Czytaj książkę: «Ius Publicum Europaeum», strona 33

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3. Die Verfassungsrechtsprechung zwischen Cäsarismus und konstitutioneller Monarchie

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Dass der bonapartistische Cäsarismus nicht das geeignete Umfeld für die Entwicklung der Verfassungsrechtsprechung darstellte, bedarf keiner besonderen Betonung.[24] Die ohnehin bescheidenen Regelungen der Revolution erlitten seit dem Jahr VIII (1799) und dem Staatsstreich von Bonaparte Rückschläge. Erwähnenswert ist jedoch, dass die Verfassung vom 22. Frimaire Jahr VIII (13. Dezember 1799) unter dem Einfluss von Sieyès neben den beiden gesetzgebenden Kammern – dem Tribunal und dem Corps législatif – mit dem sog. Sénat conservateur eine weitere besondere Kammer schuf, welche verfassungswidrige Akte aufheben konnte, die entweder vom Tribunal oder von der Regierung vorgelegt wurden. In der Praxis nahm der Sénat conservateur die Funktion des „Hüters der Verfassung“ jedoch zu keiner Zeit wahr. Seine bloße Existenz veranlasste das Tribunal de cassation in einem Urteil vom 21. April 1802 jedoch zu der Feststellung, das Monopol des Sénat conservateur zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit schließe die Prüfung jeglicher legislativer oder exekutiver Akte durch die Richter aus.[25] Allerdings bestätigte das Tribunal de cassation das Prinzip der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gerichtsentscheidungen. Die Einsetzung des neuen Conseil d’État und der Conseils de préfecture, die die Anfänge der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich markiert, gab auch dem Conseil d’État Gelegenheit, seine Befugnis zu bestätigen, verfassungswidrige Entscheidungen eines Conseil de préfecture aufzuheben.[26] Schon im Dezember 1799 hatte der Conseil d’État entschieden, dass vorkonstitutionelle Gesetze, die der Verfassung widersprechen, durch die Verfassung als aufgehoben gelten. Die Fachgerichte, der Conseil d’État und die Conseils de préfecture waren daher zuständig, in diesem Fall die Aufhebung festzustellen. Währenddessen galt weiterhin uneingeschränkt der Grundsatz, dass weder die Richter noch die Verwaltungsbehörden befugt waren, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu überprüfen, die nach Inkrafttreten der Verfassung erlassen wurden.

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Dieser Grundsatz wurde auch unter der Julimonarchie nachdrücklich von der Cour de cassation bestätigt. In der Entscheidung Paulin vom 11. Mai 1833, die sich mit einem Gesetz befasste, das entgegen den Bestimmungen der Verfassung vom 14. August 1830 (Art. 69) keine Jury für Pressedelikte vorgesehen hatte, erklärte die Cour de cassation feierlich, dass „ein verfassungsgemäß beratenes und verkündetes Gesetz für die Gerichte verbindlich ist und nicht wegen Verfassungswidrigkeit angegriffen werden kann“.[27] Unter den Verfassungen von 1814 und 1830 konzentrierte sich die Diskussion über die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit auf einen anderen Aspekt: die Kontrolle von königlichen Verordnungen. Die Cour de cassation hatte sich der Praxis unterer Gerichte angeschlossen, die in zahlreichen Entscheidungen festgestellt hatten, dass sie eine verfassungswidrige Verordnung nicht anzuwenden hätten. Eine vom König erlassene Verordnung war damit im Streitverfahren genauso zu behandeln wie Akte einfacher Verwaltungsbehörden.[28] Im Übrigen wurde die frühere Rechtsprechung der Cour de cassation und des Conseil d’État weitgehend beibehalten.

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Die II. Republik (1848–1851) war trotz ihrer kurzen Dauer Schauplatz einer bedeutenden Neuerung, die allerdings von den Historikern kaum wahrgenommen wurde:[29] In zwei Entscheidungen von 1851 hatte die Cour de cassation sich die Kompetenz zuerkannt, die Verfassungsmäßigkeit formeller Gesetze zu überprüfen.[30] In beiden Fällen ging es um das Gesetz vom 9. August 1849 über den Belagerungszustand. Zwar gab die Cour der Einrede der Verfassungswidrigkeit in den konkreten Fällen nicht statt, bestätigte aber ausdrücklich ihr Prüfungsrecht. Der Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 von Louis-Napoleon Bonaparte, der die II. Republik beendete und die Wiederherstellung des Kaiserreichs anbahnte, verhinderte, dass diese Entscheidungen die spätere Rechtsprechung prägten.

