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II. Zur Unterscheidung von Recht und Moral

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Zum Verhältnis von Recht und Moral existieren ganze Bibliotheken an Literatur.[69] Zur Moral sollen hier, Theodor Geiger folgend, solche sozialen Normen gerechnet werden, deren Einhaltung bei Akteur und Beobachtern von einem Gefühl innerer Verpflichtung gestützt wird. Oft tritt auch noch eine philosophische oder religiöse Überhöhung hinzu (s.o. Rn. 21).

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Das Vorliegen von Recht ist hingegen von der Existenz staatlicher Autorität abhängig: „Von einer Rechtsordnung sprechen wir nur dann, wenn innerhalb eines nach einzelnen, nebeneinanderstehenden oder ineinander verschränkten Gruppen differenzierten Gesellschaftsmilieus eine übergeordnete Zentralmacht sich gebildet hat. … Der Struktur des Ordnungsmechanismus nach unterscheidet sich die rechtliche von der vorrechtlichen dadurch, daß ein besonderer Apparat zur Handhabung der Ordnung besteht, eigene Organe dafür ausgebildet sind.“[70]

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Recht unterscheidet sich von Moral vor allem dadurch, dass die Verletzung rechtlicher Normen durch gesellschaftlich organisierten Zwang[71] beantwortet wird (etwa gerichtlich angeordneten Vollzug oder staatliche Strafe), während die Verletzung moralischer Normen in der Regel bloß durch die eigene Gruppe sanktioniert wird oder der Eigensanktionierung durch das „Gewissen“ unterliegt. Begrifflich lassen sich Recht und Moral also klar unterscheiden.[72]

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In der Aufklärung wurde die Unterscheidung von Recht und Moral gerade im Kontext der Strafrechtsphilosophie bzw. Strafrechtspolitik besonders betont.[73] Dies hing damit zusammen, dass „Moral“ damals noch fast ausschließlich „religiöse Moral“ bedeutete, und sich die Aufklärer von den Vorgaben der Kirchen absetzen wollten, ohne freilich die Macht zu besitzen, religiöse Moral direkt angreifen zu können. So sah sich Beccaria im Vorwort zur 1766 erschienen zweiten Auflage seiner Schrift „Über Verbrechen und Strafen“ gezwungen, ausführlich darzulegen, dass er keineswegs Grundsätze vertrete, „welche Tugend oder Religion zerstören“.[74]

III. Überschneidungen

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Es existiert eine Reihe von Überschneidungen zwischen Recht und Moral, die nicht bloß theoretisch, sondern auch praktisch von großem Interesse sind. Historisch gesehen besitzen, wie oben dargelegt (Rn. 21), Recht und Moral eine gemeinsame Wurzel. Moralische Überzeugungen spielen bei der Entstehung von Gesetzen eine große Rolle, auch wenn nicht alle Gesetzgebungsvorhaben moralisch so umstritten sind wie die Reformen des Schwangerschaftsabbruchs[75] oder der Sterbehilfe.[76] Im demokratischen Staat besteht zwischen staatlichen Gesetzen und der Sozialmoral ein enger Zusammenhang. Dies gilt auch (und gerade) für Strafgesetze.[77]

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Weicht der Inhalt der Strafgesetze zu stark von der sich stetig weiter entwickelnden Sozialmoral ab, so sinkt bei den Strafverfolgungsbehörden die Bereitschaft, die Strafnormen durchzusetzen; Interpretationsspielräume werden genutzt, um die Strafnormen der Sozialmoral anzupassen. Gleichzeitig nimmt bei den Rechtsunterworfenen die Bereitschaft zur Normbefolgung ab; vereinzelte staatliche Sanktionen werden scharf kritisiert. Ein eindrucksvolles Beispiel für eine derartige Entwicklung stellt der Bedeutungsverlust der gesetzlichen Regeln über den Schwangerschaftsabbruch in den späten 70er und 80er Jahren dar.[78]

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Mit den Interpretationsspielräumen, die fast jede Strafnorm enthält, wurde bereits eine weitere wichtige Schnittstelle zwischen Recht und Moral benannt. Entscheidungsspielräume, die sich bei der Auslegung von Normen ergeben, kann der Rechtsanwender durch Eigenwertungen ausfüllen.[79] Dabei wird er sich zum einen an bereits vorhandener Judikatur, zum anderen aber an der Sozialmoral orientieren.

