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3. Die Rolle des Präsidenten und des Obersten Gerichtshofes in der ex ante-Verfassungskontrolle

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Nach dem Verfassungsentwurf, der dem Parlament im Frühjahr 1918 unterbreitet wurde, sollte der Monarch verpflichtet sein, die Meinung des Obersten Gerichtshofes oder des Obersten Verwaltungsgerichtshofes bezüglich aller legislativen Gesetzesentwürfe einzuholen und, falls der Regierungsvorschlag abgeändert worden war, eine neue Meinung einzuholen bevor das Gesetz, das durch das Parlament schon angenommen worden war, bestätigt würde. In der endgültigen Verfassung überließ man solche Anfragen dem Ermessen des Präsidenten. Die gegenwärtige Verfassung enthält immer noch das Recht des Präsidenten, den Obersten Gerichtshof oder den Obersten Verwaltungsgerichtshof anzurufen, bevor ein Gesetz, das vom Parlament angenommen wurde, bestätigt wird: „Ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz ist dem Präsidenten der Republik zur Bestätigung vorzulegen. Der Präsident hat über die Bestätigung des Gesetzes innerhalb von drei Monaten zu entscheiden, nachdem das Gesetz zur Bestätigung vorgelegt worden ist. Der Präsident kann über das Gesetz ein Gutachten des Obersten Gerichtshofes oder des Obersten Verwaltungsgerichtshofes einholen.“ (Art. 77 Abs. 1)

Eine Verfassungskontrolle wird nicht ausdrücklich als Entscheidungsgrund für die Anfrage des Präsidenten bei dem Obersten Gerichtshof oder bei dem Obersten Verwaltungsgerichtshof genannt, aber verfassungsrechtliche Zweifel sind immer als legitimer Grund angesehen worden, ein solches Verfahren durchzuführen. In der Praxis hat der Präsident sich eher selten dieser Möglichkeit bedient. In zwei Fällen hat der Präsident aus verfassungsrechtlichen Gründen und in Übereinstimmung mit der Meinung des Obersten Gerichtshofes entschieden, ein Gesetz nicht zu bestätigen. Im Jahr 1923 betraf die Kontroverse das Recht auf Eigentum[35] und im Jahr 2002 die Auslegung des Selbstverwaltungsgesetzes Ålands.[36] In beiden Fällen hatte der Grundgesetzausschuss bereits eine Haltung bezüglich der verfassungsrechtlichen Frage eingenommen und der Oberste Gerichtshof war jeweils zu einer anderen Ansicht als der Ausschuss gelangt. Beide Fälle führten auch zu einem gleichen Ergebnis. Die Regierung trat den Rückzug an, indem sie den Vorschlag zurückzog und ihn durch einen neuen Vorschlag ersetzte, der mit der Ansicht des Obersten Gerichtshofes in Einklang stand.

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Die beiden Fälle scheinen den Vorrang der ex ante-Verfassungskontrolle des Grundgesetzausschusses herauszufordern. Allerdings sollte ihre Bedeutung nicht überbewertet werden: Sie bleiben außergewöhnliche Ereignisse. Außerdem kann das Eingreifen des Präsidenten erklärt und zumindest teilweise gerechtfertigt werden durch die besonderen Verantwortlichkeiten des Präsidenten und des Obersten Gerichtshofes bezüglich der Selbstverwaltung Ålands.[37]

§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland › II. Das gegenwärtige System der Verfassungskontrolle › 4. Gerichtliche ex post-Kontrolle

4. Gerichtliche ex post-Kontrolle

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Die neue Verfassung hat keinerlei formelle Veränderungen hinsichtlich der ex ante-Kontrolle mit sich gebracht, in welcher der Grundgesetzausschuss eine entscheidende Rolle spielt. Die große Neuerung betraf die Einführung einer konkreten ex post-Kontrolle der Parlamentsgesetze. Wie ich oben dargelegt habe, erlaubte die „Regierungsform“ von 1919 die gerichtliche ex post-Kontrolle von Erlassen und anderen Verordnungen, aber, zumindest nach der vorherrschenden Interpretation, nicht von Parlamentsgesetzen. Nun bestimmt Art. 106 der neuen Verfassung: „Stünde in einer durch Gericht zu verhandelnden Sache die Anwendung einer Gesetzesvorschrift im offensichtlichen Widerspruch zum Grundgesetz, hat das Gericht der Vorschrift des Grundgesetzes Vorrang einzuräumen.“

