Ius Publicum Europaeum

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Handbuch
Ius Publicum Europaeum

Band VI

Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa: Institutionen

Herausgegeben von

Armin von Bogdandy

Christoph Grabenwarter

Peter M. Huber

Unter Mitwirkung von

Carlino Antpöhler (Redaktionsleitung)

Johanna Dickschen

Nele Yang

Mit Beiträgen von

Maria Lúcia Amaral • Christian Behrendt • Leonard F. M. Besselink

Giaovanni Biaggini • Raffaele Bifulco • Armin von Bogdandy

Anuscheh Farahat • Christoph Grabenwarter • Peter M. Huber

Olivier Jouanjan • Jo Eric Khushal Murkens • Davide Paris

Ravi Afonso Pereira • Peter E. Quint • Juan Luis Requejo Pagés

László Sólyom • Piotr Tuleja • Kaarlo Tuori


Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-8114-8906-6

E-Mail: kundenservice@cfmueller.de

Telefon: +49 89 2183 7923

Telefax: +49 89 2183 7620

www.cfmueller.de

© 2016 C.F. Müller GmbH, Waldhofer Straße 100, 69123 Heidelberg

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Vorwort

Der vorliegende Band VI führt das Ius Publicum Europaeum-Projekt über Grundlagen und Grundzüge des öffentlichen Rechts im europäischen Rechtsraum – des europäischen öffentlichen Rechts – fort, nunmehr mit dem Gegenstand Verfassungsgerichtsbarkeit. Schon die bisherigen Bände waren bestrebt, das Verfassungs- und Verwaltungsrecht nicht nur in statischer Hinsicht zu präsentieren, sondern auch über Dynamiken im europäischen öffentlichen Recht mit seinen verschiedenen Rechtssystemen zu informieren.

Die Bände VI bis IX befassen sich nun mit der Verfassungs- und der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Gerichte, und gerade die Verfassungsgerichte, sind wichtige Akteure im europäischen Rechtsraum, den sie durch ihre Entscheidungen mit gestalten. Zudem entwickeln sie durch ihre Verbundbildung eine bemerkenswerte kollektive Eigendynamik. Vor diesem Hintergrund erhalten Kenntnisse über die verschiedenen Institutionen und ihr Vergleich eine neue Bedeutung.

Das Projekt ist weiterhin der Fritz-Thyssen-Stiftung zutiefst verpflichtet. Sie hat die aufwändige und kostenträchtige Zusammenarbeit durch die Finanzierung einer Tagung und Übersetzungen nachdrücklich gefördert. Ohne ihre ebenso unbürokratische wie substanzielle Hilfe hätten wir diesen Band nicht in dieser Form verwirklichen können. Hervorzuheben ist der Beitrag von Carlino Antpöhler, Dr. Johanna Dickschen und Nele Yang, in deren Händen die Gesamtredaktion lag. Es ist ihrer Bearbeitung zu verdanken, dass die Texte nunmehr gut an rechtswissenschaftliche Diskurse aus dem deutschen Sprachraum anknüpfen. Hier liegt nicht nur eine große redaktionelle, sondern auch eine wissenschaftliche Leistung für die weitere Entwicklung des Ius Publicum Europaeum. Sie erhielten bei dieser Arbeit wichtige Unterstützung durch Evelyn Baldenhofer, Hannes Fischer, Simon Hentrei, Julia Krasl, Fin-Jasper Langmack, Eva Rom, Frauke Sauerwein, Daniel Schilke und Felix Weber.

Heidelberg, München und Wien, im Juni 2015

Armin von Bogdandy/Peter M. Huber/Christoph Grabenwarter

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Verfasser

§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum

§ 96 Der belgische Verfassungsgerichtshof

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht

§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland

§ 99 Verfassungsrechtsprechung in Frankreich

§ 100 Der italienische Verfassungsgerichtshof

§ 101 Verfassungsgerichtsbarkeit in den Niederlanden

§ 102 Der österreichische Verfassungsgerichtshof

§ 103 Der polnische Verfassungsgerichtshof

§ 104 Das portugiesische Verfassungsgericht

§ 105 Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz

§ 106 Das spanische Verfassungsgericht

§ 107 Das ungarische Verfassungsgericht

§ 108 Verfassungsgerichtsbarkeit im Vereinigten Königreich

§ 109 Der Einfluss des Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika auf die Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa

Personenregister

Sachregister

Verfasser


Maria Lúcia Amaral, Dr. iur., Professor, Universidade Nova de Lisboa, Faculdade de Direito, Vizepräsidentin am portugiesischen Verfassungsgericht;