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Eine weitere Einbruchstelle moralischer Normen und Wertungen stellen gesetzliche Verweisungen wie § 228 StGB dar, wo ausdrücklich auf die „guten Sitten“ Bezug genommen wird. Damit wird nicht auf überpositive Moral verwiesen, aber auch nicht auf die Privatmoral des jeweiligen Rechtsanwenders. Der Verweis auf die „guten Sitten“ bedeutet vielmehr, dass der Rechtsanwender die jeweilige Sozialmoral[80] als Maßstab verwenden soll. Problematisch ist allerdings, dass der Rechtsanwender in aller Regel weder die Zeit noch die Möglichkeit besitzt, um empirische Untersuchungen vorzunehmen. Zumeist wird der Inhalt der „guten Sitten“ dem sozialen Umfeld des Rechtsanwenders und seinem eigenen „Vorverständnis“[81] entnommen sein. Da Rechtsanwender heute im Wesentlichen die Einstellungen der vorherrschenden öffentlichen Meinung teilen dürften, überrascht es nicht, dass sich in der inhaltlichen Ausfüllung der „guten Sitten“ gegenüber den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Liberalisierung vollzogen hat, die bis in die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes[82] hineinreicht.

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Darüber hinaus erfordern viele Rechtsbegriffe für ihr Verständnis den Rückgriff auf Sitte und Moral. Dies gilt etwa für den – außerordentlich vielschichtigen – Begriff der Ehre. Ehre besitzt, wer die in einer sozialen Gemeinschaft geltenden Normen der Sitte und der Moral einhält.[83] Darüber hinaus gibt es traditionell gruppenspezifische Ehrenkodizes, etwa für Adelige, für Soldaten oder für Handwerker. Aus der Ehre folgt ein bestimmter Achtungsanspruch, gerichtet auf die Einhaltung bestimmter, den Ehrträger betreffende Verhaltensregeln durch andere.[84] Das Konzept „Ehre“ ist also sowohl mit Hinblick auf die Voraussetzung der Zuschreibung von „Ehre“ als auch im Hinblick auf die Folgen dieser Zuschreibung aufs engste mit bestimmten sozialen Normen verbunden.

IV. Zur „sittenbildenden Kraft“ des Strafrechts

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Ein früher vieldiskutiertes Problem besteht darin, ob bzw. inwieweit durch die Setzung von Strafrecht die Moral beeinflusst werden kann bzw. ob die Abschaffung oder verminderte Durchsetzung strafrechtlicher Bestimmungen Auswirkungen auf die Sozialmoral hat.[85] Noch in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war bei manchen Autoren das Vertrauen in die „sittenbildende Kraft“ des Strafrechts enorm:

„Das Hauptverdienst der Strafe liegt in ihrer sittenbildenden Kraft. Sie ist das wirksamste Mittel, mit welcher der Gemeinschaftswille die soziale Wertwelt formt und festigt, neue Werte einprägt und alte im Gedächtnis erhält. Das Strafrecht predigt die sittlich-rechtlichen Grundsätze mit demjenigen Mittel, das zu allen Zeiten besonders eindrucksvoll war, mit der Macht.“[86]