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Trotz der grundlegenden Bedeutsamkeit von Art. 106 wäre es zu voreilig, daraus zu schließen, dass die Bestimmung einen radikalen Bruch in der finnischen Verfassungsrechtstradition darstellt, nämlich einen entscheidenden Übergang von der ex ante-Kontrolle des Grundgesetzausschusses zu einer gerichtlichen ex post-Kontrolle. Die travaux préparatoires betonten den Vorrang der ex ante-Kontrolle auch unter der neuen Verfassung und diese Vorrangstellung scheint durch die Gerichte auch akzeptiert worden zu sein. Dementsprechend hat der Oberste Gerichtshof in seiner einzigen Entscheidung, bei der er sich auf Art. 106 beruft, festgestellt, dass „die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen hauptsächlich (…) dem Grundgesetzausschuss [zufällt], der im Gesetzgebungsprozess (…) die ex ante-Überwachung [ausübt]“.[38] In der Praxis kann es gut sein, dass die große Veränderung, die durch die Möglichkeit einer konkreten ex post-Kontrolle eingeleitet wurde, eine gründlichere ex ante-Überwachung mit sich bringt. In der Tat hat sich die Arbeitslast des Grundgesetzausschusses, gemessen an der Anzahl seiner Berichte, nach der Grundrechtsreform von 1995 und dem Inkrafttreten der neuen Verfassung im Jahr 2000 erhöht.

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In den travaux préparatoires der neuen Verfassung verankerte man den fortdauernden Vorrang der ex ante-Kontrolle in dem Erfordernis eines offensichtlichen Konflikts, das durch Art. 106 eingeführt (und dabei von der schwedischen Verfassung [Regeringsformen] von 1974 entliehen) wurde. Falls der Grundgesetzausschuss in seiner ex ante-Kontrolle ausdrücklich feststellt, dass ein kontroverses Gesetz nicht im Widerspruch zur Verfassung steht, ist kaum vorstellbar, dass ein Gericht einen offensichtlichen Konflikt mit einer Verfassungsbestimmung findet. Allerdings deuten die travaux préparatoires auf zwei Gelegenheiten, bei denen ein Gericht in gerechtfertigter Weise vom Standpunkt des Grundgesetzausschusses abweichen könnte. Erstens ist es möglich, dass die Verfassungsfrage, die im Zusammenhang mit einem bestimmten Fall zutage getreten ist, im Zuge der ex ante-Kontrolle völlig unbeachtet geblieben ist, so dass der Ausschuss sich dazu nicht geäußert hat. Zweitens können auch Änderungen in der Verfassungslehre ein Abweichen vom Standpunkt des Ausschusses rechtfertigen, insbesondere wenn seit der Behandlung der Angelegenheit vor dem Ausschuss eine beachtliche Zeit verstrichen ist.

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Im Allgemeinen kann man das Erfordernis eines offensichtlichen Konflikts auf zwei alternative Arten interpretieren: epistemologisch und quantitativ. Im epistemologischen Sinne bedeutet „offensichtlich“ ein Synonym für „klar“ oder „unbestreitbar“, im quantitativen Sinne „schwerwiegend“ oder „ernsthaft“. Als der Vorrang der ex ante-Kontrolle durch den Grundgesetzausschuss mit diesem Attribut verbunden wurde, wendeten die travaux préparatoires ihn im epistemologischen Sinne an. Die travaux préparatoires betonten auch, dass Art. 106 es wegen des Erfordernisses eines offensichtlichen Konflikts nicht erlaube, ein Gesetz bei weniger gravierenden Zweifeln auszusetzen. Aber selbst die quantitative Interpretation oder eine Kombination des epistemologischen Verständnisses mit dem quantitativen Verständnis kann man verteidigen. Gemäß der letzteren Auslegung wären die Gerichte nur dann berechtigt, eine Bestimmung eines Parlamentsgesetzes auszusetzen, wenn seine Anwendung zu einer klaren und schweren Verletzung eines Verfassungsgrundrechts oder einer anderen Verfassungsbestimmung führen würde.

