Czytaj książkę: «Ius Publicum Europaeum», strona 18

Czcionka:

bb) Justizialisierung politischer Konflikte im Organstreitverfahren

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Im Organstreitverfahren können einzelne Organe oder Organteile Streitigkeiten über ihre verfassungsrechtlichen Rechte und Pflichten einer Entscheidung durch das BVerfG zuführen.[361] Es handelt sich um ein kontradiktorisches Streitverfahren.[362] Grundsätzlich kann dabei jedes Organ diejenigen Rechte und Pflichten geltend machen, die seinem Verfassungsrechtskreis zuzuordnen sind.[363] Im Zentrum stehen Kompetenzstreitigkeiten.[364] Das Organstreitverfahren dient nicht primär der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Organhandeln, sondern in erster Linie der Klärung des verfassungsrechtlichen Verhältnisses zwischen zwei Organen oder Organteilen in einer konkreten Streitfrage.[365] Mögliche Beteiligte des Organstreitverfahrens sind neben den obersten Bundesorganen[366] auch „andere Beteiligte“ und Organteile. Als Organteil wird eine Person oder Personengruppe innerhalb eines Organs qualifiziert, die über eigene Rechte verfügt, wie etwa der Bundestagspräsident (Art. 39 Abs. 3 Satz 2 und Art. 40 Abs. 2 GG), die Mitglieder der Bundesregierung[367] und die Ausschüsse und Fraktionen im Bundestag.[368] Auch die Abgeordneten können Organteil sein, wenn sie Rechte des gesamten Bundestages geltend machen.[369]

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Die Funktion des Organstreitverfahrens erklärt sich aus seinen historischen Ursprüngen in der ersten Hälfte 19. Jahrhunderts. Damals kam dem Staatsgerichtshof die Aufgabe zu, Streitigkeiten zwischen dem Landesherr und Ständen bzw. der Volksvertretung zu entscheiden, die sich auf den Inhalt oder die Auslegung der jeweiligen Verfassung bezogen.[370] Es ging dabei insbesondere um die gerichtliche Entscheidung von Kompetenzstreitigkeiten. Das Organstreitverfahren stellt ein deutsches Spezifikum dar, das sich trotz dieser historischen Vorläufer erst unter dem Grundgesetz wirkungsvoll durchsetzte. Zwar sah die Paulskirchenverfassung 1849 ein Organstreitverfahren auf Reichsebene vor. Die tatsächlich in Kraft getretenen Verfassungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten den Organstreit allerdings wieder aufgegeben, weil sich die Kritik an einer richterlichen Entscheidung über Fragen politischer Machtverteilung letztlich durchsetzte.[371] Erst unter dem Grundgesetz setzte sich die Idee durch, dass Verfassungsstreitigkeiten über die Kompetenzen verschiedener Verfassungsorgane keine rein politische Frage sind, sondern einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden sollten.

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Die politische Bedeutung der Streitigkeiten wird dadurch aber nicht beseitigt. Das Organstreitverfahren ermöglicht vielmehr unmittelbar die gerichtliche Austragung parteipolitischer Streitigkeiten. Dies dokumentieren auch die kontroversen und für die Fortentwicklung des politischen Prozesses bedeutenden Entscheidungen etwa zur Parteienfinanzierung,[372] zur Zulässigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr[373] und der parlamentarischen Mitbestimmung bei der europäischen Integration.[374] Das BVerfG kann mit Hilfe des Organstreitverfahrens in den Kernbereich politischer Auseinandersetzungen eingreifen. Dadurch übernimmt es eine Schlichtungsfunktion zwischen der parlamentarischen Mehrheit und der parlamentarischen Minderheit. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass als „andere Beteiligte“ auch politische Parteien anerkannt sind[375] und dass Minderheiten im Bundestag unter bestimmten Umständen als „Organteile“ beteiligt sein können.[376] Das Organstreitverfahren erfüllt vor diesem Hintergrund die Funktion, sicherzustellen, dass die Ergebnisse gesellschaftlicher Willensbildungsprozesse im demokratisch-politischen System Ausdruck finden können.[377] Letztlich stellt das Organstreitverfahren damit eine prozedurale Möglichkeit zur Verwirklichung des Demokratieprinzips dar, die es ermöglicht, dass jedes Organ seine ihm zukommende demokratische Funktion im Zusammenspiel mit anderen Organen optimal ausgestalten und gegen Übergriffe durch andere Organe sichern kann.[378] Die Rationalisierungswirkung, die darin liegt, birgt aber zugleich auch die Gefahr der Entpolitisierung politischer Konflikte.