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Die neue cäsaristische Verfassung vom 14. Januar 1852 knüpfte an zahlreiche Institutionen des Jahres VIII an. Es wurde wieder ein Sénat geschaffen, der zum „Hüter der Verfassung und der Grundfreiheiten“ bestimmt wurde (Art. 25). Die Proklamation vom 14. Januar 1852, mit der dem Volk die zukünftige Verfassung vorgestellt wurde, stellte jedoch klar, dass der Sénat kein Gerichtshof sei, sondern die Aufgabe eines obersten Schlichters (modérateur suprême) ausüben solle. Wie der Sénat conservateur des Jahres VIII nahm auch der Sénat von 1852 seine Funktion als „Hüter der Verfassung“ zu keinem Zeitpunkt wahr und wurde gegen Ende des Second Empire in eine einfache Gesetzgebungskammer umgewandelt. Auch die Rechtsprechung der Cour de cassation und des Conseil d’État blieb den früheren Prinzipien verhaftet. Allerdings bot sich der Cour de cassation auch keine weitere Gelegenheit, die Rechtsprechung, die sie am Ende der II. Republik in den Urteilen Gauthier und Gent entwickelt hatte, zu bestätigen oder aufzugeben.

§ 99 Verfassungsrechtsprechung in Frankreich › II. Entstehung und Entwicklung › 4. Die Verfassungsrechtsprechung und die demokratische Republik

4. Die Verfassungsrechtsprechung und die demokratische Republik

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Der Beginn der III. Republik im Jahre 1870, die Stärkung der Verwaltungsgerichtsbarkeit 1872 und die Rolle des Conseil d’État, die Verabschiedung der Verfassungsgesetze von 1875 und vor allem die endgültige Etablierung eines republikanischen und demokratischen Systems nach der gewaltsamen Verfassungskrise 1877 wären hinreichend Anlass gewesen, die Frage der Verfassungsrechtsprechung in Frankreich erneut aufzurollen. Aber die Grundsätze, die unter den cäsaristischen und monarchistischen Verfassungen entwickelt worden waren, wurden im Wesentlichen beibehalten. Die Cour de cassation überprüfte weiterhin die Verfassungsmäßigkeit von ihr vorgelegten Urteilen, die Verfassungsmäßigkeit von Dekreten des Präsidenten und Akten der Exekutive, einschließlich der Dekrete für die Kolonien, obwohl diese nach der herrschenden Meinung „Gesetzeskraft“ hatten.[31] Diese weitgehende Prüfungskompetenz für Akte der Exekutive wurde allerdings durch das Urteil Septfond des Tribunal des conflits vom 16. Juni 1923 beschnitten. In diesem Urteil entschied das Gericht, das 1872 zur Klärung von Zuständigkeitskonflikten zwischen der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit eingesetzt worden war, dass die ordentliche Gerichtsbarkeit, die über zivilrechtliche Streitigkeiten entscheidet, nicht selbst die Rechtmäßigkeit und damit Verfassungsmäßigkeit von Verordnungen überprüfen könne, die in den ihr vorliegenden Fällen zur Anwendung kommen, sondern dass diese Frage dem Verwaltungsgericht vorzulegen sei. Nur der Strafrichter bleibe befugt, die Rechtmäßigkeit von Verordnungen, die in einem Strafverfahren relevant sind, selbst zu prüfen.[32] Der Conseil d’État bestätigte schließlich seine Zuständigkeit zur Überprüfung der Legalität und damit Verfassungsmäßigkeit sog. Verwaltungsverordnungen (règlements d’administration publique), der höchsten Kategorie von Verordnungen der Exekutive.[33] Diesen Verordnungen, die zur Ausführung von Gesetzen aufgrund besonderer Ermächtigung durch den Gesetzgeber ergingen, wurde bis dahin Gesetzeskraft zuerkannt, was sie der Überprüfung durch den Conseil d’État entzogen hatte. Dieser Entscheidung kommt daher beachtliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, die jedoch oft übersehen wird.

