchungsrichter, noch einer von uns ist darauf gekommen.«

»Da hast du recht«, sagte Harvey und Dorothée fuhr fort:

»Grade damit hat sie den Verdacht von sich abgelenkt.«

»Wieso?« fragte Dubois.

» . . und zugleich vorgebeugt – für den Fall, daß man sie stellte.«

»Inwiefern?«

»Weil sie nun sagen wird: haltet ihr mich denn für so dumm, daß ich euch alle Momente, die mich belasten, aufzählen werde, wenn ich mit dem Morde auch nur das geringste zu tun hätte?«

»Erstaunlich logisch für eine Frau«, dachte Har-vey, sprach es aber nicht aus – und Dorothée, der man es ansah, wie froh sie war, endlich gesagt zu haben, was ihr längst auf der Zunge brannte, wiederholte:

»Hätte der Staatsanwalt von Anfang an für Frau Turel das gleiche Interesse bekundet wie für mich, so hätte er erklärt: Die Fußspuren im Garten lassen darauf schließen, daß jemand aus-, aber nicht eingestiegen ist. Frau Marot konnte vom Korridor aus niemanden einlassen, ohne daß Frau Turel es sah. Frau Turel konnte genau beobachten, wann das Licht gelöscht wurde. Nur sie hatte den Schlüssel zum Zimmer – , also muß sie mit dem Täter unter einer Decke stecken.«

»Ich gebe zu – , so wie du das vorträgst, klingt es überzeugend«, sagte Harvey – und Dubois fragte:

»Aus welchem Motiv sollte Frau Turel denn gehandelt haben?'»

»Hat man bei mir nach Motiven gefragt?«

»Bei Leuten, die miteinander verheiratet sind, besteht immer ein gewisser Verdacht«, meinte Harvey – und Dorothée, die viel zu erregt war, um es als Scherz zu nehmen, erwiderte:

»Eine köstliche Begründung.«

»Bestimmt nicht, um zu rauben,« sagte Dubois, der sichtlich bemüht war, Frau Turel zu entlasten, »denn da gab es im Hotel Excelsior Regina doch lohnendere Opfer.«

»Vielleicht aus Eifersucht«, erwiderte Dorothée.

»Ihr Gatte kannte Frau Turel?«

»Mir hat er es nicht erzählt.« – Sie wandte sich an Harvey. »Aber ihm vielleicht.«

»Ich hatte erst in der Mordnacht das Vergnügen, die Bekanntschaft Frau Turels zu machen«, erwiderte Harvey – , woraufhin Dubois sagte:

»Sie nehmen den Fall scheinbar noch immer nicht ernst.«

»Sie irren, Herr Staatsanwalt. Ich habe an dem Ausgang des. Prozesses ein größeres Interesse als Sie.«

»Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich . . . » fragte Frau Turel, die sich bisher beherrscht hatte.

»Seien Sie unbesorgt«, erwiderte Dubois. »Ich

übersehe die Situation.«

»Mir scheint, Sie übersehen vieles«, sagte

Harvey.

»Jedenfalls eins nicht: daß Sie in diesem Kampf

mein Gegner sind.«

Der Amerikaner wies auf Dorothée und sagte: »Ich decke eine Frau – mehr nicht.« »Genau, wie Sie Frau Turel decken«, sagte

Dorothée – woraufhin Dubois rief:

»Was fällt Ihnen ein? Glauben Sie, ich bin auf Ihre Informationen angewiesen? Wir haben Frau Turel vom ersten Tage an unter Kontrolle gehalten.«

»Was haben Sie?« fragte Frau Turel entsetzt.

»Um Ihre Wahrnehmungen zu machen, Frau Marot – dazu gehörte kein besonderer kriminalistischer Scharfsinn. Wir aber haben darüber hinaus, was Ihnen sonderbarerweise entgangen ist, festgestellt, daß Frau Turel, die Ihr Zimmer ständig, also auch im Augenblick, in dem der verhängnisvolle Schuß fiel, unter Kontrolle hielt – als eine der letzten am Tatort erschien . . .«

»Das stimmt!« rief Frau Dorothée.

» . . . als Gäste, die am Ende des Flurs wohnten, schon längst an der Zimmertür standen.«

»Was schließen Sie daraus?« fragte Frau Turel – und Dorothée erwiderte:

»Daß sie erst fortgelaufen und dann zurückgekommen sind.«

»Zum mindesten, daß Ihnen daran lag, nicht als erster am Tatort betroffen zu werden«, ergänzte Dubois.