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Für die Wirkungsmacht und die große Akzeptanz des BVerfG sind die prozessuale Ausgestaltung der jeweiligen Verfahrensarten und ihre spezifische Kombination von erheblicher Bedeutung. Die Verfassungsbeschwerde sticht durch die zahlenmäßigen Bedeutung, die Breitenwirkung und die Identifikationskraft heraus. Wirklich schlagkräftig wird das BVerfG aber erst durch die Kombination der Verfassungsbeschwerde insbesondere mit den Normenkontrollverfahren und den Organstreitverfahren, die dem BVerfG Bedeutung als Schlichtungsorgan im politischen Raum verleihen und den Vorrang der Verfassung prozeduralisieren.

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › II. Das aktuelle rechtliche Setting: Kammergericht – Bürgergericht – Maßstabsgericht › 3. Die Entscheidung: Gestaltungsanspruch und Rationalisierung

3. Die Entscheidung: Gestaltungsanspruch und Rationalisierung

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Die Bedeutung prozessrechtlicher Regelungen für die Gestaltungsmacht des BVerfG lässt sich auch mit Bezug auf die Entscheidungen des Gerichts nachzeichnen (a). Von mindestens ebenso großer Bedeutung sind die Ausgestaltung (b) sowie die Präsentation und wissenschaftliche Aufarbeitung (c) der Entscheidungen. Sie tragen wesentlich zur Breiten- und Tiefenwirkung der Rechtsprechung des BVerfG bei.

a) Bindungswirkung und Durchsetzungsmacht

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Je nach Verfahrensart kann das BVerfG unterschiedliche Entscheidungsaussprüche formulieren. Allen Entscheidungen ist gemeinsam, dass sie als Urteil ergehen, wenn zuvor eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, anderenfalls als Beschluss.[379] Unabhängig vom konkreten Ausspruch in den unterschiedlichen Verfahrensarten binden Entscheidungen des BVerfG nach § 31 Abs. 1 BVerfGG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. In dieser Regelung liegt zunächst eine Erstreckung der Rechtskraft der Entscheidungen auf nicht am Prozess beteiligte Akteure.[380] Uneinig sind sich die beiden Senate bezüglich der Frage, ob der Gesetzgeber an normverwerfende gerichtliche Entscheidungen gebunden ist oder ob er die Freiheit hat, ein inhaltsgleiches Gesetz erneut zu erlassen.[381] Aus demokratietheoretischer Perspektive ist es überzeugend, dem Gesetzgeber die Freiheit zu belassen, eine einmal verworfene Regelung erneut zu erlassen, weil sich die Bindungswirkung selbst nur aus einem einfachen Gesetz ergibt, welches der Gesetzgeber jederzeit ändern könnte.[382]

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Unabhängig davon, wie häufig die Normwiederholung in der Praxis ist,[383] stellt § 31 Abs. 1 BVerfGG ein wichtiges Instrument zur Stärkung der Autorität des Gerichts dar. Nach der Rechtsprechung des BVerfG erfasst die Bindungswirkung nicht nur den Tenor und die Entscheidungsformel, sondern auch die „tragenden Gründe“ seiner Entscheidungen.[384] Das Gericht begründet dies mit seinem Selbstverständnis als „maßgebliche[m] Interpret und Hüter der Verfassung“.[385] Kritik ruft nicht nur die schwierige Abgrenzung zwischen tragenden und nicht tragenden Gründen einer Entscheidung hervor,[386] sondern auch der paternalistische Duktus des zugrundeliegenden Selbstverständnisses[387] und die potenziell versteinernde Wirkung einer solchen Bindungswirkung.[388] Gleichwohl ist es zutreffend in dieser weiten und vom Gesetz zumindest nahegelegten Bindungswirkung eine wichtige Autoritätsressource des BVerfG zu erblicken,[389] die anderen europäischen Verfassungsgerichten nicht zur Verfügung steht oder nicht in gleicher Weise genutzt wurde.[390] In ihrer weiten Lesart sorgt die Bindungswirkung dafür, dass Entscheidungen des BVerfG die öffentliche Gewalt verpflichten und ein Abweichen durch den Gesetzgeber zumindest insoweit rechtfertigungsbedürftig ist, als dieser die grundsätzliche Autorität des BVerfG als zur Verfassungsauslegung berufenes Gericht zu respektieren hat.[391]