Christian Behrendt, Dr. iur., LL.M. (Yale), Professor, Université de Liège, Faculté de Droit;


Leonard F. M. Besselink, Dr. rer. pol., Professor, Universiteit van Amsterdam, Leiter der Abteilung für öffentliches Recht, Lehrstuhl für Verfassungsrecht;


Giovanni Biaggini, Dr. iur., Professor, Universität Zürich, Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht, Vorsteher des Rechtswissenschaftlichen Instituts;


Raffaele Bifulco, Dr. iur, Professor, Diritto costituzionale, Università di Roma LUISS Guido Carli, Departimento di Giurisprudenza;


Armin von Bogdandy, Dr. iur., M.A., Professor, Direktor am Max-Planck-Institut für; ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg;


Anuscheh Farahat, Dr. iur., LL.M. (Berkeley), Wissenschaftliche Referentin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg;


Christoph Grabenwarter, Dr. iur., Dr. rer. soc. oec., Professor für Öffentliches Recht, Wirtschaftsrecht und Völkerrecht, Institut für Europarecht und Internationales Recht, Wirtschaftsuniversität Wien, Richter am österreichischen Verfassungsgerichtshof;


Peter M. Huber, Dr. iur., Professor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie und Forschungsstelle für das Recht der Europäischen Integration, Ludwig-Maximilians-Universität München, Minister a. D., Richter des Bundesverfassungsgerichts;


Olivier Jouanjan, Dr. iur, Professor, Droit Public, Université Paris II – Panthéon-Assas;


Jo Eric Khushal Murkens, Dr. iur., London School of Economics and Political Science, Department of Law;


Davide Paris, Dr. iur., Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg;


Ravi Afonso Pereira, Universidade Nova de Lisboa, Faculdade de Direito;


Peter Quint, Professor emeritus, The University of Maryland, School of Law;


Juan Luis Requejo Pagés, Dr. iur., Professor, Referent am Europäischen Gerichtshof;


László Sólyom, Dr. iur., Professor, ehemaliger Präsident der Republik Ungarn, ehemaliger Präsident des ungarischen Verfassungsgerichts;


Piotr Tuleja, Dr. iur., Professor, Uniwersytet Jagiellonski Kraków, Katedra Prawa Constytucyjnego, Richter am polnischen Verfassungsgerichtshof;


Kaarlo Tuori, Dr. iur., Professor, Universität Helsinki, juristische Fakultät; Mitglied der Venedig-Kommission.

Armin von Bogdandy/Christoph Grabenwarter/Peter M. Huber

 

§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum

I.Zur Programmatik des Bandes1 – 13

1.Ansiedelung in der Forschungslandschaft1 – 4

2.Die Herausforderungen des europäischen öffentlichen Rechts5 – 13

II.Der horizontale Verfassungsgerichtsverbund14 – 29

1.Das Phänomen14 – 20

2.Foren, Institutionen und Probleme21 – 29

III.Eckpunkte innereuropäischer Verfassungsgerichtsvergleichung30 – 46

1.Ein „europäisches Modell“ der Verfassungsgerichtsbarkeit? Grundlagen und Grenzen einer Denkfigur30 – 36

2.Identifikation des Forschungsgegenstands Verfassungsgerichtsbarkeit37 – 39

3.Methodische und rechtliche Grundfragen40 – 46

IV.Logik des Bandes47 – 52

§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › I. Zur Programmatik des Bandes

I. Zur Programmatik des Bandes

Wir danken Dr. Stephan Hinghofer-Szalkay und Christoph Krenn für wertvolle Unterstützung.

§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › I. Zur Programmatik des Bandes › 1. Ansiedelung in der Forschungslandschaft

1. Ansiedelung in der Forschungslandschaft

1

Das Interesse an der Verfassungsgerichtsbarkeit anderer Staaten ist so alt wie die Institution selbst. Schon der Gründungstext verfassungsgerichtlicher Kontrolle, Federalist No. 78, nutzt die Erfahrung anderer Länder. Andere Schlüsselwerke zur Verfassungsgerichtsbarkeit sind sogar im Kern vergleichend.[1] In Deutschland haben vergleichende Studien das Bundesverfassungsgericht von Anfang an begleitet,[2] bislang insbesondere in Auseinandersetzung mit dem Obersten Gericht der Vereinigten Staaten.[3]

