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Prekäre Eheschließungen

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Arno Haldemann

Prekäre Eheschließungen

Eigensinnige Heiratsbegehren und Bevölkerungspolitik in Bern, 1742–1848

UVK Verlag · München

Einbandmotiv: Joseph Reinhart, Hans Mast und die fünfzehnjährige Liesabett Zbinden in Guggisberg, aus dem ersten Trachtenzyklus 1791. © Bernisches Historisches Museum, Bern. Foto Stefan Rebsamen

Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet die-se Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im In-ternet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inauguraldissertation an der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern zur Erlangung der Doktorwürde vorgelegt von Arno Haldemann aus Bowil (Bern).

Von der Philosophisch-historischen Fakultät auf Antrag von Prof. Dr. Joachim Eibach und Prof. Dr. Margareth Lanzinger angenommen.

Bern, den 18. Oktober 2019

Die Dekanin: Prof. Dr. Elena Mango

ORCID: 0000-0003-2655-379X

Departement Geschichte, Universität Basel, Hirschgässlein 21, CH-4051 Basel

DOI: https://doi.org/10.24053/9783739881737

© 2021 · Arno Haldemann

Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/den ursprünglichen Autor/innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.

Zum Autor: Arno Haldemann ist Postdoc-Assistent für die Geschichte der Frühen Neuzeit am Departement Geschichte der Universität Basel. Dort forscht und lehrt er vor allem zur materiellen Dimension religiöser Praktiken in der Frühen Neuzeit. Er hat an den Universitäten Bern, Basel und an der École Pratique des Hautes Études (EPHE) in Paris Allgemeine Geschichte (Major) und Interreligiöse Studien (Minor) studiert. Seine Doktorarbeit hat er am Historischen Institut der Universität Bern abgeschlossen.

ISBN 978-3-7398-3173-2 (Print)

ISBN 978-3-7398-0571-9 (ePub)

Inhalt

  Dank

 A Einleitung1 Relevanz: Die Gegenwart der Eheschließung2 Perspektive: Eheschließung als historischer Aushandlungsprozess3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung3.1 Theorie: Eigensinn, Strategie und Taktik3.2 Begriffliches: Prekär3.3 Quellen: Rekursmanuale, Petitionen und Konsistorialmanuale3.4 Erkenntnisinteresse: Verhandelter Wandel4 Aufbau und Gliederung

 B Das ausgehende Ancien Régime (1742–1798)Reformatorische VorgeschichteDisziplinarische Konsequenzen des reformatorischen EheverständnissesZwischen religiösem Anspruch und sozialer OrdnungGesteigerte soziale Distinktion durch repressive Ehepolitik1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen1.1 Die revidierte Ehegerichtssatzung von 1743: ‚Heyl und Wolfahrt‘ unter ‚abgeänderte[r] lebens-manier der menschen‘1.2 Entvölkerungsdebatte, Volkszählung und Populationismus: Berner Biopolitik1.3 Die politische Sprengkraft des Populationismus bei Jean-Louis Muret1.4 Von der Angst vor der Entvölkerung zur Angst vor der Überbevölkerung1.5 Die letzte total revidierte Ehegesetzordnung unter dem Ancien Régime (1787)2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742–17982.1 Soziale Vielfalt heiratswilliger AkteurInnen2.2 Opponierende Parteien: Väter und Verwandte2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen im ausgehenden Ancien Régime3.1 Mehrstimmigkeit und der Ermessenspielraum der Gnade3.2 Quantitative Tendenzen3.3 Widerstreitende Urteilslogiken

 C Die Helvetik (1798–1803)EreignisseHistoriographische BeurteilungEheschließung und Sexualität1 Normen und Debatten: Säkularisierung und Demokratisierung der Ehe1.1 Helvetische Verfassung1.2 Volkszählung1.3 Zwischenzeitliche Aufhebung der Ehegerichte1.4 Petitionsrecht2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren2.1 Heiratswillige PetentInnen2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung3 Strategien: Der Umgang der helvetischen Regierung mit den Ehebittschriften