»Sie halten es für möglich?«

»Es ist meine Pflicht, jede Möglichkeit ins Auge zu fassen.«

»Und trotzdem haben Sie es zugelassen, daß ich als Ihre Vertrauensperson unter dem Deckmantel einer Zofe hier herumspitzelte?«

»Ich halte das System, der Tat Verdächtige, die nichts miteinander zu tun haben, zusammenzubringen, mit für eins der wertvollsten Hilfsmittel zur Aufklärung eines Verbrechens »

»Und der Erfolg – in diesem Falle?« fragte Frau Turel erregt.

»Den werden Sie erfahren. – Zunächst einmal bitte ich Sie, noch heute einen Bericht zu den Akten zu geben über die Wahrnehmungen, die Sie hier im Hause gemacht haben.«

Alle stutzten. Und Frau Turel fragte: »Als Staatsanwaltsgehilfe – oder als der Tat Verdächtigte?«

»Das erfahren Sie später«, erwiderte Dubois – und Frau Turel verließ ohne einen Gruß das Haus.

9

Als Frau Turel gegangen war, stürzte Dorothée auf den Staatsanwalt zu – sie mußte sich beherrschen, daß sie ihm nicht um den Hals fiel – und rief:

»Sie haben die Beweise?«

»Was für Beweise?« fragte Dubois kühl.

»Daß Frau Turel meinen Mann ermordet hat?«

»Aber nein!«

»Sie sagten doch . . .«

»Ich hatte den Verdacht. – Seit heute früh habe ich ihn nicht mehr.«

»Sie sind also nicht . . . ihretwegen gekommen?«

»Mein Besuch gilt Ihnen, Frau Marot!«

»Was wollen Sie von mir? – Sie haben mir wochenlang zugesetzt. Soll die Quälerei von neuem beginnen?«

Dubois wies auf den Schreibtisch, der am Fenster stand und sagte:

»Bitte, öffnen Sie!«

»Es ist nichts drin außer ein paar Briefen und ganz persönlichen Dingen.«

»Grade die suche ich.«

»Es ist beinahe kränkend, für wie dumm Sie mich halten«, sagte Dorothée, während sie den Schreibtisch öffnete.

»Wieso?« fragte Dubois.

»Wenn ich meinen Mann ermordet hätte, glauben Sie, ich würde dann darüber mit meinen Freundinnen korrespondieren?«

Dubois setzte sich an den Schreibtisch, öffnete sämtliche Schübe, entnahm ihnen Stöße von Briefen und schnüffelte darin herum

Dorothée zündete sich eine Zigarette an.

Nach einer Weile fragte Dubois, der aus dem Schreibtisch ein Dokument herausgezogen und es schnell gelesen hatte:

»Gehört das auch zu der harmlosen Korrespondenz?«

Er zeigte Dorothée das Schriftstück. – Die warf nur einen Blick darauf und erwiderte:

»Die Lebensversicherung meines Mannes.«

»Über sechshunderttausend Frank! Wohl eines Verbrechens wert – zumal, wenn man sich wie Sie in mißlicher pekuniärer Lage befindet.«

Dorothée sah den Staatsanwalt unsicher an und erwiderte zögernd:

»Ich bin ja an die Versicherung gar nicht herangetreten.«

Und der Amerikaner bestätigte:

»Frau Marot hat sich die Summe nicht auszahlen lassen.«

»Grade das belastet Sie . . .«

»Nanu?« rief Harvey erstaunt, und Dubois fuhr zu Dorothée gewandt fort:

» . . . und zeugt von Ihrem schlechten Gewissen.«

»Ich . . . habe . . .«

»Es ist wohl noch nicht dagewesen«, fiel ihr Dubois ins Wort – »daß eine Frau, die das Leben ihres Mannes hoch versichert hat, sich nach dessen Tode die Summe nicht auszahlen läßt.«

»Ich . . . hätte . . . die Versicherung ja noch eingelöst.«

»Das ist nicht wahr!« widersprach Dubois. »Wie können Sie das wissen?« fragte Harvey. »Die Frist ist abgelaufen.«

Es entstand eine Pause, während der Dubois Frau Dorothée nicht aus den Augen ließ. Dann sagte der Amerikaner:

»Ich war es, der Frau Dorothée davon zurückgehalten hat.«

»Aus welchem Grunde?« »Ich bin mit Frau Marot verlobt.« »Das ist mir bekannt.« »Ich habe die Absicht, sie zu heiraten.« »Die hat man gewöhnlich, wenn man sich verlobt.«

»Das möchte ich bestreiten – ich jedenfalls habe sie.«

»Ja – und?«

»Das Geld wäre durch die Ehe mir zugefallen. – Das war mir, da Marot mein Angestellter war, ein peinliches Gefühl. Deshalb bat ich Frau Marot, darauf zu verzichten.«

»Das ist eine Erklärung, wenn sie auch nicht sehr glaubhaft klingt.«

Der Staatsanwalt legte das Dokument in seine Aktenmappe, sagte:

»Beschlagnahmt!« – und nahm aus dem Schreibtisch einen Stoß Briefe, in denen er herumblätterte. –

Plötzlich fragte er:

»Wer ist Andrée?«

»Mein Mann!«

»Das könnten Sie nun allmählich wissen«, meinte Harvey, und Dorothée, die sich kaum noch beherrschte, fragte den Amerikaner:

»Muß ich mir das denn gefallen lassen?« – Dann wandte sie sich wieder an den Staatsanwalt und fragte:

»Was wollen Sie bloß mit den Liebesbriefen aus der Zeit unserer Verlobung?«

»Gerade die interessieren mich.«

»Glauben Sie, ich hatte damals schon die Absicht, Marot umzubringen?«

Dubois richtete sich blitzschnell auf und fragte:

»Wann ist Ihnen die Absicht denn gekommen?«

»Nie!« erwiderte Dorothée.

»Aus der Erklärung, daß Sie damals die Absicht noch nicht hatten, geht doch deutlich hervor, daß Sie sie später ja hatten.«

»Sie treiben es noch so weit, daß ich Ihnen erkläre: ja! ich habe ihn ermordet! nur, um endlich zu einem Ende zu kommen«, rief Dorothée verzweifelt.

»Gestehen Sie's!« drängte Dubois.

»Nein!! – Und wenn ich es getan hätte – Ihnen würde ich es nie gestehen.«

»Weshalb nicht mir?« fragte Dubois.

»Weil Sie kein Herz haben.«

»Sie haben ihn also aus Liebe zu einem ändern Mann ermordet.«

»Sie sind ja wahnsinnig.«

Dubois erhob sich, sah Dorothée scharf an und fragte:

»Heißt dieser Mann vielleicht Henri Voisin?«

»Wa. . .?« entfuhr es Harvey, der leicht zusammenzuckte.

»Wer soll das sein?« fragte Dorothée – und der Staatsanwalt erwiderte:

»Ihr Geliebter!«

10

Hätten die Aufregungen der letzten Wochen Dorothées Nerven nicht so arg mitgenommen, hätte sie sich auch nur ein wenig von dem Humor bewahrt, der ihr früher so oft geholfen hatte – sie hätte den Staatsanwalt, der ihr mit einem völlig unbekannten Geliebten – man kann nur sagen: ins Gesicht sprang, einfach ausgelacht.

Aber sie war mürbe, müde und mißtrauisch. Nicht gewöhnt, daß man jede ihrer Äußerungen wertete, deutete und so auslegte, wie es ein um die Aufklärung eines Mordes bemühter Staatsanwalt für zweckmäßig fand, hatte sie sich zu oft in die Nesseln gesetzt, um nicht vorsichtig jedes ihrer Worte auf seine Wirkung hin zu prüfen. Statt, was ihr nahelag und ihrem Gefühl entsprach, laut aufzulachen, erwiderte sie dem Staatsanwalt, der glaubte, durch die Worte: »Henri Voisin – Ihr Geliebter!« sein Opfer endlich zur Strecke gebracht zu haben:

»Sie muten mir etwas viel zu! Einen toten Mann, der kaum unter der Erde liegt, einen Verlobten« – sie wies auf Mister Harvey – »und nun noch einen Geliebten, den ich nicht einmal dem Namen nach kenne.«

Dubois ging gar nicht darauf ein, sondern fragte ruhig und bestimmt:

»Wann haben Sie Voisin das letzte Mal gesehen?«

»Ich kenne keinen Voisin.«

Dubois wandte sich an den Amerikaner und fragte:

»Kennen Sie ihn?«

»Was soll er sein?«

»Weinreisender aus Bordeaux.«

»Und woraus schließen Sie, daß Frau Marot ihn kennt?«

»Weil er mit dem Morde in Verbindung steht.«

»Wo ist der Mann?« fragte Dorothée.