2

Rechtsvergleichung zur Verfassungsgerichtsbarkeit ist somit nichts Neues. Mittlerweile sind aber eine neue Dynamik und eine bemerkenswerte Ausdifferenzierung zu beobachten. Zunächst einmal gibt es heute einen wahrlich weltumspannenden Diskussionszusammenhang. Er korrespondiert zu der bemerkenswerten Entwicklung der Institution: Inzwischen verfügen 164 von 193 Staaten über eine Verfassungsgerichtsbarkeit, also Institutionen mit verfassungsgerichtlicher Funktion, wobei in 76 Staaten eigens eingerichtete Verfassungsgerichte diese Aufgabe wahrnehmen.[4] Während in der von den Verfassungsgerichten unternommenen Selbstreflexion das deutsche Modell eine besondere Aufmerksamkeit genießt,[5] ist die inzwischen wahrlich weltumspannende akademische Debatte vor allem durch die reiche amerikanische Theoriebildung geprägt, wenngleich sie sie keineswegs monopolisiert.[6]

3

Daneben stehen regionale Diskurse, die mit engerem Fokus spezifischere Interessen verfolgen. Besonders lebendig ist der lateinamerikanische Raum mit seiner zweihundertjährigen konstitutionalistischen Tradition.[7] Hier soll die Rechtsvergleichung demokratische Verfassungsstaatlichkeit in einem besonders schwierigen Kontext voranbringen,[8] den Gewalt, systemische Exklusion breiter Bevölkerungskreise, das Vermächtnis autoritärer Regierungen, ein oft überbordender Präsidentialismus sowie schwache rechtliche Normativität kennzeichnen. Dem begegnet ein innovativer rechtebasierter, überstaatlich abgesicherter und regional radizierter Konstitutionalismus, den eine lateinamerikanische Vergleichung verfassungsgerichtlicher Institutionen und Funktionen inspiriert und stützt.[9] Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird dabei auch als Instrument verstanden, schwersten Ungerechtigkeiten zu begegnen.

4

Die spezifischen Herausforderungen, denen sich der Rechtsvergleich zur Verfassungsgerichtsbarkeit im Rahmen des europäischen öffentlichen Rechts gegenübersieht, sind vielleicht von geringerer existentieller Dringlichkeit, aber doch von größter juristischer und politischer Relevanz. Sie ergeben sich daraus, dass das europäische öffentliche Recht mit seiner einzigartigen Verklammerung von unionalem Primärrecht, dem Recht der EMRK und den staatlichen Rechtsordnungen unterschiedliche und sich als autonom begreifende Regime verfassungsrechtlicher Normativität rechtlich zusammenführt, ohne sie zu einer Rechtsordnung zu verschmelzen.[10] Dies ist weltweit bislang ohne Beispiel. Und es birgt zahlreiche neuartige und komplexe Fragestellungen.

§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › I. Zur Programmatik des Bandes › 2. Die Herausforderungen des europäischen öffentlichen Rechts

2. Die Herausforderungen des europäischen öffentlichen Rechts

5

Der Begriff europäisches öffentliches Recht, verstanden als das öffentliche Recht im europäischen Rechtsraum, zeigt ein neues Ganzes an, in das die Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten eingebettet sind.[11] Es ist zwar nicht auf die Europäische Union beschränkt, findet in ihr jedoch seinen territorialen und funktionalen Schwerpunkt. Es ruht auf 60 Jahren rechtlicher Integration, die das nationale Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht,[12] das Schuldrecht,[13] das Familien- und Erbrecht,[14] das Zivilprozessrecht,[15] das Arbeits- und Sozialrecht,[16] das Strafrecht,[17] das Steuerrecht[18] und eben auch das Verfassungsrecht[19] überformt hat. In vielen Rechtsgebieten ist die gemeinsame europäische Rechtsschicht inzwischen breiter als in den Vereinigten Staaten.

6

Grundlage des europäischen Rechtsraums ist das durch die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen definierte Territorium der Europäischen Union, wenngleich er, wie Art. 8 EUV zeigt, nicht an deren Grenzen endet. Wesentlich ist die Kombination von Staatlichem und Supranationalem. Kern des Begriffs ist die Feststellung, dass die rechtliche Organisation dieses Territoriums ebenso durch mitgliedstaatliche wie durch unionale Normen erfolgt, um die Ziele des EU-Vertrags im Rahmen einer neuen politischen und rechtlichen Einheit zu verwirklichen. Die nationalen Rechtswissenschaften, wollen sie diese Entwicklung verarbeiten und damit praxistauglich bleiben, also nicht zuletzt den Bedürfnissen der in der Praxis tätigen Juristen und der Studierenden nachkommen, müssen sich in diesem Zusammenhang neu orientieren.