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Die Wirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen wird zudem dadurch gestärkt, dass § 31 Abs. 2 BVerfGG die Gesetzeskraft von Normenkontrollentscheidungen[392] anordnet und vorsieht, dass diese Entscheidungen im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen sind. Die Vorschrift stellt klar, dass Normenkontrollentscheidungen über den in § 31 Abs. 1 BVerfGG genannten Kreis hinaus gegenüber jedermann verbindlich sind.[393] Dies dient dazu, die abstrakt-generelle Wirkung von Gesetzen mit den Wirkungen der Normverwerfung zu synchronisieren und die Allgemeinverbindlichkeit der Rechtsordnung zu sichern.[394]

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Schließlich wird die effektive Wirkung der Entscheidungen des BVerfG auf prozessualer Seite durch zwei weitere Regelungen komplettiert. Das BVerfG kann gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG auf die einstweilige Anordnung zurückgreifen, um sicherzustellen, dass die nachfolgenden Entscheidungen tatsächlich wirksam werden und umgesetzt werden können.[395] Überdies kann das BVerfG nach § 35 BVerfGG selbst bestimmen, wer seine Entscheidungen mit welchen Mitteln vollstreckt. Das BVerfG versteht hierunter den „Inbegriff aller Maßnahmen, die erforderlich sind, um solche Tatsachen zu schaffen, wie sie für die Verwirklichung des vom BVerfG gefundenen Rechts notwendig sind“.[396] Diese Bestimmung ist gleichwohl nicht als Blankovollmacht des BVerfG zu verstehen, nach Belieben die verfassungsrechtliche oder gesetzliche Kompetenzordnung zu durchbrechen.[397] Auch das BVerfG ist bei der Ausübung seiner Vollstreckungskompetenz verfassungsrechtlich und gesetzlich gebunden.[398] Die Vorschrift dient dazu, den Vorrang der Verfassung prozessual abzusichern.[399] Das BVerfG hat von dieser Vorschrift inzwischen weitreichend Gebrauch gemacht[400] und sie in einer Weise genutzt, die stilprägend für die Form seiner Entscheidungen geworden ist und inhaltlich über die effektive Durchsetzung derselben hinausgeht.[401]

b) Entscheidungsabsicherung durch Übergangsregelungen, Maßstabsbildung und Kohärenzerfordernisse

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Das BVerfG hat seine Vollstreckungskompetenz vor allem dazu genutzt, im Bereich der Normenkontrollentscheidungen Übergangsregelungen einzuführen, die dafür Sorge tragen sollen, dass aus der Feststellung der Nichtigkeit einer Norm auch dann Konsequenzen erwachsen, wenn der Gesetzgeber nicht aktiv wird. In Ergänzung hierzu hat es mit der bloßen Erklärung der Verfassungswidrigkeit eine in Gesetz und Verfassung nicht vorgesehene Entscheidungswirkung erfunden, die es ihm erlaubt zu verhindern, dass bis zur gesetzlichen Neuregelung unerwünschte Nebeneffekte eintreten. Das BVerfG beschränkt die Entscheidung auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm und ordnet deren befristete Weitergeltung an, wenn durch die Nichtigkeit der Norm ungewollte Beeinträchtigungen des Gemeinwohls eintreten.[402] Ähnliche Techniken lassen sich in der Entscheidungspraxis anderer europäischer Verfassungsgerichte nachweisen, die unter Rückgriff auf vergleichbare Argumente die Entscheidungswirkungen feinsteuern.[403] Zur Feinsteuerung gehört auch, dass das BVerfG die Erklärung der Verfassungswidrigkeit bisweilen mit einem Appell zur Neuregelung an den Gesetzgeber verbindet.[404]