Dubois erwiderte:

»Das grade möchte ich von Ihnen hören.«

Dorothée rang verzweifelt die Hände und rief:

»So glauben Sie mir doch endlich, daß ich nichts mit dem Morde zu tun habe.«

»Wie erklären Sie dann, daß dieser Henri Voisin . . .«

»Ich habe den Namen nie gehört.«

». . . am Tage vor dem Morde in einem Hotel in Marseille abgestiegen ist, spätabends das Hotel unter Zurücklassung seines Gepäcks verlassen hat und seitdem, das heißt, also seit dem Mordtage, spurlos verschwunden ist?«

»Was geht das mich an, wenn ein Weinreisender in Marseille verschwindet?«

»Vielleicht ist ihm ein Unfall zugestoßen«, sagte Harvey – und Dorothée fügte hinzu:

»Oder er ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen.«

»In beiden Fällen hätte man seine Leiche gefunden.«

»Sie haben eine sehr hohe Meinung von der Polizei«, sagte Harvey – und Dubois ergänzte:

»Die Sie vielleicht teilen werden, wenn ich Ihnen verrate, daß es den Ermittlungen der Polizei gestern gelungen ist, festzustellen . . .«

»Was festzustellen? fragte Dorothée erregt – und der Staatsanwalt fuhr fort:

» . . . daß Henri Voisin weder einem Unfall zum Opfer gefallen ist, noch einem Verbrechen.«

»Sondern?« fragte Dorothée.

»Daß er lebt.«

»Sie haben ihn?« fragte Harvey erregt.

»Als ihn die italienische Polizei auf unser Ersuchen hin in Rovereto festnehmen wollte . . .«

»Entfloh er?« fragte der Amerikaner und Dubois erwiderte:

»Irgendwer muß ihn gewarnt haben.«

Dorothée fragte:

»Etwa ich?«

»Vermutlich.«

Dorothée wandte sich an Harvey und rief verzweifelt:

»So sag' ihm doch, daß ich seit Tagen nicht aus dem Haus gegangen bin.«

»Vielleicht haben Sie Ihren sogenannten Diener bemüht?«

»Es läßt sich doch feststellen, ob von Marseille aus ein Telegramm nach Rovereto abgesandt worden ist.«

»Es braucht ja nicht von Marseille aus gegangen zu sein.«

»Haben Sie seine Spur verloren?« fragte Harvey.

»Leider! – Aber er floh so Hals über Kopf, daß er«, und er sah dabei Dorothée scharf an, »wichtiges Beweismaterial zurückgelassen hat.«

»Genügend, um ihn zu überführen?« fragte Dorothée.

»Ihn und Sie,« sagte Dubois.

»Mich?«

Der Staatsanwalt zog eine Photographie aus der Tasche und reichte sie Dorothée.

»Mein Bild!« rief Dorothée entsetzt, und Dubois erwiderte triumphierend:

»Man hat es in seinem Zimmer gefunden.«

»Das ist ja . . . ja wie kommt . . . dieser fremde Mensch . . .?« rief Dorothée fassungslos.

»Möchten Sie sich jetzt vielleicht zu einem Geständnis bequemen?« fragte Dubois.

Dorothée sah ihn entgeistert an, schüttelte den Kopf und sagte:

»Nein!«

»Sie werden begreifen, daß ich Sie unter der Last dieses erdrückenden Beweismaterials nicht auf freiem Fuß lassen kann.«

»Dieser Photographie wegen?« fragte Dorothée, die am ganzen Körper zitterte.

»Kann dieser Henri Voisin das Bild denn nicht gestohlen haben?« fragte Harvey.

»Innerhalb der zwei Sekunden, die er im Zimmer war und den Mord ausführte?« erwiderte Dubois. »Wohl kaum.«

»Vielleicht stand das Bild auf dem Nachttisch.«

Dorothée richtete sich auf und rief:

»Er trug es in seiner Brieftasche.«

»Wer?« fragte Dubois.