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Die wesentliche Frage blieb jedoch, ob die Richter ein Recht zur Kontrolle formeller Gesetze beanspruchen und damit an die Entscheidungen der Cour de cassation Ende der II. Republik anknüpfen würden und ob diese Rechtsprechung auch auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit übertragbar wäre. Die Cour de cassation distanzierte sich 1879 definitiv von ihren Entscheidungen aus dem Jahre 1851 und verneinte unter Berufung auf das Prinzip der Gewaltenteilung jegliche Befugnis zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit.[34] Der Conseil d’État schloss sich erst 1936 nach einigen uneindeutigen Entscheidungen offiziell dieser Auffassung an.[35] Die französischen Richter waren also nicht so mutig wie das Reichsgericht der Weimarer Republik in seiner Entscheidung vom 4. November 1925.[36] Dies ist einerseits damit zu erklären, dass die Anerkennung einer richterlichen Kontrolle von Gesetzen wahrscheinlich eine heftige Reaktion des Parlaments ausgelöst hätte, das sich als Depositar der republikanischen Souveränität verstand; andererseits damit, dass die französischen Richter anders als die deutschen Richter zwar konservativ, aber damit doch nicht zugleich auch schon wieder antirepublikanisch waren.[37]

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Seit den 1890er Jahren bis zum Ende der III. Republik wurde intensiv über die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen diskutiert, die auch Gegenstand verschiedener Gesetzentwürfe war.[38] Am Widerstand der jeweiligen Mehrheit scheiterte aber schon die Debatte dieser Entwürfe. Eine beachtliche Zahl bekannter Rechtsprofessoren wie Maurice Hauriou und Léon Duguit, aber auch Raymond Saleilles, Henri Berthelémy und Felix Moreau änderte jedoch ihre ursprüngliche Meinung und sprach sich nun für eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen aus.[39] Andere Autoren lehnten jede Art von Kontrolle, ob diffus oder bei einem besonderen Verfassungsgericht konzentriert, vehement ab.[40] Die Bedenken gegen die diffuse Kontrolle wurden durch ein Buch verstärkt, das allgemein Aufsehen erregte, und in dem vor einer „Regierung der Richter“ (gouvernement des juges) unter Verweis auf die Vereinigten Staaten gewarnt wurde, wo der Oberste Gerichtshof im Wege des judicial review die Gesetzgebung im Bereich der sozialen Entwicklung beschränkt hatte.[41] Die Bemühungen des jungen Charles Eisenmann, die Gedanken von Hans Kelsen zu einer zentralen Gesetzeskontrolle aufzugreifen, fanden kaum Resonanz.[42] Ein pragmatisches Argument gegen die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen verwies darauf, dass die Verfassungsgesetze von 1875 keine Deklaration der Rechte enthielten und damit die Überprüfung von Gesetzen leerlaufen würde.

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Auch die Verfassung der IV. Republik vom 27. Oktober 1946 brachte keine wesentliche Änderung. Allerdings garantierte die Präambel neuartige, zumeist soziale Rechte und bestätigte die Bindung des verfassunggebenden Volkes an die Erklärung von 1789 sowie an die „von den Gesetzen der Republik anerkannten grundlegenden Prinzipien“. Aus dieser neuen Verfassungsgarantie konnten die Richter jedoch nicht das Recht zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen ableiten. Daher blieb es bei den Grundsätzen der Dritten Republik. Von Bedeutung ist aber, dass der Conseil d’État der Präambel der Verfassung Rechtsverbindlichkeit zusprach und damit seine Kontrollbefugnis auf Verordnungen und Akte der Verwaltung ausdehnte.[43] Allerdings verhinderte jede interpositio legislatoris zwischen Verfassung und Verordnung oder Akt der Verwaltung diese Kontrolle, weil sie eine indirekte Kontrolle des jeweiligen Gesetzes vorausgesetzt hätte.[44]