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In anderen Fällen hat das BVerfG dagegen nach der Nichtigkeitsfeststellung selbst detaillierte Übergangsregelungen festgelegt, die einer positiven gesetzlichen Regelung nahe kommen. Prägnanteste Beispiele hierfür sind die Entscheidung zur Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch (§ 218 StGB)[405] und die Übergangsregelung nach der Nichtigkeitsfeststellung der bisherigen Regelungen zur Bestimmung der Höhe der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.[406] In den Urteilen zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs hatte das BVerfG zunächst die vom Gesetzgeber eingeführte neue Fristenregelung für nichtig erklärt und bis zu einer Neuregelung angeordnet, dass der Schwangerschaftsabbruch weiter strafbar bleiben müsse, allerdings nicht nach der strikten früheren gesetzlichen Regelung, sondern in einer durch das BVerfG modifizierten Form. Im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch legte das Gericht eine umfassende Übergangsregelung fest, die im Detail vorsah, wie das neue Beratungssystem für Schwangere organisatorisch und inhaltlich auszusehen habe. Der Gesetzgeber übernahm diese Übergangsregelung später im Wesentlichen. Im Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz hat das BVerfG eine Übergangsregelung zur Sicherstellung der existenziellen Bedürfnisse der Betroffenen in Anlehnung an das Regelbedarf-Ermittlungsgesetz getroffen, das der Gesetzgeber in Reaktion auf das Urteil des Gerichts zur Bemessung der Höhe der Leistungen zur sozialen Grundsicherung erlassen hatte.[407] Hintergrund der Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz war, dass das Asylbewerberleistungsgesetz zuvor mit pauschalen Bedarfssätzen gearbeitet hatte, die im Wesentlichen seit 1993 unverändert geblieben waren. Das BVerfG führte aus, dass die bislang – trotz mehrfacher Ankündigung – nicht erfolgte und auch nicht absehbare Neuregelung des Asylbewerberleistungsgesetzes durch den Gesetzgeber eine abstrakt-generell wirkende Übergangsregelung notwendig mache, um das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum zu sichern.[408] Mit der Übergangsregelung hob das Gericht die Leistungen für Asylbewerber auf das Niveau der Sozialhilfe an.[409]

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Für diese detaillierte Gestaltung von Übergangsregelungen hat das BVerfG viel Kritik erfahren, die vor allem den Übergriff des Gerichts in die Sphäre des parlamentarischen Gesetzgebers problematisiert.[410] Ähnliche Kritik wird etwa dem ungarischen Verfassungsgericht mit Blick auf seine Praxis der verfassungskonformen Auslegung entgegengebracht, die tatsächlich bisweilen eine detaillierte Modifizierung des bisher geltenden Rechts darstellt.[411] Diese Kritik ist aus demokratietheoretischen Erwägungen heraus gerechtfertigt, weil die Richter hier nicht nur in das gesetzgeberische Handeln eingreifen, sondern weitreichende eigene Regelungen anstelle des Gesetzgebers formulieren. Für das BVerfG haben sich die Übergangsregelungen gleichwohl als effektives Instrument erwiesen, seine Verfassungsauslegung im gesetzgeberischen Alltag zu verankern. In den beiden hier hervorgehobenen Fällen hat der Gesetzgeber die Übergangsregelung später im Wesentlichen in die gesetzliche Regelung übernommen. Fälle, in denen der Gesetzgeber losgelöst von der Übergangsregelung eine Neuregelung konzipiert, finden sich dagegen kaum.