»Mein Mann! Andrée!«

»Also, Herr Staatsanwalt!« sagte Harvey und lächelte hämisch: »Da die Brieftasche gestohlen wurde, so ist es ganz natürlich, daß man bei dem Mörder auch das Bild gefunden hat.«

Auch Dorothée erlangte ihre Sicherheit wieder und sagte:

»So häßlich, daß er sich davon befreien mußte, bin ich ja schließlich nicht.«

»Ich gebe die Möglichkeit zu«, sagte Dubois betreten, und Harvey erwiderte:

»Das Gegenteil wäre konstruiert.«

»Im übrigen: woher wußte man denn, daß dieser Voisin sich in Rovereto verborgen hielt?« fragte Dorothée.

»Aus einer anonymen Anzeige, die bei der Staatsanwaltschaft einging.«

»Darin bestand also Ihre Tüchtigkeit?« fragte Dorothée höhnisch.

»Ich muß Sie bitten, sich jeder Kritik meiner Amtshandlung zu enthalten.«

»Kann man dies anonyme Schreiben einmal sehen?« fragte Dorothée, und Dubois erwiderte:

»Gewiss!« – griff in die Tasche und zog einen Brief heraus. Dann fragte er: »Was wollen Sie daraus ersehen?«

»Der Schreiber muß doch ganz genau im Bilde sein«, erwiderte Dorothée und nahm den Brief, den Dubois ihr reichte.

Sie entfaltete den Brief, um ihn zu lesen – fuhr beim ersten Blick, den sie auf das Schreiben warf, zusammen, sah den Amerikaner entsetzt an und rief:

»Das ist ja deine Hand . . .«

11

Harvey fiel Dorothée ins Wort, noch bevor Dubois den Sinn ihres Ausrufes erfaßte – und fragte:

»Was haben Sie zur Festnahme des Mörders veranlaßt?«

»Ich habe einen Steckbrief hinter ihm erlassen und die Grenzen benachrichtigt.«

»Glauben Sie denn, er wird nach Frankreich zurückkehren?«

Dorothée, die noch immer das Schreiben in der Hand hielt und sich vergebens bemühte, die Zusammenhänge zu ergründen, starrte sprachlos Mister Harvey an.

»Der letzten Meldung nach,« sagte Dubois, »hat er den Riviera-Expreß benutzt.«

»Dann wäre ja alles in bester Ordnung.«

»Willst du mir nicht erklären, in welchem Zusammenhange du . . .« fragte Dorothée und wies auf den Brief.

»Erinnere dich, was ich dir damals im Hotel Excelsior Regina versprach.«

»Ich erinnere mich nicht.«

»In drei Monaten, versprach ich dir, ist alles überstanden.«

»Das sagtest du, um mich zu beruhigen.«

»Ich habe noch nie etwas versprochen, was ich nicht gehalten habe.«

Dubois, der am Schreibtisch saß und die Briefe zu einem Haufen türmte, erklärte mit einer gewissen Feierlichkeit:

»Die gesamte Korrespondenz wird beschlagnahmt.«

Dorothée, die glaubte, endlich aus jedem Verdacht heraus zu sein, stürzte.

»Ich denke, Sie kennen den Mörder?« fragte sie – und Harvey fügte hinzu:

»Und seine Verhaftung steht unmittelbar bevor?«

»Was wollen Sie dann noch von mir?«

»Der Verdacht, daß Sie den Weinhändler Henri Voisin zu dem Morde angestiftet, zum mindesten aber ihm Beihilfe geleistet haben, be steht fort.«

»Stellen Sie mich diesem – Voisin doch gegenüber!« rief Dorothée verzweifelt – und Dubois erwiderte:

»Dazu müssen wir ihn erst haben.«

»Also morgen,« sagte Harvey – »vielleicht schon heute nachmittag.«

»Wieso?« fragte Dubois erstaunt.

»Ich nehme an – da Sie ihn dank diesem anonymen Schreiben doch gestellt haben und hinter ihm her sind.«

Dubois wandte sich an Dorothée und sagte:

»Führen Sie mich in die anderen Räume. Vor allem in Ihr Schlafzimmer.«

»Suchen Sie den Weinhändler etwa in meinem Bett?« fragte Dorothée spöttisch.