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Erwähnenswert ist schließlich auch, dass die Verfassung von 1946 ein besonderes Organ, das sog. „Comité constitutionnel“ (Art. 90–93), schuf, bei dem es sich aber schon aufgrund seiner Zusammensetzung keineswegs um ein gerichtsartiges Organ handelte. Neben dem Präsidenten der Republik, der den Vorsitz innehatte, gehörten ihm der Präsident der Nationalversammlung und der Präsident der zweiten Kammer, damals „Conseil de la République“, an sowie zehn weitere Mitglieder, die von den beiden Kammern, aber nicht aus ihren Reihen, gewählt wurden (sieben von der Nationalversammlung, drei vom Conseil de la République). Es handelte sich also eindeutig um ein politisches Organ. Dem Comité constitutionnel konnten von der Nationalversammlung verabschiedete Gesetze vor ihrer Verkündung durch den Präsidenten der Republik und den Präsidenten des Conseil de la République mit Zustimmung der Mehrheit des Conseil vorgelegt werden, zwei Organen also, die Sitz und Stimme im comité hatten. Das comité hatte nur zu prüfen, ob das ihm vorgelegte Gesetz eine Verfassungsänderung erforderlich machte; die Bestimmungen über das comité constitutionnel in Art. 90 bis 93 waren dementsprechend Teil des Titels der Verfassung über Verfassungsänderungen. Das comité musste versuchen, innerhalb sehr kurzer Fristen eine Einigung zwischen den beiden Kammern herbeizuführen. Es konnte jedoch nicht prüfen, ob das Gesetz mit den in der Präambel garantierten Rechten vereinbar war. Kam keine Einigung zwischen den Kammern zustande, so galt das Gesetz als verfassungswidrig und wurde zur erneuten Beratung an die Nationalversammlung zurückverwiesen. Das – verfassungswidrige – Gesetz konnte erst nach einer Verfassungsänderung verkündet werden. Dieser komplizierte Mechanismus kam unter der IV. Republik nur ein einziges Mal und ohne erkennbare Wirkung zur Anwendung. Es handelte sich im Grunde um einen Mechanismus, der die geschwächten Rechte des ehemaligen Sénat gegenüber der mächtigen Nationalversammlung garantieren sollte. Man kann keinesfalls von einem Verfassungsgericht sprechen und nicht einmal von einer Vorform dessen, was später der französische Conseil constitutionnel von 1958 sein würde.

§ 99 Verfassungsrechtsprechung in Frankreich › III. Aktuelle rechtliche Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit der V. Republik: der Conseil constitutionnel

III. Aktuelle rechtliche Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit der V. Republik: der Conseil constitutionnel

§ 99 Verfassungsrechtsprechung in Frankreich › III. Aktuelle rechtliche Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit der V. Republik: der Conseil constitutionnel › 1. Vom politischen Organ zum Gericht: kurze Geschichte eines Verfassungswunders

1. Vom politischen Organ zum Gericht: kurze Geschichte eines Verfassungswunders

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Wenn es heute selbstverständlich ist, vom Conseil constitutionnel als dem französischen Verfassungs“gericht“ zu sprechen, so war das ursprünglich keineswegs der Fall, denn die Väter der Verfassung vom 4. Oktober 1958 hatten diese Institution nicht als Gericht konzipiert. Sowohl die Diskussionen im Comité consultatif constitutionnel als auch im Conseil d’État im Sommer 1958 belegen deutlich, dass die Regierung bei der Ausarbeitung des Entwurfs der Verfassung, der im Wege eines Volksentscheids angenommen werden sollte, die Absicht verfolgte, jede Verwechslung des Conseil mit einem Verfassungsgericht, wie es im Ausland, insbesondere in Deutschland oder Italien damals eingesetzt worden war,[45] auszuschließen. Diese anfängliche Zurückhaltung spiegelt sich auch im Text der Verfassung wider: Dort wird weder von einem Gericht gesprochen, noch von Rechtsprechungsfunktion oder Richtern; jedes äußere Zeichen, das die Assoziation zu einem Gerichtshof nahe legen könnte, wurde sorgfältig vermieden. Bis zur Mitte der siebziger Jahre bewegte die Frage nach der Rechtsnatur des Conseil constitutionnel die Fachliteratur, jedoch ohne überzeugendes Ergebnis.[46] Die Entscheidungen dieses eigenartigen Organs, sui generis wie man mangels anderer rechtlicher Qualifikation zu sagen pflegte, interessierten kaum.[47] Es war vielmehr eine weitgehend informelle Entwicklung und eine allmähliche Änderung der Vorstellungen in der Doktrin sowie den politischen und juristischen Kreisen, die den Conseil constitutionnel zunehmend zu einem „Gericht“ machte, ein bemerkenswertes Beispiel für einen echten Verfassungswandel![48]