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Nicht nur über den Entscheidungsausspruch, sondern auch bei der Entscheidungsbegründung hat das BVerfG Techniken entwickelt, die seinen Einfluss vor allem auf die Legislative stärken. Zentral ist die sogenannte Maßstabsbildung,[412] im Wege derer das BVerfG vor der Entscheidung eines konkreten Einzelfalles zunächst die verfassungsrechtlichen Vorgaben abstrakt zusammenfasst. Eine ähnliche Technik zeigt sich auch bei anderen Verfassungsgerichten, etwa in Ungarn in Form „konsolidierende[r] Entscheidungen“.[413] Sie erfüllen eine für die verfassungsgerichtliche Entscheidungspraxis wichtige Konkretisierungsfunktion. So bemüht sich auch der EGMR in seiner Rechtsprechung zunehmend um die Entwicklung abstrakter Maßstäbe, die die Konventionsvorschriften konkretisieren und den Einfluss der durch ihn vorgenommenen Interpretation im Zusammenspiel mit nationalen Institutionen stärken.[414] Besondere Qualität haben allerdings der Duktus und der Umfang der Maßstäbe, die das BVerfG entwickelt hat. Sie werden in einem eigenständigen Abschnitt entwickelt, den das BVerfG, typischer Weise bei der Grundrechtsprüfung, der Beurteilung des eigentlichen Sachverhalts voranstellt. Er enthält lehrbuchartige Ausführungen zur Konkretisierung der Verfassungsnorm, die im Stil weniger judikativ als vielmehr wissenschaftlich und mitunter sogar verfassungspolitisch vorgetragen werden. Dies trägt wesentlich zur Erleichterung der Rezeptionsfähigkeit in der Staatsrechtslehre sowie im politischen Diskurs bei und macht die Maßstabsbildung für das BVerfG zu einem besonders effektiven Instrument.

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Dem Gericht gelingt bei der Maßstabsbildung eine taktische Meisterleistung: Es schafft eine Zwischenebene zwischen Verfassungsrecht und Gesetzesrecht, die einerseits Verfassungsnormen operationalisiert und konkretisiert und zugleich die vom Gericht selbst in früheren Fällen gefundenen Interpretationsergebnisse normativ aufwertet.[415] Sie werden zu einer Art „Para-Verfassungsrecht“, auf dessen Fortentwicklung nur das Gericht selbst Einfluss nehmen kann, weil sie dem verfassungsändernden Gesetzgeber in weiten Teilen entzogen sind.[416] Dadurch erweitern sie die Entscheidungsmacht des BVerfG erheblich.[417] Dieser Effekt ist auf die Nutzung der Maßstabsbildung durch das Gericht zur allgemeinen lehrbuchartigen Darlegung seiner verfassungspolitischen Vorstellungen zurückzuführen. Diese Selbstermächtigung lässt sich als konsequente Fortentwicklung der Selbstbezeichnung als „Verfassungsorgan“ deuten. Durch die Maßstabsbildung wird der Vorrang der Verfassung zwar einerseits effektuiert, andererseits droht er dadurch aber auch zum Vorrang des BVerfG zu mutieren, das ihn nunmehr inhaltlich und institutionell verkörpert. Maßstabsbildung ist insofern zwar ein überaus effektives Instrument, weil sie wesentlich dazu beiträgt, verfassungsrechtliche Erwägungen in den politischen Entscheidungsprozess einzuspeisen. Sie ist aber zugleich normtheoretisch und verfassungspolitisch problematisch, weil sie in ihrer extensiven und elaborierten Nutzung durch das BVerfG einen neuen Normtypus kreiert, der dem demokratischen Prozess entzogen ist.[418] Zugleich droht jede Maßstabsbildung Versteinerungstendenzen Vorschub zu leisten. Gerade weil bei der Maßstabsbildung die Auslegungsergebnisse entkontextualisiert und abstrahiert werden, beraubt sich das Gericht eines gehörigen Maßes an Flexibilität, wenn es um die Anwendung desselben Grundrechts in neuen Konstellationen geht.[419] Umgekehrt ist es genau dieser Zusammenhang, der Maßstäbe zu einer wertvollen Autoritätsressource macht. Sie tragen nicht nur zur Erwartungsstabilisierung bei, sondern erlauben dem Gericht vor allem, schon im Ansatz den Anschein zu verhindern, dass seine Entscheidungen irgendwie durch außerrechtliche Aspekte, sei es die Richterpersönlichkeit oder politische Erwägungen, getragen sind. Die Maßstabsbildung des BVerfG ist daher ein überaus wirksames Instrument, um die Aura der Unabhängigkeit zu stärken und etwaige außerrechtliche Einflussfaktoren, wenn nötig, zu verschleiern.