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Empirisch dürfte die These von der sittenbildenden Kraft des Strafrechts allerdings kaum zu belegen sein.[87] Immerhin wird man sagen können, dass beispielsweise der Erlass des Embryonenschutzgesetzes im Jahr 1990[88] die Überzeugung von der Schutzwürdigkeit von Embryonen möglicherweise verstärkt hat; zumindest wurde den Befürwortern eines hohen Schutzniveaus ein zusätzliches Argument in die Hand gegeben. Dasselbe gilt möglicherweise für die Pönalisierung der geschäftsmäßigen Beihilfe zum Suizid (§ 217 StGB) im Jahr 2015.[89] Umgekehrt scheinen aber Tendenzen zur Entkriminalisierung selbst in moralisch besonders relevanten Kontexten nicht dazu zu führen, dass die Sozialmoral sich spürbar ändert, weil hier in der Regel (s.o. Rn. 29 f.) das Recht Entwicklungen nachvollzieht, die in der Sozialmoral bereits stattgefunden haben. Beispiele sind etwa die Entkriminalisierung des Suizids im 18. und frühen 19. Jahrhundert,[90] die Entkriminalisierung des Ehebruchs,[91] der Homosexualität unter Männern,[92] der Pornographie[93] oder des Schwangerschaftsabbruchs.[94] Ein aktuelles Beispiel für eine Liberalisierung aus dem Familienrecht ist etwa die Einführung einer „Ehe für alle“.[95]

V. Radbruchs Formel

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Umstritten ist, ob die Einhaltung bestimmter moralischer Standards als Geltungsbedingung für Recht verwendet werden kann oder sollte. Der bekannteste Vorschlag dazu stammt von dem Rechtsphilosophen, Strafrechtswissenschaftler und Rechtspolitiker Gustav Radbruch (1878–1949). Rechtsnormen, die in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande gekommen sind, sollen grundsätzlich auch dann gelten, wenn sie dem Rechtsanwender als moralisch bedenklich oder sogar unmoralisch erscheinen. Radbruch schlägt aber vor, von diesem Grundsatz bei extrem unmoralischen und geradezu „unerträglichen“ Rechtsnormen eine Ausnahme zu machen. Er verdeutlicht dies an der Frage nach der rechtlichen Relevanz nationalsozialistischer Rechtssetzung:

„Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen. An diesem Maßstab gemessen sind ganze Partien nationalsozialistischen Rechts niemals zur Würde geltenden Rechts gelangt.“[96]

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Die deutsche Rechtsprechung hat Radbruchs Formel zunächst im Zusammenhang mit der Bewältigung der durch NS-Recht gestützten Verbrechen während des „Dritten Reiches“ und zum zweiten Mal im Rahmen der „Mauerschützen-Prozesse“ gegen Grenzposten der DDR eingesetzt.[97] In der Rechtsphilosophie und Strafrechtswissenschaft ist diese Rechtsprechung auf Kritik gestoßen.[98] Zum einen ist ihre Vereinbarkeit mit dem Rückwirkungsverbot zweifelhaft, zum anderen ist unklar, wie sich der Bereich des „extrem ungerechten“ positiven Rechts präziser umschreiben lässt. Radbruchs Formulierung, es sei darauf abzustellen, dass „Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt“ und „Gleichheit … bewusst verleugnet“ wurde, hilft kaum weiter, da sich gerade die nach üblichem Verständnis verbrecherischsten Machthaber in aller Regel auf eine Ideologie stützen, die ihre Gesetze als „gerecht“ legitimiert. Die nationalsozialistische Weltanschauung und Rassenlehre enthält hierfür viele Beispiele.[99] Auch der Kreis der „Gleichheit“ lässt sich bei hinreichender Differenzierungsfähigkeit und Formulierungskunst leicht so bestimmen, dass er alle gesetzlichen Diskriminierungen abzubilden vermag.[100] Damit entsteht die Gefahr erheblicher Willkür auf Seiten der Rechtsanwender:

„Es besteht keinerlei Garantie oder auch nur Wahrscheinlichkeit dafür, dass jene Moral, die der betreffende Richter oder Bürger in seinen Rechtsbegriff aufnimmt, tatsächlich eine ‚aufgeklärte‘ Moral ist! [. . .] In der Regel wird der Betreffende seinem moralbehafteten Rechtsbegriff seine eigenen moralischen Vorstellungen zugrunde legen. Es spricht jedoch im Allgemeinen nichts dafür, dass die moralischen Vorstellungen eines Individuums oder irgendeiner bestimmten Gesellschaft in irgendeinem Sinn aufgeklärter (etwa ‚humaner‘ oder ‚gerechter‘) sind als die positiven Rechtsnormen des entsprechenden Staates. Man vergleiche beispielsweise die Einstellung unserer Bevölkerung und die Normierung unseres Grundgesetzes zur Legitimität der Todesstrafe. Es gibt eben nicht nur … den Richter oder Bürger, der, konfrontiert mit ‚Nazigesetzen‘ lieber einer humanen Moral folgen möchte. Es gibt ebenso den Richter oder Bürger, der, konfrontiert mit ‚demokratischen‘ Gesetzen …, lieber einer Nazimoral folgen möchte!“[101]