 D Die nachhelvetische Zeit bis zur Bundesstaatsgründung (1803–1848)Das Ende der Helvetik (1802/03)Die Mediationsakte und Bern (1803–1813/15)Die Restauration in Bern (1813/15–1830)Berns Regeneration (1830–1848)1 Normen und Debatten: Status quo ante?1.1 Die Restitution der alten Ehegerichtsordnung1.3 Der Versuch der Armutsbekämpfung durch Ehepolitik1.4 Neue Gesetze ohne Folgen? Zivilgesetzbuch (1824/26) und Verfassungsrevision (1830/31)2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht und dem Amtsgericht, 1803–18482.1 Anhaltend vielfältig und exogam, zunehmend mittellos und kriminell2.2 Opponierende Parteien: Gemeinden und Korporationen statt Väter und Verwandte2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken3 Strategien: Die ehepolitische Urteilspraxis der Richter im Umgang mit prekären Eheschließungen im nachhelvetischen Zeitraum3.1 Gerichtsorganisation: Vom Oberehegericht zum Amtsgericht3.2 Zunehmende Einstimmigkeit und einheitliche Gerichtslogik

  E Resultate 1 Kontinuitäten 2 Wandel

 F Quellen- und Literaturverzeichnis1 Ungedruckte Quellen1.1 Staatsarchiv Bern1.2 Schweizerisches Bundesarchiv1.3 Archives cantonales vaudoises2 Gedruckte Quellen2.1 Verwaltungsquellen2.2 Schriften3 Forschungsliteratur4 Online-Ressourcen

Dank

Dieses Buch ist das Ergebnis einer ungeheuren Gelegenheit, die mir in Form meiner Promotion zu Teil geworden ist. Finanziert wurde diese Gelegenheit vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) und anschließend von der Dr. Joséphine de Karmann-Stiftung. Die materielle Existenzsicherung ist ein sehr wesentlicher Bestandteil unabhängiger Forschung – insbesondere in den Geisteswissenschaften. Dazu kommt die Infrastruktur – Archive, Bibliotheken und Universitäten, deren Qualität stets von den Menschen abhängig ist, die sie ausmachen. Den Mitarbeiter*innen des Staatsarchivs Bern und des Bundesarchivs in Bern gilt mein Dank für die Hilfe beim Zurechtfinden in den Archivstrukturen und den entsprechenden Findmitteln und das geduldige Bereitstellen der Akten. Ohne sie wäre ich anfänglich wortwörtlich verloren gewesen. Der Belegschaft der Universitätsbibliothek Bern, insbesondere den Kolleginnen und Kollegen aus der Basisbibliothek Unitobler (BTO), gilt mein Dank für die Unterstützung bei unzähligen Ausleihen und Buchbestellungen. Die Universität Bern ist nicht nur ein ausgezeichneter Studienort gewesen, sondern hat sich auch als Arbeitgeber bewährt.

Das angesprochene Privileg wurde selbstverständlich nicht nur institutionell abgestützt, sondern vor allem von vielen unterschiedlichen Menschen in meinem akademischen und privaten Umfeld ermöglicht. Sie haben mir vier enorm bereichernde und intensive Jahre beschert. Ich durfte erfahren, dass ‚fröhliche Wissenschaft‘ stets das Ergebnis von Kooperation, Austausch, gegenseitiger Stimulation, der Unterstützung und der Kritik von Menschen aus unterschiedlichen Lebensbereichen ist. Somit ist sie stets ein kollektives Ereignis, bei dem sich im besten Fall ‚öffentliche‘ und ‚private‘ Sphären in fruchtbarer und freudvoller Weise zu überlagern beginnen.