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Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die Rolle von Louis Favoreu. Sein Interesse am Conseil constitutionnel fand Ende der sechziger Jahre Ausdruck in einem ersten Artikel, in dem der Conseil noch als ein Organ beschrieben wird, das ausschließlich „der Regulierung der gesetzgeberischen Aktivität der öffentlichen Gewalt“[49] dient, eine zutreffende Einschätzung, die kurze Zeit später in der Entscheidung vom 16. Juli 1971 (zur Vereinigungsfreiheit) eine zentrale Rolle spielte. In dieser Entscheidung erkannte der Conseil constitutionnel den Verfassungsrang der Präambel von 1958 an und damit implizit der beiden Texte, auf die sie verweist, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und die Präambel der Verfassung vom 27. Oktober 1946 sowie darüber hinaus „die von den Gesetzen der Republik anerkannten grundlegenden Prinzipien“, auf die die Präambel der Verfassung von 1946 verweist. Das aber bedeutete, dass der Conseil constitutionnel seine Funktion nicht mehr auf die ihm ursprünglich zugewiesene begrenzte Aufgabe beschränkt sah, die Verteilung der gesetzgeberischen Zuständigkeiten zwischen Exekutive und Legislative zu überwachen und die Kompetenzen des Parlaments in den engen, verfassungsmäßigen Grenzen zu halten, sondern dass er fortan auch an der Definition und Beachtung der verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten beteiligt war. Die Verfassungsänderung vom 29. Oktober 1974 erstreckte schließlich das Recht zur Befassung des Conseil constitutionnel auch auf die parlamentarische Minderheit; damit wurde der Conseil constitutionnel nicht nur zum Garanten des parlamentarischen und demokratischen Gleichgewichts, sondern auch zum Garanten der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze der Mehrheit, die nun von der Opposition angefochten werden konnten, ein gängiges Instrument des Parlamentarismus.[50] Die Einführung des Mechanismus der „question prioritaire de constitutionnalité“ (vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit) durch Verfassungsänderung vom 23. Juli 2008, einem besonderen Verfahren zur konkreten Normenkontrolle, hat schließlich den langen Weg der Gerichtswerdung des Conseil vollendet.

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Der Conseil constitutionnel, der 1958 „keine große Sache“ war,[51] war inzwischen „groß“ geworden. Es wurde Zeit, ihm die entsprechende dogmatische Bedeutung zuzuerkennen. Er hatte nach den verschiedenen Etappen dieser „Revolutionen“ ein Recht auf eine kommentierte Sammlung seiner grandes décisions[52] und auch bald seines Que sais-je?[53] Der Conseil constitutionnel war ein echtes „Verfassungsgericht“ geworden, was wiederum Gegenstand eines anderen „Que sais-je?“ wurde.[54] Die 1990 gegründete Revue française de droit constitutionnel sollte Stimme des neuen Verfassungsrechts werden; ihr Aufgabenbereich war bereits in einer ersten Bilanz am Ende ihrer Gründungsphase in den siebziger Jahren umrissen worden: „Es ist Zeit“, schrieb Louis Favoreu 1980, „zur Kenntnis zu nehmen, dass das öffentliche Recht von vor 1970 bald das alte öffentliche Recht sein wird und dass man die Prognose wagen kann, dass die jetzt geltenden Verfassungsregeln wesentlicher Gegenstand des Verfassungsrechts sein werden“.[55] Die Publikation der ersten Auflage seines Lehrbuchs des Verfassungsrechts 1998 setzte schließlich dieses Programm um und ist ein Markstein der sog. „Schule von Aix-en-Provence“.[56]

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Im vorliegenden Beitrag wird die These vertreten, dass der Conseil constitutionnel sich nicht von selbst zu einem Verfassungsgericht entwickelt hat, sondern dass diese Entwicklung Ergebnis einer Art dialektischer Beziehung zwischen dem Conseil und einem Teil der Doktrin war, von der beide Seiten im Sinne von Legitimität und Macht profitierten: Dem Conseil constitutionnel wurden die Merkmale und Tugenden eines Gerichts zuerkannt; eine derartige Stärkung der Legitimität des Conseil constitutionnel konnte andererseits nur der Legitimität einer Verfassungsrechtswissenschaft zugutekommen, die den Conseil zu ihrem besonderen Forschungsgegenstand gemacht hatte und ganz allgemein jeden nicht rechtsprechungsbezogenen Ansatz des Verfassungsrechts als unwissenschaftlich verwarf. Die „Schule von Aix“ wurde Vordenker der herrschenden Meinung und schuf das Modell einer „normalen“ Wissenschaft des Verfassungsrechts, das man im Rückgriff auf das, was einige Kritiker in Deutschland als Bundesverfassungsgerichtspositivismus bezeichnen, Verfassungsratspositivismus (positivisme du Conseil constitutionnel) nennen könnte.[57]

§ 99 Verfassungsrechtsprechung in Frankreich › III. Aktuelle rechtliche Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit der V. Republik: der Conseil constitutionnel › 2. Die Organisation des Conseil constitutionnel

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