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Wie ich unten darlegen werde, kann man die Voraussetzung eines offensichtlichen Konfliktes als Positivierung einer generellen Politik der justiziellen Selbstbeschränkung in verfassungsrechtlichen Fragen oder als ein ultima ratio-Verständnis der gerichtlichen Verfassungskontrolle verstehen. Wie ausdrücklich in den travaux préparatoires betont wurde, bleibt das vorwiegende Mittel der Gerichte, um zur Implementierung der Verfassung beizutragen, deren Pflicht, Gesetze im Einklang mit Verfassungsbestimmungen auszulegen. Dementsprechend sollten Konflikte mit der Verfassung durch „verfassungsfreundliche“ Auslegung der Parlamentsgesetze vermieden werden; nur wenn dies sich als nicht möglich herausstellt, kann auf Art. 106 zurückgegriffen werden.[39]

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Die beschränkte Natur der gerichtlichen Verfassungskontrolle wird auch durch die Tatsache unterstützt, dass die Gerichte nur mit der Macht ausgestattet sind, einen Teil der Gesetzgebung in dem betroffenen Fall auszusetzen, nicht ihn für unwirksam zu erklären. Die Macht der Gerichte erstreckt sich nicht auf eine abstrakte Beurteilung des Verhältnisses einer Gesetzesbestimmung zur Verfassung; Gerichte können nur das Ergebnis der Anwendung der umstrittenen Bestimmung auf den zu entscheidenden Fall bewerten. Demgemäß hat eine Entscheidung nach Art. 106 keine direkte Rechtswirkung außerhalb des Falles. Aber die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes und des Obersten Verwaltungsgerichtshofes haben natürlich ihre übliche Wirkung als Präzedenzfälle. Außerdem können Regierung und Parlament auf solche Präzedenzfälle reagieren, in dem sie eine Gesetzesänderung einleiten, aber dazu besteht keinerlei rechtliche Verpflichtung.

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In Bezug auf die institutionellen Möglichkeiten für eine Verfassungsrechtsprechung hat die Verfassung von 2000 das skandinavische (und US-rechtliche) dezentrale Modell angenommen: Das Recht (und die Pflicht) der Verfassungskontrolle fällt allen Gerichten zu. Das konzentrierte Modell, das sich auf ein Verfassungsgericht stützt, hatte in den Besprechungen vor der Verabschiedung der Verfassung praktisch keine Unterstützung erhalten. In den öffentlichen Diskussionen taucht diese Alternative ab und zu auf, gewöhnlich als Reaktion auf eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes oder des Obersten Verwaltungsgerichtshofes oder auf einen umstrittenen Standpunkt, den der Grundgesetzausschuss in einer politisch sensiblen Gesetzesangelegenheit eingenommen hat. Allerdings hat sich beispielsweise keine große Partei für die Errichtung eines Verfassungsgerichts ausgesprochen und die Frage wurde nicht einmal im neuesten Bericht eines Komitees für Verfassungsreformen angesprochen.[40]

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Art. 106 betrifft lediglich Konflikte zwischen Gesetzesbestimmungen und der Verfassung. Bezüglich der Normen auf niedrigerer Ebene hatte die Verfassung von 1919 bereits sowohl Gerichte als auch Verwaltungsbehörden verpflichtet, Verordnungen nicht anzuwenden, die entweder im Widerspruch zur Verfassung oder zu einem Parlamentsgesetz standen. Eine entsprechende Verpflichtung ist in Art. 107 der derzeitigen Verfassung niedergelegt:“Steht die Vorschrift einer Verordnung oder einer anderen Bestimmung unterhalb des Gesetzesranges im Widerspruch zum Grundgesetz oder einem anderen Gesetz, darf sie von dem Gericht oder einer anderen Behörde nicht angewandt werden.

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Während der Geltung der Verfassung von 1919 wurde die Macht einer gerichtlichen Kontrolle untergesetzlicher Rechtsnormen nur sehr selten ausgeübt. Jedoch finden sich in der Rechtsprechung des Obersten Verwaltungsgerichtshofes einige Entscheidungen, die kommunale Vorschriften auf der Grundlage einer Verletzung von politischen Grundrechten für verfassungswidrig erklärten. Diese Entscheidungen stammen aus den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts und bezeugen ein gesteigertes Bewusstsein für die Bedeutung der Grundrechte. Während dieser Jahrzehnte begannen auch der Ombudsmann und der Justizkanzler, sich viel häufiger als früher auf Grundrechtsbestimmungen zu beziehen.[41]