 

Die Chance zu dieser Erfahrung hat mir Joachim Eibach eröffnet. Er hat mir während meines Studiums das Vertrauen entgegengebracht und mich als Hilfsassistent eingestellt. Nach dem Studium bot er mir die Gelegenheit im SNF-Sinergia Projekt ‚Doing House and Family. Material Culture, Social Space, and Knowledge in Transition (1700–1850)‘ einzusteigen. Für die Förderung, die großen konzeptionellen Freiheiten, die nötigen inhaltlichen Leitplanken und vor allem das enorme persönliche Engagement gilt ihm mein herzlicher Dank. In Zusammenarbeit mit Sandro Guzzi-Heeb, Claudia Opitz und Jon Mathieu hat er eine Forschungsumgebung geschaffen, die sowohl wissenschaftlich äußerst inspirierend gewesen ist als auch kollegial hervorragend funktioniert hat. Dafür gebührt ihnen allen mein bester Dank. Sandro Guzzi-Heeb möchte ich außerdem für die zahlreichen Gespräche und inhaltlichen sowie konzeptionellen Anregungen zu meiner Arbeit danken. Claudia Opitz gilt mein Dank, auch weil sie mir in der Abschlussphase der Dissertation mit der Anschlussstelle an ihrem Lehrstuhl in Basel den Vorgeschmack auf die akademische Zukunft gewährt hat.

Meinen beiden engsten Mitarbeitern Eric Häusler und Maurice Cottier danke ich für ihre Freundschaft. Sie sind maßgeblich am Gelingen dieser Arbeit beteiligt. Ohne die vielen Waldläufe, die unzähligen Manöverkritiken, die gemeinsamen Essen, heiteren Abende und bereichernden Konferenzbesuche hätte alles nicht nur wesentlich weniger Spaß gemacht, sondern wäre gar nicht erst gelungen. Den weiteren Peers im Projekt – Anne Schillig, Dunja Bulinsky, Elise Vörkel, Lucas Rappo und Sophie Ruppel – danke ich für die intensive und kollegiale gegenseitige Auseinandersetzung in Kolloquien und Workshops, an Konferenzen und im Privaten. Heinz Nauer bin ich nicht nur für seine exzellente Arbeit als Projektkoordinator zu besonderem Dank verpflichtet, sondern auch für seine wissenschaftlichen Anregungen. Aline Johner hat mich mit Perspektiven in Berührung gebracht, die meine Optik auf das Leben verändern sollten. Merci!

Uta Preimesser vom UVK Verlag bin ich dankbar für ihre sorgfältige und wertschätzende Betreuung im Prozess der Veröffentlichung dieses Buches. Die Publikation wurde vom SNF großzügig gefördert.

Jürgen Häusler danke ich für seine Gründlichkeit und Ausdauer mit meinem Manuskript. Ohne ihn wären die Sätze in meinem Text noch länger und viel kryptischer.

Andreas Kessler möchte ich für seine seit meinem Gymnasialunterricht bei ihm anhaltende Freundschaft danken, die ihn bis heute veranlasst, meine Manuskripte Korrektur zu lesen.

Vor Nicolai Loboda verneige ich mich – was ich nur Dank seinen physiotherapeutischen Interventionen überhaupt wieder kann. Er hat mir in den letzten Wochen und Monaten der Promotion nicht nur wortwörtlich den Rücken freigehalten, sondern auch für mein Seelenheil gesorgt.

Zu guter Letzt bin ich meiner Familie zu grenzenlosem Dank verpflichtet, insbesondere meiner Partnerin, die mir vor allem in der Abschlussphase mit viel Wärme, Geduld und Betreuungsarbeit unserer Kinder die Möglichkeit zu Nachtarbeit und Ausnahmezustand gewährt hat. Meinen beiden Kindern Ida und Martha danke ich für die vielen Lacher, die sie mir immer wieder bescheren und dadurch die Welt unablässig in die richtigen Verhältnisse rücken.

A Einleitung
1 Relevanz: Die Gegenwart der Eheschließung

Die gesellschaftliche Frage, was eine Ehe ist und damit verbunden, wem sie offenstehen soll, ist zumindest in der Schweiz in vollem Gange. Die noch nicht ausgestandene und zuweilen polemisch geführte Debatte um die Öffnung beziehungsweise heteronormative Festschreibung der Ehe offenbart die Notwendigkeit einer anhaltenden historisch-kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema der Eheschließung. Es ist wichtig, auf die Kontinuität historisch gewachsener Machtstrukturen einer ohnehin fragwürdigen staatlichen Beziehungsinstitution hinzuweisen, wenn 2016 eine knappe Minderheit von 49,2% der Schweizer Bevölkerung – aus vermeintlich steuerrechtlichen Gründen – die Fixierung der Diskriminierung der Sexualität und die Normierung der Lebensweise unzähliger Paare für die Zukunft in der Verfassung hinzunehmen bereit gewesen ist.1