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Obwohl also Radbruchs eigene Vorschläge zur Markierung des Bereichs des schlechthin Ungerechten wenig überzeugen können, bleibt doch die Möglichkeit, auf anderen Wegen zu versuchen, einen moralischen und rechtlichen Halt zu finden, der so sicher und aussagekräftig ist, dass sich abweichendes gesetzliches Recht an ihm messen lässt. Zu denken ist insbesondere an die in der deutschen Verfassung als „Grundrechte“ positivierten Menschenrechte und die Menschenwürde sowie die entsprechenden Vorgaben auf der Ebene der Europäischen Union[102] und des Völkerrechts.[103]

1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › D. Werte

D. Werte

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Normen und Werte sind nicht dasselbe. Die Rede von Werten, ihrer Begründung, Bewahrung und Sicherung, ist in Recht und Rechtswissenschaft beinahe allgegenwärtig. Hinzu kommen damit eng verwandte Begriffsbildungen wie „Abwägung“, „wertende Entscheidung“ oder „Sachverhaltsbewertung“. Dem nahezu ubiquitären Einsatz des Werttopos entspricht freilich eine gewisse Beliebigkeit seines Gebrauchs: Ausdrücke wie „Wert“, „Wertung“ oder „Abwägung“[104] sind notorisch unterbestimmt und werden in zahlreichen, oft miteinander nicht zu vereinbarenden Bedeutungen verwendet. Dies rührt auch daher, dass die Rechtswissenschaft kein Monopol auf den Wertbegriff besitzt; vielmehr erheben Fächer wie die Ökonomie, die Politologie, die praktische Philosophie, die Psychologie, die Soziologie und die Theologie zu Recht den Anspruch, zum Wertphänomen Wesentliches beitragen zu können. Zu nennen ist schließlich auch die Beschwörung von „Werten“ im politischen Meinungskampf, etwa in Form von Klagen über angeblichen „Werteverfall“, der Forderung nach einer Besinnung auf die „gemeinsamen Werte“ (oder die „Werte des Grundgesetzes“[105]), oft verbunden mit dem Aufruf zur „Verteidigung unserer Werte“.[106]

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Um die Wertproblematik einigermaßen rational zu strukturieren, muss zunächst die grundlegende Unterscheidung zwischen einem objektiven und einem subjektiven Wertverständnis eingeführt werden.

I. Wertobjektivismus

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Nach dem objektiven Wertverständnis (Victor Kraft (1880–1975) spricht auch von „Wert-Absolutismus“[107]) existieren Werte unabhängig vom menschlichen Dafürhalten.[108] Sie sind also von menschlichen Wertungen nicht abhängig. Der bekannteste Vertreter dieser Position ist der antike Philosoph Platon (428/427–348/347 v.Z.). Nach objektivem Verständnis sind Werte überzeitlich vorgegeben, sei es durch eine göttliche Setzung, durch die Natur oder auch in der Sprache. Ein objektivierbares Wertverständnis korrespondiert häufig mit einer kognitivistischen Haltung in der Moralphilosophie, also der Vorstellung, dass die Maßstäbe des Guten und Schlechten vom Menschen erkannt werden können und nicht auf unserer eigenen Setzung, oder Entscheidung, beruhen.[109]

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Die beiden bekanntesten deutschsprachigen Vertreter des Wertplatonismus im 20. Jahrhundert waren die deutschen Philosophen Max Scheler (1874–1928) und Nicolai Hartmann (1882–1950). Ihre Thesen wurden vor allem in den 50er Jahren in der deutschen Rechtswissenschaft intensiv diskutiert und teilweise sogar von der Rechtsprechung aufgegriffen.[110] Ihre Lehren wirken in zahlreichen Formulierungen und strafrechtsdogmatischen Rechtsfiguren nach, häufig ohne dass den heutigen Juristinnen und Juristen die Herkunft ihrer Sprach- und Argumentformen bewusst wäre.