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In den ersten zehn Jahren wendeten sowohl der Oberste Gerichtshof als auch der Oberste Verwaltungsgerichtshof Art. 106 in je einem Fall an. Außerdem wurde der Artikel in einer Entscheidung eines Bezirksverwaltungsgerichts und in einer Entscheidung des Versicherungsgerichtshofes herangezogen. Drei der vier Fälle betrafen Grundrechtsangelegenheiten. Dies bekräftigt die in den travaux préparatoires der Verfassung dargelegte Einschätzung, dass Art. 106 vor allem im Bereich der Grundrechte von Bedeutung sein wird.[42] Der Fall vor dem Obersten Gerichtshof[43] betraf das Verhältnis des Erhalts von Gebäuden zum Recht auf Eigentum. Der Oberste Gerichtshof entschied unter Bezugnahme auf Art. 106, dass der Eigentümer eines Gebäudes ein Anrecht auf eine Entschädigung für wirtschaftliche Verluste durch eine einstweilige Anordnung zur Bestandserhaltung hat, obwohl das betreffende Gesetz eine Entschädigung nur auf Grundlage der endgültigen Erhaltungsentscheidung zubilligte. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof wiederum gab einer Beamtin das Recht auf Anfechtung einer Entscheidung, die sie einer anderen Verwaltungseinheit zugeteilt hatte, vor einem Verwaltungsgericht trotz der ausdrücklichen Untersagung im Gesetz über Beamte, Entscheidungen nach diesem Gesetz anzufechten. Das Gericht argumentierte, dass die Anwendung des Verbots zu einem offensichtlichen Konflikt mit Art. 21 der Verfassung bezüglich eines fairen Verfahrens geführt hätte.[44] Der Versicherungsgerichtshof (Vakuutusoikeus [VakO]) bezog sich auf die gleiche Verfassungsbestimmung, als er eine Gesetzesbestimmung aussetzte, die verbot, Entscheidungen bezüglich beruflicher Wiedereingliederung anzufechten.[45] Der einzige Fall, in dem Grundrechte keine Rolle spielten, betraf eine steuerrechtliche Bestimmung, die – gemäß dem Bezirksverwaltungsgericht Helsinki – nicht dem verfassungsrechtlichen Erfordernis der Bestimmtheit genügte. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof nahm einen anderen Standpunkt in der Sache ein und verwarf die Entscheidung des Bezirksverwaltungsgerichts.[46]

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Die vier Fälle, auf die Bezug genommen wurde, zeigen, dass Art. 106 nicht ohne Bedeutung geblieben ist. Vier Fälle in zehn Jahren, und nur je einer vor den beiden obersten Gerichten, mag wenig erscheinen. Allerdings sollte, wie ich unten darlegen werde, die gerichtliche ex post-Kontrolle nur als ultima ratio dienen. Und wenn man Vergleiche mit anderen nordischen Staaten anstellt, in denen Gerichte bereits seit Jahrzehnten mit der Macht ausgestattet waren, konkrete ex post-Verfassungskontrolle auszuüben, so ist diese Anzahl recht hoch. In Dänemark beispielsweise stammt die erste Entscheidung, in welcher der Oberste Gerichtshof eine Gesetzesbestimmung auf verfassungsrechtlicher Grundlage aussetzte, aus dem Jahr 1999, obwohl die Verfassungslehre eine solche Möglichkeit seit den Zwischenkriegsjahren zugelassen hatte.[47]

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Besondere verfahrensrechtliche Anordnungen für Fälle, in denen die Frage der Verfassungsmäßigkeit aufgeworfen wird, bestehen weder für den Obersten Gerichtshof noch für den Obersten Verwaltungsgerichtshof oder andere Gerichte. Es gibt keine Verfassungsbeschwerde oder ein Verfahren der Verweisung; die Verhandlung und die Entscheidung hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit sind Teil der regulären gerichtlichen Verfahren. Falls ein Gericht niedrigerer Instanz sich zu der Frage geäußert hat, kann dieser Aspekt der Entscheidung ebenfalls angefochten werden, aber es gibt auch kein gesondertes verfassungsrechtliches Berufungsverfahren. Die Frage kann durch eine Partei aufgeworfen werden, doch Art. 106 (und Art. 107) verpflichtet die Gerichte, die Verfassungsmäßigkeit auch auf eigene Initiative hin zu beachten, wenn sie das Recht auf die anstehenden Fälle anwenden.