Auf die Fragwürdigkeit solcher Anliegen hat die politische Philosophin Clare Chambers in ihrem ausgezeichneten Buch Against Marriage, An Egalitarian Defence of the Marriage-Free State unlängst aufmerksam gemacht.2 Sie kritisiert die staatlichen Eingriffe in die Gestaltung interpersoneller Beziehungen grundsätzlich. In der Folge entstünde ein Heiratsregime, das bestimmte Rechte und Pflichten lediglich aufgrund des ehelichen Status vergibt. Dies ignoriere die Tatsache, dass alle Formen der Beziehungspraxis per se Vulnerabilität generieren, die unabhängig vom staatlich sanktionierten Ja-Wort Rechtssicherheiten erfordern.

Auf den Privilegcharakter der Ehe und die damit verbundenen Machtstrukturen in der Gegenwart hat auch die Sozialwissenschaftlerin Melinda Cooper aufmerksam gemacht. In ihrem Buch Family Values, Between Neoliberalism and the New Social Conservativism hat sie auf die unheilige Allianz zwischen (amerikanischem) Sozialkonservativismus und Neoliberalismus in Bezug auf die Ehe hingewiesen. Diese Verbindung entstand ihr zufolge ab den 1960er Jahren allmählich aus Abgrenzung gegen die Befreiungsbewegungen („liberation movement“). Ziel dieser Bewegung war es, den vor allem finanziellen Schutz vor verschiedenen Risiken und die Vorsorge von der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung sowie die Aspekte der Sozialversicherung von sexuellen Normierungen zu befreien.3 Dagegen hätten in der jüngeren Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika die meisten Wohlfahrtsreformen der neoliberal-sozialkonservativen Allianz vor allem auf die Förderung von Ehen („marriage promotion“) und Bildung verantwortungsvoller Familienstrukturen („responsible family formation“) fokussiert.4 Darin erkennt die Autorin keinen Zufall: Auf der einen Seite sehen Sozialkonservative die Familie permanent durch gesellschaftlichen Zerfall – identifiziert zum Beispiel mit zunehmender Promiskuität – bedroht und wittern darin den Niedergang der traditionellen Gesellschaftsordnung, die es durch Heiratsförderung zu bewahren gilt. Auf der anderen Seite erachten Vertreter des Neoliberalismus die Familie als eine valable und kostengünstige Alternative zum Wohlfahrtsstaat, die es zu stärken gilt. Denn durch diese private Alternative als erstes wirtschaftliches Auffangnetz („primary source of economic security“) können in neoliberaler Auffassung Sozialkosten für den Staat und somit den Steuerzahler reduziert werden. Sie werden zum einen zumindest teilweise an die Familie zurückdelegiert.5 Als Beispiel könnte man hier die Sorgearbeit um Pflegebedürftige nennen, die in der Familie geleistet wird und daher nicht von der öffentlichen Hand bezahlt werden muss. Zum anderen soll die Entstehung von bestimmten Sozialkosten, zum Beispiel durch ungeschützten Geschlechtsverkehr, durch die Förderung der Eheschließung vermieden werden. So waren es gerade neoliberale Vordenker, die in Zusammenhang mit der HIV-Problematik der 1980er und 1990er Jahre, gleichgeschlechtliche Ehen befördern wollten.6 In diesem Lager der Allianz dienen also staatliche Maßnahmen, die gewöhnlich von liberaler Seite als Eingriffe in die individuelle Freiheit verurteilt werden, der Förderung spezifischer familiärer, geschlechtlicher und sexueller Normen, die den Staat und somit die Steuerzahlenden von Sozialausgaben befreien beziehungsweise entlasten sollen. Diese politische Entwicklung der Familie kann selbstverständlich nicht losgelöst von Formen der geschlechtlichen und sexuellen Normierung und somit von herrschenden Machtstrukturen in diesen und anderen Bereichen betrachtet werden.7