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In seiner 1921 in 2. Auflage erschienenen Schrift „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ fasst Max Scheler die Grundannahmen seines wertplatonistischen Ansatzes wie folgt zusammen:

„Es gibt eine Erfahrungsart, deren Gegenstände dem ‚Verstande‘ völlig verschlossen sind; für die dieser so blind ist wie Ohr und Hören für die Farbe, eine Erfahrungsart aber, die uns echte objektive Gegenstände und eine ewige Ordnung zwischen ihnen zuführt, eben die Werte; und eine Rangordnung zwischen ihnen. Und die Ordnung und die Gesetze dieses Erfahrens sind so bestimmt, genau und einsichtig wie jene der Logik und Mathematik; d.h. es gibt evidente Zusammenhänge und Widerstreite zwischen den Werten und den Werthaltungen und den daraus sich aufbauenden Akten des Vorziehens usw., aufgrund deren eine wahre Begründung sittlicher Entscheidungen und Gesetze für solche möglich und notwendig ist.“[111]

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Ähnlich formuliert Nicolai Hartmann:

„Die eigentliche Seinsweise der Werte ist offenkundig die eines idealen Ansichseins. Sie sind ursprünglich Gebilde einer ethisch idealen Sphäre, eines Reiches mit eigenen Strukturen, eigenen Gesetzen, eigener Ordnung. Diese Sphäre schließt sich der theoretisch idealen Sphäre, der logischen und mathematischen Seinssphäre, sowie derjenigen der reinen Wesenheiten überhaupt, organisch an. Sie ist deren Fortsetzung.“[112]

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Klar grenzt sich Hartmann gegenüber der Vorstellung ab, Werte seien nur subjektive Gefühlseinstellungen bzw. Ausdruck solcher Einstellungen:

„Der Gedanke des Ansichseins … erhebt sie über alle solche Zweifel. Er selbst wurzelt in der Tatsache, dass es so wenig möglich ist ein Wertgefühl willkürlich hervorzurufen, wie eine mathematische Einsicht willkürlich zu konstruieren. In beiden Fällen ist es ein objektiv geschautes Seiendes, das sich darbietet, welchem das Gefühl, das Schauen, der Gedanke nur folgen, aber nichts anhaben können. Man kann als wertvoll nur empfinden, was an sich wertvoll ist. Man kann freilich solchen Empfindens auch unfähig sein; aber wenn man seiner überhaupt fähig ist, so kann man mit ihm den Wert nur so empfinden, wie er an sich ist, nicht aber wie er nicht ist. Das Wertgefühl ist nicht weniger objektiv als die mathematische Einsicht.“[113]

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Wer nicht in der Lage ist, einen objektiven Wert zu „schauen“, ist für Hartmann „wertblind“.[114] Wertblindheit liegt ihm zufolge der Ansicht zugrunde, Werte seien einem historischen Wandel unterworfen:

„Es gibt auch Unbildung und Bildung des Wertgefühls, Begabung und Unbegabtheit für Wertschau. Es gibt ein individuelles Reifen des Wertorgans im Einzelmenschen, und es gibt ein geschichtliches Reifen des Wertorgans in der Menschheit. Ob das letztere immer Fortschritt bedeute, muss dahingestellt bleiben; vielleicht bringt es die Enge dieses Wertbewusstseins mit sich, dass es auf der anderen Seite immer wieder verliert, was es auf der einen gewinnt. Vielleicht gibt es auch eine Erweiterung der Enge selbst. Tatsache aber ist, dass wir immer nur begrenzte Ausschnitte aus dem Wertreich übersehen, für seinen übrigen Umfang aber wertblind sind. Das ist der Grund, warum das geschichtliche Wandern des Wertblickes mit seinem Lichtkreise auf der Ebene der an sich seienden Werte – welches sich in der Vielheit und der Vergänglichkeit der ‚Moralen‘ spiegelt – so überaus lehrreich für die philosophische Wertforschung ist. … Nicht Werte, wohl aber der Wertblick ist variabel. Aber er ist es eben deswegen, weil die Werte selbst und ihre ideale Ordnung seine Bewegungen nicht mitmachen, weil sie gegenständlich und ansichseiend sind.[115]