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Das Instrument, mit dem das BVerfG bei Anwendung der verfassungsrechtlichen Vorgaben auf den einzelnen Fall Kohärenz herstellt, ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Dieses Prinzip hat weltweiten Ruhm und Nachahmung erfahren;[420] die Funktion, die es in der Rechtsprechung des BVerfG erfüllt, ist gleichwohl kontextgebunden, weil sein Erfolg gleichermaßen auf schon bestehender Akzeptanz des Gerichts wie auf prozessualen Bedingungen beruht.[421] Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erlaubt es dem Gericht, politische Erwägungen des Gesetzgebers und empirische Fragen der Normwirkung in strukturierter Form bei der Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Frage zu berücksichtigen.[422] Die grundrechtsbezogene Überprüfung von Gesetzen folgt dadurch einem strukturierten Prüfungsschema.[423] Die Kompetenzfülle des Gerichts und die breite Geltung der Grundrechte durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung bewirkt, dass das Argumentationsraster der Verhältnismäßigkeit in alle Bereiche staatlicher Organisation einwirkt. Besonders markant ist der Einfluss auf den politischen Prozess. Die Verhältnismäßigkeit dient als Rationalitätskontrolle dazu, „systematische Fehler des politischen Prozesses zu korrigieren“.[424] Sie verlangt dem Gesetzgeber dabei ab, Entscheidungen zu treffen, die konsistent sind und passgenau das angestrebte Regelungsziel verfolgen.[425] Dabei ersetzt das Gericht nicht selten empirische Annahmen des Gesetzgebers durch seine eigenen.[426] Durch diese Anforderungen verlieren typisch politische Rechtfertigungs- und Entscheidungsstrukturen an Bedeutung, weil sie sich stets am Maßstab verfassungsrechtlicher Rationalität messen lassen müssen.[427] Die Rationalitätskontrolle des BVerfG verändert den politischen Prozess tiefgreifend, wenn sie dem gesetzgeberischen Handeln inzwischen auch Folgerichtigkeit, Kohärenz und Widerspruchsfreiheit[428] abverlangt, ohne deren Bedeutung demokratietheoretisch zu reflektieren. Ob Gesetzgebung überhaupt kohärent und widerspruchsfrei sein muss, ist selbst eine politische Frage. Die Ausgestaltung der Rationalitätskontrolle ruht daher auf impliziten Vorverständnissen über die Funktion demokratischer Gesetzgebung, die den notwendig unvollkommenen Kompromisscharakter politischer Entscheidungen zu wenig berücksichtigen.[429] Im politischen Alltag ist die verfassungsgerichtliche Rationalitätskontrolle gleichwohl außerordentlich wirksam. Der politische Prozess greift die verfassungsgerichtlich entwickelten Kriterien bereitwillig auf, entlasten sie ihn doch selbst von mitunter unbequemen politischen Rechtfertigungslasten.[430]

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Das Gericht nutzt die Entscheidung somit auf mehreren Ebenen zur Absicherung seiner zentralen Rollen im verfassungsrechtlichen und politischen Prozess in Deutschland. Auf der Ebene des Entscheidungsausspruchs nimmt es sich die Freiheit zur flexiblen Ausgestaltung bis hin zur Anordnung quasi-legislativer Übergangsregelungen. Auf der Ebene der Entscheidungsbegründung nutzt es die Maßstabsbildung zur Erhöhung der eigenen Glaubwürdigkeit und zur Abschirmung seiner Interpretationshoheit. Über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Rationalitätskontrolle erfolgt schließlich eine verfassungsrechtliche Imprägnierung der politischen Argumentationskultur. Dass diese gelingen konnte, hat auch mit der Präsentation der gerichtlichen Entscheidungsfindung und ihrer wissenschaftlichen Aufarbeitung zu tun.