Vor diesem Hintergrund lässt die – aus politischen Motiven durchaus verständliche – Forderung nach der Ehe für alle aufhorchen. Denn sie wirft die Frage auf, ob mit der Erfüllung dieser Forderung tatsächlich universelles Recht durchgesetzt würde oder aber „the real issue: the persistence of disparities of power within marriage“ verschleiert würde und andere Beziehungsformen von sozialen und vorsorgerischen Sicherheiten ausgeschlossen würden.8 Der französische Intellektuelle Michel Foucault, der sich zeitlebens mit der Geschichtlichkeit von Machtbeziehungen auseinandersetzte, gab 1981 in einem Gespräch, das unter dem vielsagenden Titel Der gesellschaftliche Triumph der sexuellen Lust aufgezeichnet wurde, so auch zu bedenken:

„[W]enn die Menschen die Ehe kopieren müssen, damit ihre persönliche Beziehung anerkannt wird, ist das nur ein kleiner Fortschritt. Die Institutionen haben unsere Beziehungswelt beträchtlich verarmen lassen. Die Gesellschaft und die Institutionen, die deren Gerüst bilden, haben das Spektrum möglicher Beziehungen eingeschränkt, weil eine an Beziehungen reiche Welt sich nur schwer verwalten ließe. Gegen diese Verarmung des Beziehungsgeflechts müssen wir uns wehren. […] Statt darauf zu pochen, dass der Einzelne natürliche Grundrechte besitzt, sollten wir neue rechtliche Beziehungen erfinden und herstellen, die es gestatten, dass alle erdenklichen Beziehungen bestehen können und nicht von den die Beziehungswelt verarmenden Institutionen behindert oder blockiert werden.“9

Die Diskussion in der politischen Öffentlichkeit der Schweiz und die erwähnte historische Dekonstruktion werfen bei Historiker*innen die Fragen auf, was eine Ehe im jeweils global eingebetteten zeitgenössischen Verständnis und lokalen Kontext konstituiert und wie sie von Gesellschaft und Regierung verwaltetet wird, nach welchen Prinzipien sie also die Gesellschaft ordnet. Das heißt, wie und zwischen wem wird wo eine legitime, also anerkannte, Ehe geschlossen? Wer wird zur Ehe aufgrund welcher Kriterien zugelassen und wer wird von ihr abgehalten und somit von Privilegien ausgeschlossen? An der Klärung dieser Fragen werden zentrale Machtbeziehungen und Ordnungsmechanismen, die in einer konkreten Gesellschaft wirken, sicht- und damit hinterfragbar. An diesem kritischen Prozess – und an einer Vervielfältigung der möglichen Beziehungsformen und deren gesellschaftlicher Akzeptanz – möchte sich die vorliegende Publikation beteiligen.