»Sie werden in Ihrem Zimmer vermutlich ein Safe oder sonst verschließbare Gegenstände haben, in denen Sie Ihnen wichtige Papiere aufbewahren.«

»Ich besitze keine mir wichtigen Papiere – es sei denn, daß Sie Interesse an unbezahlten Rechnungen haben.«

»Ich muß Sie bitten, mir den gleichen Ernst entgegenzubringen wie ich Ihnen.«

»Und ich erkläre Ihnen,« erwiderte Dorothée nervös, »daß Sie ein Menschenleben auf Ihr Gewissen laden, wenn Sie nicht endlich aufhören, mich zu quälen.«

»Ich tue meine Pflicht und bin bemüht, die Untersuchung mit möglichster Schonung zu führen«, erwiderte Dubois und wandte sich zur Tür.

»Wenn es dir recht ist, Dorothée, so führe ich den Staatsanwalt durch die Wohnung.«

»Ich wäre dir dankbar! – Aber mein Schlafzimmer betritt weder er noch du.« »Ist das Zimmer verschlossen?«

»Da ich auf Ihren Besuch nicht vorbereitet war: nein! Andererseits hätte ich es verbarrikadiert! Darauf können Sie sich verlassen.«

»Sie werden begreifen, daß man eine Untersuchung wegen Mordes nicht unter Beobachtung gesellschaftlicher Formen führen kann.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, erwiderte Dorothée, wies zur Tür und sagte zu Harvey: »Bitte!«

Harvey öffnete, wandte sich an Dorothée und sagte:

»Sie gestatten, daß ich vorausgehe.«

Dann gingen beide hinaus.

Dorothée rief den Diener und trug ihm auf, nachzusehen, ob Louise das Schlafzimmer in Ordnung gebracht hatte.

Gleich darauf läutete das Telephon.

Frau Marot nahm den Hörer ab und fragte:

»Wer ist da?«

»Die Kriminalpolizei.«

»Ja, bitte!«

»Und zwar Frau Turel.«

»Was wollen Sie?« fragte Dorothée unfreundlich.

»Rufen Sie bitte Herrn Staatsanwalt Dubois an den Apparat.«

»Der soll seine Gespräche von wo anders ausführen.«

Dorothée sah nicht, daß in diesem Augenblick jemand behutsam die Flurtür ins Zimmer schob, daß ein Mann, bartlos, ungepflegt und in schlechter Kleidung ins Zimmer trat und scheu, fast furchtsam in unmittelbarer Nähe der Tür stehenblieb.

Dorothée hielt noch immer den Hörer in der Hand.

»Was sagen Sie? – Sie sind dem Mörder auf der Spur? – Er hält sich in unserer Stadt auf? Wo hat man ihn gesehen? Am Place . . . . Das ist ja in unserer unmittelbaren Nähe.«

In diesem Augenblick sagte der Mann an der Tür – leise, aber mit einer Stimme, die tiefes Gefühl verriet:

»Dorothée!«

Frau Marot wandte sich um, sah den Mann, ließ den Hörer fallen und schrie:

»Andrée!«

Es ratterte in dem Apparat.

Marot tat ein paar Schritte, blieb dann stehen und fragte:

»Bist du allein?«

Dorothée sah ihn entgeistert an. Sie schien sich noch nicht klar, ob, was sie sah, Halluzination oder Wirklichkeit war.

»Andrée!« wiederholte sie – »du lebst?«

»Wir haben es dir verschwiegen.«

»Was habt ihr?« fragte sie verständnislos.

»Harvey meinte, es sei besser, du erfährst es nicht.«

»Aber . . . wir haben dich doch . . .« sie führte die Hände vor das Gesicht – »der Sarg, die Blumen und die vielen Menschen . . .«

»Das war nicht ich.«

»Nicht du?« – Sie quälte sich mit jedem Wort. – »Und im Hotel? . . . im Bett . . . der Tote . . .?«

»Harvey wird dir alles erklären.«

Dorothée stand regungslos. Plötzlich zuckte sie jäh zusammen. Ein Gedanke kam ihr. Sie wehrte sich. Aber er hielt sie fest – ergriff Besitz von ihr.

»Andrée!« rief sie. »Ich begreife!«

»Leise, Dorothée!« flüsterte er.

Aber Frau Marot versagten die Kräfte. Sie krampfte die Hände um den Stuhl, an dem sie stand und sagte:

»Ihr habt einen anderen umgebracht.«

»Bei Gott im Himmel, nein!« erwiderte Marot und hob den Arm, als wenn er Dorothée, die weit von ihm entfernt stand, stützen wollte.