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Obwohl Art. 106 alle Gerichte ermächtigt und verpflichtet, ist es wahrscheinlich, dass die Hauptlast der gerichtlichen Verfassungskontrolle dem Obersten Gerichtshof und dem Obersten Verwaltungsgerichtshof zufallen wird. Der Präsident und die Mitglieder dieser Gerichte werden durch den Staatspräsidenten auf Vorschlag der Vollversammlung des jeweiligen Gerichts ernannt. Die Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes berücksichtigt nicht nur Berufsrichter; man hat die Auswahl auch auf Rechtsanwälte, Wissenschaftler und Beamte (law drafters) ausgedehnt. Die drei Hauptgruppen, aus denen die Mitglieder des Obersten Verwaltungsgerichtshofes ausgewählt werden, sind Gerichtsbedienstete und Richter der niedrigeren Gerichtsbarkeit, Beamte und Akademiker.

§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland › III. Aspekte der Evaluierung

III. Aspekte der Evaluierung

§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland › III. Aspekte der Evaluierung › 1. Beziehungen zwischen dem Parlament und der Judikative: gerichtliche Kontrolle als ultima ratio

1. Beziehungen zwischen dem Parlament und der Judikative: gerichtliche Kontrolle als ultima ratio

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Das finnische Modell der Verfassungskontrolle hat eine beachtenswerte parlamentarische Prägung durch die zentrale Rolle des Grundgesetzausschusses beibehalten. Der Vorrang der ex ante-Verfassungskontrolle durch den Grundgesetzausschuss beschränkt die Rolle der gerichtlichen ex post-Kontrolle auf die einer ultima ratio. Die Judikative hat nicht die führende Rolle eingenommen, die Kritiker des US-Modells und des deutschen Modells angegriffen haben, sondern führt nur eine ergänzende Funktion aus. Die Notwendigkeit eines offensichtlichen Konflikts als Voraussetzung für das Aussetzen einer Bestimmung eines Parlamentsgesetzes durch ein Gericht hält Gerichte davon ab, das Verfassungsverständnis des Parlaments im Nachhinein anzuzweifeln. Zumindest die ersten zehn Jahre seit der Einführung der gerichtlichen ex post-Kontrolle haben keinen Beweis einer drohenden Vergerichtlichung – oder „juristocracy“, um Ran Hirschls Ausdruck[48] zu gebrauchen – als Folge der neuen Machtbefugnisse der Gerichte zu Tage gefördert.

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Sowohl das dezentrale US-Modell als auch das konzentrierte deutsche Modell sind großenteils auf der gleichen Basis kritisiert worden: Die gerichtliche Verfassungskontrolle widerspricht der Demokratie und der Gewaltenteilung und führt außerdem zu einer Verrechtlichung der Politik. Meine Behauptung im Folgenden geht dahin: Erstens, dass diese Kritik sich nicht auf das bezieht, was ich den „ultima ratio-Einwand“ für eine Verfassungskontrolle nenne, und zweitens, dass das finnische System die Rolle der gerichtlichen Kontrolle im Großen und Ganzen in Übereinstimmung mit dem ultima ratio-Einwand definiert.

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In den USA bleibt das Hauptanliegen der Verfassungstheorie das, was Alexander Bickel bekanntlich „counter-majoritarian difficulty“[49] nannte. Dieses Problem spielt auch eine zentrale Rolle in Jeremy Waldrons Begründung seiner Argumentation gegen eine gerichtliche Kontrolle der Gesetzgebung. Waldrons Artikel gibt mir die Gelegenheit, den ultima ratio-Einwand weiter zu entwickeln. Waldron hat seine Argumentation auf einer allgemeinen Ebene dargelegt: Angenommen sie wäre nicht nur auf die US-Variante anzuwenden, sondern würde überall dort Geltung beanspruchen, wo seine Hintergrundannahmen erfüllt sind. Wenn sie nicht vorliegen, gesteht er zu, dass das Argument möglicherweise nicht stichhaltig ist. Er trifft vier Annahmen. Wir haben es mit dem Folgenden zu tun: „[E]ine Gesellschaft mit 1) demokratischen Einrichtungen in einigermaßen gutem Arbeitszustand, einschließlich einer repräsentativen Legislative gewählt auf der Basis eines allgemeinen Erwachsenenwahlrechts; 2) ein Bestand von gerichtlichen Einrichtungen, wieder in einigermaßen gutem Zustand, auf einer nichtrepräsentativen Basis eingerichtet, um individuelle Klagen anzuhören, Dispute zu schlichten und die Rechtsstaatlichkeit aufrecht zu erhalten; 3) einer Verpflichtung von Seiten der meisten Mitglieder der Gesellschaft und der meisten ihrer Beamten auf den Gedanken der Individual- und Minderheitenrechte; und 4) bestehender, substantieller und aufrichtiger Uneinigkeit über Rechte (d.h. was die Verpflichtung auf die Rechte eigentlich beinhaltetet und was die Implikationen sind) unter den Mitgliedern der Gesellschaft, die dem Gedanken der Rechte verpflichtet sind.“[50]