2 Perspektive: Eheschließung als historischer Aushandlungsprozess

Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive stand bei der Verhandlung der zuvor erwähnten Fragen für die daran beteiligten Menschen, Gemeinschaften und Institutionen lange Zeit nicht weniger auf dem Spiel als die Herstellung und Verwaltung des einzigen legalen beziehungsweise ‚reinen‘ und privilegierten Ausgangspunkts für Paarbeziehungen, Sexualität und Fortpflanzung, Familie, Haushalt und Verwandtschaftsnetzwerke. Mit dem bevorzugten Stand der Ehe verband sich somit ein beachtlicher Teil der sozialen Ordnung. Diese Umstände kamen erst in den letzten beiden Jahrhunderten allmählich in Bewegung – und dies geschah nicht plötzlich, sondern erst allmählich, wobei die Ursachen dafür in der Geschichtswissenschaft nach wie vor umstritten sind.1 Mit dem Zentralereignis der Eheschließung waren so weitreichende Folgen verbunden, dass deren existenzielle Tragweite im Zusammenleben der historischen Subjekte kaum unterschätzt werden kann.2 Dies galt zumindest seit der Reformation in protestantischen Gebieten, weil es hier keine alternativen, zölibatären Lebenswege in geistlichen Diensten mehr gab.3 Die Heirat stellte in einer agrarischen Gesellschaft, die von Ressourcenknappheit und stark eingeschränkten Nahrungsspielräumen bestimmt war, den Schlüssel zu ökonomischen Vorteilen und rechtlicher Besserstellung schlechthin dar. Über die Ehe wurde Besitz zwischen Familien bewegt und zusammengeführt. Der Geburtsstand der Kinder, der weitreichende Folgen für ihre soziale Stellung und Erbfähigkeit hatte, war vom matrimonialen Status der Eltern abhängig.4 Die Eheschließung ermöglichte haushaltsökonomische Partnerschaft und stiftete dadurch immaterielle Solidarität, wirtschaftliche Sicherheit und Vorsorge in Zeiten von Krankheit und Arbeitslosigkeit sowie im Alter.5 Erst durch sie wurden spezifische Gefühle zulässig und möglich, die außerhalb der Ehe nicht für legitim erachtet wurden oder nicht zu realisieren waren. In ihr wurde die Sexualität für ‚rein‘ erachtet, während diese außerhalb des Ehebetts stigmatisiert und illegal war.6 Die Ehe war somit ein entscheidender Bezugspunkt frühneuzeitlicher Ehrvorstellungen. Die Eheschließung stellte für die längste Dauer der Neuzeit „eine ‚totale Tatsache‘“ im Leben historischer AkteurInnen dar, deren Realisation für die historischen Subjekte mit „Überlebenswille“ zu tun hatte, weil sie teilweise ihre grundlegendsten „Überlebensmöglichkeiten“ determinierte.7 Eine Eheschließung formte die Zukunftsaussichten von Individuen und Gemeinschaften umfassend und historisch stets in geschlechtsspezifischer Weise.8 Das beurteilen nicht nur Historiker*innen der Gegenwart so. Das sahen auch die zeitgenössischen Subjekte ähnlich, wenn sie beispielsweise formulierten, dass die Eheschließung „der wichtigste [Schritt]“ im Leben junger Menschen war.9 Folglich „begehrten“ die meisten Menschen den ehelichen Status und versuchten nachhaltig, sich diesen anzueignen.10

 

Die mit dem Begehren verbundenen Aneignungsversuche fanden nie in einem rechtsfreien Raum statt.11 Sie ereigneten sich in mächtigen zeitlichen Strukturen von lokalen Ehegesetzen und bevölkerungspolitischen Debatten, religiösen Vorstellungen und familiärer Verwandtschaftspolitik. Eheschließungen waren nicht nur begehrt, sondern auch „normiert, kontrolliert und umkämpft“, was offensichtlich auch heute noch so ist.12 Historisch betrachtet, waren sie Gegenstand von umfassenden kollektiven Ordnungsanstrengungen und obrigkeitlichen Normierungen, die im Zuge der Reformation aufgrund der Bekämpfung von klandestinen Ehen gegen den elterlichen Willen auch in katholischen Gebieten eine Intensivierung erfuhren.13 Und so gab es zahlreiche moralisch und ökonomisch begründete und gesetzlich kodifizierte Bestimmungen, die den Zugang zur Eheschließung und legitimen Sexualität begrenzten. Diese Normen strukturierten auch das Zustandekommen der Ehe, also die Form von Eheschließungen.14 Die Ehegesetze nahmen Einfluss auf die Eheführung und Geschlechterordnung und unterwarfen sie der Kontrolle der Ehegerichte. Daneben bestanden moralische, gewohnheitsrechtliche Vorstellungen lokaler Gemeinschaften und Familien, die aus dem „sozialen Nahraum“ laufend vergegenwärtigt und zum Teil in disziplinarischer Weise eingefordert wurden.15 Nicht zuletzt hatten auch die Moraltheologen der Kirche ihre Ideen von der gottgefälligen Ehe und ihrer Herstellung.16 Alle diese Faktoren formierten den multinormativen historischen Kontext der Eheschließung.17