II. Wertsubjektivismus

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Nach der (hier zugrunde gelegten) Gegenposition sind Werte von menschlichen Wertungen, also einer bestimmten Form menschlichen Verhaltens, abhängig und insofern subjektiv. Nach subjektivem Verständnis entstehen Werte durch menschliche Wertung. Menschen werten unablässig, indem sie bestimmte Sachverhalte, Gegenstände, Personen oder Handlungen gegenüber anderen vorziehen und in diesem Sinne „positiv bewerten“: Wer im Lokal einen guten Rotwein gegenüber Weißwein bevorzugt, hat eine Wertung getroffen. Wertungen müssen freilich nicht stets positiv sein, sondern können auch negativ ausfallen, etwa dann, wenn wir einen Menschen gegenüber einem anderen vorziehen, weil wir letzteren als „unhöflich“ oder „unangenehm“ bewerten.

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Wertungen sind nicht an bestimmte Sprachformen gebunden; sie können durch Interjektionen wie „Pfui“ oder „Bravo“ und auch in der Gestik oder Mimik ebenso ausgedrückt werden wie durch Worte („gut“, „schlecht“, „wunderbar“, „hässlich“ oder „entsetzlich“).[116] Wertungen lassen sich auch durch vollständige Sätze ausdrücken, etwa in der Form „Dieses Bild ist wunderschön“ oder „Die Handlung von A war schlecht“. In beiden Sätzen tritt die Wertung in Form eines Urteils auf, gleicht also im Hinblick auf ihre Oberflächengrammatik den Tatsachenurteilen bzw. Tatsachenaussagen.[117]

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Wie die Beispiele zeigen, spielen Wertungen in vielen Bereichen des menschlichen Lebens eine Rolle. Besonders wichtig sind Wertungen in der Moral, deren Grundcode „gut“ und „böse“ ist, und der Ästhetik, die nach dem basalen Code „schön“ und“ hässlich“ bewertet. Akteure der Wertung sind menschliche Individuen, die dabei allerdings nicht völlig frei und unberechenbar handeln, sondern durch ihre Kultur und persönliche Sozialisation geprägt sind. Individuen werten also in aller Regel nicht willkürlich oder beliebig, sondern folgen einem Muster, welches einen wesentlichen Bestandteil des Charakters eines Menschen bildet.[118]

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Das dem Wertungsverhalten von Menschen zugrunde liegende Muster wird oft von anderen Menschen geteilt. Nur so ist es zu erklären, dass sich die Wertungen so vieler Menschen stark ähneln. Es gibt ein gleichförmiges gruppenspezifisches Wertverhalten (etwa wenn innerhalb eines Fußballklubs bestimmte Spieler besonders positiv bewertet werden), aber auch gemeinsame Wertungen, die bestimmte Alterskohorten, politische Parteien oder religiöse Gruppen auszeichnen. Selbst auf nationaler Ebene finden sich häufig charakteristische Wertungen, wenngleich z.B. die Rede von einem „deutschen“ oder „französischen“ Nationalcharakter nicht erst in Zeiten der Globalisierung problematisch geworden ist.[119]

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Vergrößert man den Blickwinkel noch weiter, so stößt man auf Wertungsähnlichkeiten, aber auch auf Wertungsunterschiede ganzer Kulturen bzw. Kulturräume. So wird etwa die Rolle des Individuums in Europa und den USA anders bewertet als in Ostasien. Weitere Beispiele für offenbar kulturspezifische Wertungen sind die Vorstellungen über persönliche Verantwortung, Freiheit (unter Einschluss der Vertragsfreiheit), den Wert des Lebens, Privatheit und Eigentum.[120]