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Waldrons Argumentationsgerüst beruht auf einem zweigleisigen Argument. Erstens, dass gerichtliche Kontrolle dazu neigt, die wahren, auf dem Spiel stehenden Angelegenheiten zu verschleiern, wenn Bürger divergierende Ansichten von Rechten haben, und sich auf die „Nebensächlichkeiten von Präzedenzfällen, Texten und Interpretation“[51] zu konzentrieren. Das ist das Argument der Vergerichtlichung. Zweitens – und das entspricht der counter-majoritarian difficulty – ist gerichtliche Kontrolle vom demokratischen Standpunkt aus ungesetzlich: „Indem man eine Mehrheitsabstimmung von einer kleinen Anzahl nicht gewählter und niemandem Rechenschaft schuldiger Richter privilegiert, werden normale Bürger entrechtet und gehegte Prinzipien der Repräsentation und politischen Gleichheit in der endgültigen Lösung von Grundrechtsfragen beiseite gefegt.“[52]

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Das Standardargument hinsichtlich der Demokratie betont die Unumgänglichkeit von politischen Auswahlmöglichkeiten in einer auf Rechten basierenden Verfassungsrechtsprechung. Kritiker behaupten, dass, selbst wenn die geschriebene Verfassung einen Grundrechtskatalog enthält, die Bestimmungen vage sind und Spielraum für abweichende, sogar gegensätzliche Auslegungen lassen. Die Anwendung des abstrakten Textes des Grundrechtskatalogs setzt eine Abwägung und einen Ausgleich, entweder zwischen einander gegenüberstehenden Rechten oder zwischen Rechten und policy-Erwägungen, die ihre Einschränkung rechtfertigen, voraus. Wenn es ein Gesetz für unwirksam erklärt, ersetzt das Gericht als nicht gewähltes und demokratisch nicht verantwortliches Organ die Werte oder politischen Präferenzen der Legislative mit seinen eigenen. Wenn vernünftige Menschen bezüglich Grundrechtsfragen in vernünftiger Weise unterschiedlicher Ansicht sind, sollten diese eher in einem demokratisch organisierten politischen Verfahren anstelle eines gerichtlichen Verfahrens und eher durch repräsentative als gerichtliche Gremien entschieden werden. Gerichtliche Verfassungskontrolle und andauernder gerichtlicher Vorrang widersprechen unvermeidlich den Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung. Die counter-majoritarian difficulty erweist sich dementsprechend als unlösbar.[53]

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Auf den ersten Blick mag der Angriff auf die Verfassungsrechtsprechung auf Grundlage ihrer methodischen Ausrichtung inkonsistent erscheinen: Gerichtliche Verfassungskontrolle wird sowohl für zu wenig als auch für zu viel policy-Gestaltung gescholten. Die amerikanischen Rechtsrealisten verurteilten den konzeptionellen Deduktivismus der Gerichte der Lochner-Zeit und riefen zu einer offenen policy-Argumentation auf. Entlang der gleichen Argumentationslinie behaupten heutige Kritiker, dass die Gerichte dazu neigen, moralische und ethische oder politische Kontroversen in konzeptionelle und dogmatische Probleme umzudeuten und so die wahre Fragestellung zu verdecken. Das ist die erste Linie von Waldrons Argumentation gegen gerichtliche Kontrolle. Eine andere Richtung der kritischen Beurteilung behauptet, dass das unentrinnbare Abwägen und Ausgleichen die Verfassungsrechtsprechung politisiert und die Richter in Entscheidungen politischer Natur einbindet, wofür ihnen die demokratische Legitimierung fehlt. Die zwei äußerlich gegensätzlichen Behauptungen bezüglich zu wenig und zu viel policy-Gestaltung werden beide verwendet, um zu bestreiten, dass gerichtliche Kontrolle der Gesetzgebung gerechtfertigt sein kann.