Dennoch konstituierten Eheschließungen, vielseitigen und komplexen gemeinschaftlichen Interessen sowie Begehrlichkeiten zum Trotz, nie nur, aber letztlich immer auch Face-to-Face-Beziehungen. Darin entsprachen sie oft nicht den gesetzlichen Bestimmungen oder standen im Widerspruch zu gewohnheitsrechtlichen Idealen in lokalen Gemeinschaften. Sie konnten in Konflikt mit der Verwandtschaftspolitik der Familie geraten. Zum Teil befanden sie sich in Spannungen mit zeitgenössischen Moralvorstellungen oder stellten eine Bedrohung für gemeinschaftliche Ressourcen dar.18 Gleichzeitig konnte die Auffassung einer moralischen Ökonomie von ländlichen Gemeinschaften mit den bevölkerungspolitischen Absichten der städtischen Obrigkeit kollidieren.19 Eheschließungen waren somit „auf konstitutive Weise uneindeutig“.20 Sie oszillierten stets zwischen individuellen Bedürfnissen und Interessen unterschiedlicher Kollektive. Die Ambivalenz und Konfliktträchtigkeit, die ihnen inhärent war, begründete ihre außerordentliche gesamtgesellschaftliche „Politizität“.21 Aufgrund der weitreichenden sozialen Implikationen der Eheschließung wurde ihr Wesen kontinuierlich und zwischen ganz unterschiedlichen AkteurInnen, Gemeinschaften und Institutionen ausgehandelt.22 Das hing gerade mit dem Umstand zusammen, dass die einzelne Eheschließung in ihrem Vollzug vielfach nicht mit den gemeinschaftlichen Normvorstellungen und Ehegesetzen zur Deckung kam.23 Die vielfältige Praxis der Eheschließung erschöpfte sich nämlich keinesfalls in der Erfüllung der Normen.24 Und so existierten nicht nur zu jeder Zeit spezifische Ehevorstellungen, die entlang bestimmter „politisch-historische[r] Phasen und Konjunkturen“ verliefen.25 Daneben herrschten bereits in der jeweiligen Zeit zwischen den an der Herstellung von Ehe beteiligten AkteurInnen und Institutionen sehr unterschiedliche ideelle und praktische Assoziationen mit der Eheschließung in Bezug auf ihren Sinn und ihre Funktion. Die unterschiedlichen praktischen Interpretationen und Ausgestaltungen der Eheschließungen standen dabei oftmals in Konkurrenz zueinander. Die am praktischen Aushandlungsprozess der Ordnung beteiligten AkteurInnen konnten mit einer Eheschließung sehr unterschiedliche Interessen und Absichten verbinden. Verlobte, Nachbarn, Verwandte und die Obrigkeit mussten deshalb in der Praxis gemeinsam elaborieren, was in Bezug auf die Konstitution der Ehe ihren gesellschaftlichen „common ground“ bilden sollte.26 Während die heiratswilligen AkteurInnen eine grundlegende Verbesserung ihrer Lebenssituation anstrebten oder Heiratsunwillige im Fall einer Eheklage eine Verschlechterung derselben abzuwehren gedachten, versuchten Gemeinden und Korporationen den Zugang zu kollektiven Ressourcen und deren Belastung durch Unterstützungsbedürftige und Fremde zu begrenzen. Familien betrieben mit der gezielten Verheiratung ihrer Angehörigen Verwandtschaftspolitik. Dieser musste der individuelle Wille eines einzelnen Mitglieds untergeordnet werden.27 Die Familien sicherten damit ihren Besitz ab und erweiterten oder erschlossen neue Netzwerke, die ihnen Zugang zu Ressourcen in Aussicht stellten.28 Die Obrigkeit versuchte mithilfe von Ehegerichten und über Ehebewilligungen sowie -verbote spätestens ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur aus moralisch-religiösen, sondern vor allem auch aus bevölkerungspolitischen Gründen das Reproduktionsverhalten der Untertanen zu steuern.29 Dies erzeugte Konflikte zwischen Individuen, kommunalen Gemeinschaften und der territorialen Obrigkeit, die der Schlichtung und Mediation bedurften.