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Besonders interessant sind universelle Wertungen, d.h. Wertungen, die bei allen Menschen in mehr oder weniger ähnlicher Form auftreten. Beispiele hierfür sind etwa die negative Bewertung von Hunger oder Schmerz, von willkürlichen Körperverletzungen oder von Tötungshandlungen. Es spricht viel dafür, dass sich derartige universell auffindbare Wertungen auf biologische Grundbedürfnisse (nach Nahrung, Wohlbefinden usw.) zurückführen lassen. Sie sind also sozusagen in der Natur des Menschen begründet.[121] Viele dieser universellen Wertungen scheinen negativer Natur zu sein, d.h. Menschen sind sich jedenfalls darin einig, was sie ablehnen. Universell auftretende Wertungen können eine Basis für das Konzept universeller Werte bilden.[122]

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Werte sind das Ergebnis von Wertungen; sie entstehen aus menschlichen Wertungen im Wege der Abstraktion. Die Rede von „Werten“ setzt also grundsätzlich theoretische Anstrengungen voraus. Werte bezeichnen das, was in ähnlichen Wertungssituationen die positive oder negative Wertung begründet. Wer etwa nachbarschaftliche Hilfe positiv bewertet, für den ist Nachbarschaftshilfe ein (positiver) Wert. Wird die Wertung von vielen Menschen geteilt, so handelt es sich nicht nur um einen individuellen, sondern um einen überindividuellen Wert. Was oben Rn. 50 f. von individuellen, gruppenspezifischen, gesellschaftlichen usw. Wertungen gesagt wurde, gilt auch für die sich daraus ergebenden Werte.

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Werte besitzen eine Vielzahl von sozialen Funktionen für die Individuen und Gruppen, die sie generieren.[123] Eine der wichtigsten Leistungen von Werten ist ihre Orientierungsfunktion. In diesem Sinne definiert Hillmann: Ein „soziokultureller Wert… ist eine grundlegende, zentrale, allgemeine Zielvorstellung und Orientierungsleitlinie für menschliches Handeln und soziales Zusammenleben innerhalb einer Subkultur, Kultur, oder sogar im Rahmen der Menschheit.“[124] Ähnlich formulieren Gensicke und Neumaier: „Werte sind allgemeine und grundlegende Orientierungsstandards, die für das Denken, Reden und Handeln auf individueller und auf kollektiver Ebene Vorgaben machen und dabei explizit artikuliert oder implizit angenommen werden.“[125]

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Da sich Menschen in ihren Wertungen stark ähneln, existieren auch zahlreiche gemeinsame überindividuelle Werte, die sich freilich in der Reichweite ihrer Akzeptanz unterscheiden (z.B. gruppen- und schichtspezifische, gesellschaftliche usw. Werte). Für wichtige gesellschaftliche Teilbereiche, etwa das Wirtschaftsleben,[126] werden besondere Werte reklamiert. Auch universale Werte wie Freundlichkeit oder Hilfsbereitschaft sind keineswegs selten. Die modische Betonung von kulturellen Divergenzen übersieht, dass sich Menschen weltweit in zahlreichen ihrer Grundwertungen stark ähneln.[127] Hierin zeigt sich unsere gemeinsame biologische Herkunft als Mitglieder der „Menschheitsfamilie“.[128]

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Neben der Identifizierung allgemeiner, womöglich sogar universeller Wertgrundlagen existiert noch ein zweiter Weg, um mit der Relativität und Partikularität sozialer Normierungen, Wertsetzungen und Werte rational umgehen zu können: die wissenschaftliche Erfassung und Analyse unseres Wertungsverhaltens.[129] Sie zeigt uns, welche Faktoren unsere Normen und Werte bestimmen, und ermöglicht uns so, uns von unseren normativen Konstrukten kognitiv, aber auch emotional zu distanzieren. Damit werden wir in die Lage versetzt, normativierende Prozesse, die sonst oft unbewusst ablaufen, auch und gerade im Zusammenhang mit Wertkonflikten, ins Bewusstsein zu heben und kritisch zu prüfen.[130] Aus der Distanzierung und Versachlichung entsteht die Fähigkeit, zu unseren eigenen Normen und Werten kritisch Stellung zu beziehen und sie u.U. zu ändern.