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Kritiker und Befürworter der Verfassungskontrolle haben unterschiedliche Ansichten bezüglich der Kontrollierbarkeit des gerichtlichen Abwägens und Ausgleichens. Die Verfassungslehre hat Werkzeuge entwickelt, die zu deren Objektivität oder zumindest Intersubjektivität beitragen sollen, das einflussreichste davon die Verhältnismäßigkeitsprüfung, die durch das deutsche Bundesverfassungsgericht eingeführt und nachfolgend durch viele andere Gerichtsbarkeiten übernommen wurde. Die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips spielt auch bei dem Erfordernis, das Grundrechtsbeschränkungen gemäß der finnischen Lehre erfüllen müssen, eine Rolle. Aber diejenigen, welche die Rechtfertigbarkeit der Verfassungskontrolle durch die Justiz angreifen, entdecken in der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächliche Wurzel der gerichtlichen Usurpation politischer Macht.[54] Im Gegensatz dazu loben die Befürworter der Verfassungskontrolle die Verhältnismäßigkeitsprüfung als Garantie der Rationalität und Kontrollierbarkeit der Grundrechtsrechtsprechung.[55]

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Die Kritik hat auf den Mangel der demokratischen Legitimierung der Gerichte wie auch auf den Mangel der institutionellen Kompetenz hingewiesen, die für policy-Entscheidungen, die mit der Verfassungsrechtsprechung angeblich einhergehen, unverzichtbar ist. Sowohl die Zusammensetzung der Gerichte als auch das gerichtliche Verfahren spiegeln das Ziel wider, für konkrete Parteien ein faires Verfahren zu sichern; im Gegensatz dazu machen sie die Judikative schlecht geeignet für die policy-Analyse und Argumentation. Für die US-amerikanische legal process-Schule der 1950er und 1960er Jahre war dies der wirkliche Grund, die Rolle der gerichtlichen Kontrolle zu beschränken,[56] und selbst heutzutage wird regelmäßig darauf verwiesen.[57]

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Waldrons Hauptargumente betreffen zwei allgemeine Gefahren, welche die kritischen Beobachter der Über-Konstitutionalisierung in Deutschland beunruhigt haben: die Politisierung der Rechtsprechung und die Vergerichtlichung der Politik. Das Erstere wird als Konsequenz der Beteiligung der Judikative an der policy-Gestaltung gesehen: Die Judikative dringt auf Gebiete vor, die in einem demokratischen Rechtsstaat (einer konstitutionellen Demokratie) der demokratisch gewählten Legislative vorbehalten sein sollten. Die Behauptung der Vergerichtlichung der Politik ist Waldrons Anschuldigung der gerichtlichen Kontrolle, die politische zu rechtlich-dogmatischen Fragen macht, immanent. Aber die Vergerichtlichung und die Verkrüppelung des politischen Diskurses können auch – vielleicht etwas paradox – als die Kehrseiten der Politisierung der Rechtsprechung betrachtet werden. Verfassungsrechtliche Überlegungen erlegen der Entscheidungsfreiheit der Legislative Beschränkungen auf und die Gesetzgebung wird zunehmend als verfassungsrechtlich festgelegt angesehen, als das Entfalten der logischen Schlussfolgerungen der grundlegenden Wertentscheidungen, die bereits auf der Verfassungsebene getroffen wurden. Das kommt dem nahe, was Tushnet die Verzerrung und Entkräftung der mehrheitlich legislativen Entscheidungsfindung genannt hat, die durch die Injektion von „zu vielen Verfassungsnormen im Prozess der Gesetzgebung, die die legislativen Überlegungen über andere wohl wichtigere Dinge verdrängt“, voranschreitet.[58]

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Zusammengefasst wird die Ablehnung der Verfassungskontrolle auf den Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung sowie auf der angeblichen Gefahr der Politisierung der Rechtsprechung und der Vergerichtlichung der Politik aufgebaut. Dabei gibt es zwei mögliche Wege, um der Kritik zu begegnen: entweder die Diskussion auf einer allgemeinen Ebene weiter zu führen oder die Annahmen zu hinterfragen, auf welche die Argumentation aufgebaut ist und die Waldron – verdienstvoll! – zu formulieren versucht hat. Die letztere Strategie bringt es mit sich, die Diskursebene zu wechseln und Beispiele einzubringen, die, wie in Finnland, von besonderen Modellen oder Umständen der Verfassungskontrolle abgeleitet sind.

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Auf einer allgemeinen Ebene können wir die Auffassung von Demokratie, die in der Diskussion um die counter-majoritarian difficulty und durch so berühmte Kritiker der Verfassungskontrolle wie Waldron und Richard Bellamy vertreten wurde, problematisieren. Sie setzt Demokratie mit dem Mehrheitsprinzip gleich, das zunächst in Wahlen und dann im Entscheidungsprozess in der gewählten Legislative angewendet wird. Bei dieser Ansicht verletzt jede Abweichung vom Mehrheitsprinzip die Demokratie. Andere Demokratiekonzepte, wie diejenigen, die Jürgen Habermas oder Ronald Dworkin annahmen, können zu einer abweichenden Bewertung der Verfassungskontrolle führen.

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Habermas’ Verständnis von Demokratie betont die Rolle der diskursiven Überlegungen und die Notwendigkeit, die Zivilgesellschaft vor allem in Diskussionen über ethische und moralische Aspekte von Gesetzesangelegenheiten einzubinden.[59] Im Gegensatz zu der Ansicht, die das Mehrheitswahlsystem bevorzugt, beschränkt das Konzept der deliberativen Demokratie die Felder für demokratische Prozesse nicht auf die Gesetzgebung. Es gibt keine konzeptionellen Gründe, weshalb die verfassungsrechtliche Rechtsprechung nicht von Diskursen umgeben sein sollte, die auch der Zivilgesellschaft und nicht nur der juristischen Elite zugänglich sind. Tatsächlich zeigt uns die Erfahrung der Vereinigten Staaten, wie Dworkin oft betont, Beispiele von auf Prinzipien ruhenden Debatten über verfassungsrechtliche Grundsatzfälle.[60] Andererseits überlässt eine von der Idee der deliberativen Demokratie beeinflusste verfassungsrechtliche Prüfung den Vorrang klar demokratischen gesetzgebenden Prozessen und betrachtet damit eine auf Grundrechten basierende verfassungsrechtliche Prüfung als letztes Mittel, einem eventuellen Versagen durch Nichteinbeziehung von Grundrechten in den Gesetzgebungsprozess entgegenzuwirken.

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Diese Ansicht der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung enthält einen Ruf nach richterlicher Zurückhaltung. In der Regel sollten die Gerichte die policy-Entscheidungen der Legislative nicht umstoßen. Das Gewaltenteilungsprinzip als Aufteilung der Aufgaben zwischen Legislative, Exekutive und Judikative sowie die damit verbundenen institutionellen Kompetenzen bringen es in der Regel mit sich, dass die policy-Gestaltung in das Aufgabengebiet der Legislative und der Exekutive fallen sollte. Auf der anderen Seite ist klar, dass verfassungsrechtliche Rechtsprechung ohne Abwägung und Ausgleich zwischen konkurrierenden Rechten oder Rechten und policy-Erwägungen, die Beschränkungen der Rechte fordern, undenkbar ist. Dies ist zwar kein ausreichendes Argument, um die ganze Idee einer gerichtlichen Verfassungskontrolle abzulehnen, aber es erlegt der Verfassungslehre die Aufgabe auf, Mittel zu entwickeln, die zur Kontrollierbarkeit des Abwägens und Ausgleichens beitragen, wie etwa die Verhältnismäßigkeitsprüfung. In den Augen der Gegner der Verfassungskontrolle, könnte dies eine Vergerichtlichung der verfassungsrechtlichen – lies: politischen! – Angelegenheiten anzeigen. Allerdings ist nicht jegliche Vergerichtlichung automatisch schlecht; es könnte so etwas wie gesunde Vergerichtlichung, mit Bezug auf die legitimen Aufgaben der Verfassungslehre im Funktionsgefüge des rechtlichen und politischen Systems, geben.