7

Es ist signifikant, dass die Vertragsgeber diese neue Qualität als Raum fassen. Er bezeichnet ein neues Ganzes, welches das Bisherige, die einzelnen Nationalstaaten, transzendiert. Zugleich vermeidet der Begriff sowohl eine föderale als auch eine völkerrechtliche Deutung dieses neuen Ganzen und so eine Positionierung in der ältesten und prinzipiellen Kontroverse der europäischen Integration. Vielmehr eröffnet der Begriff eine für beide Verständnisse akzeptable und tragfähige Basis, um das neue Ganze zu erfassen. Mit dem unionsprimärrechtlichen, also verfassungsrechtlichen[20] Raumbegriff werden „soziale Prozesse fixiert, politische Zugehörigkeiten definiert sowie Herrschafts- und Gültigkeitsräume gerahmt“.[21] Indem sie von einem Raum sprechen, nutzen die Vertragsgeber der Europäischen Union eine assoziationsreiche Semantik der Gemeinschaftsbildung, gerade dank des ausdrücklichen Bezugs auf Recht, Freiheit und Sicherheit (Art. 3 EUV). Der Begriff des „Euroraums“ nimmt dies wirkmächtig auf. Natürlich handelt es sich dabei nicht um einen subsumtionsfähigen Begriff, dem man eine spezifische Gestalt der europäischen Vergemeinschaftung interpretativ entlocken könnte.[22] Aber er bietet eine positivrechtliche Semantik, welche einen juristischen Nenner für viele Hinweise auf die neue Qualität liefert: der „einsilbige“ Staat wird zum Mitgliedstaat, staatliche Verwaltungen operieren als Glied einer Verbundverwaltung und, für unser Thema besonders bedeutsam, mit der Verfassungsgerichtsbarkeit betraute Institutionen bilden einen Verfassungsgerichtsverbund.[23]

 

8

Die inzwischen systemrelevante Interaktion aller Gerichte des europäischen Rechtsraums verlangt solides gegenseitiges Wissen, etwa bei der Verarbeitung von Entscheidungen anderer Institutionen. Nationale verfassungsgerichtliche Entscheidungen sind heute zunehmend von europaweitem Interesse und Teil des europäischen öffentlichen Rechts. Es erscheint inzwischen als recht normal, dass Entscheidungen ausländischer Kollegen in die richterliche Arbeit einfließen, selbst wenn sie nicht als Zitat auftauchen.[24] Nationale Entscheidungen dienen zudem der Feststellung sogenannter europäischer Konsense, eine für den EGMR wichtige, wenngleich nicht unproblematische argumentative Figur, mit der er oft die Fortbildung des Konventionsrechts begründet.[25] Der EuGH spricht von wertender Rechtsvergleichung.[26] Wie auch immer die konkrete Argumentationsfigur: Das volle Verständnis einer Entscheidung verlangt die Kenntnis der Institution, ihrer institutionellen Einbettung und des prozessualen Rahmens.

9

Die Europäisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit stellt eine weitere vielgestaltige Herausforderung dar. Sie ergibt sich institutionell durch Gerichte außerhalb des staatlichen verfassungsrechtlichen Rahmens, v.a. EuGH und EGMR, die über die Vereinbarkeit auch gesetzgeberischer Akte mit unionalem Primärecht oder Menschenrechtskatalogen entscheiden, womit eine verfassungsgerichtliche Funktion nahegelegt wird. Materiell erfolgt diese Europäisierung durch systemexterne Maßstäbe, insbesondere Präjudizien auf der Grundlage der EMRK und der Grundrechtecharta. Prozedural dient die Eröffnung weiterer Verfahren der Europäisierung, insbesondere das Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH und die Individualbeschwerde zum EGMR.

10

Die Verfassungsgerichtsbarkeit sieht sich damit einer Dynamik ausgesetzt, die auf konsolidierte Wissensbestände, Praktiken, Selbstverständnisse, Wertvorstellungen und Machtkonstellationen herausfordernd, modifizierend und mitunter auch transformierend einwirkt.[27] Sie ist dabei durchaus ein Akteur der Entwicklung, und zwar mit zwei wesentlichen Wirkrichtungen: Manche Verfassungsgerichte haben zum einen den Europäisierungsprozess aktiv gefördert, man denke an die Rücknahme der Kontrolle nationaler Umsetzungsakte, die verfassungsrechtliche Bewehrung der Vorlagepflicht, eigene Vorlagen, die Anerkennung der Autorität systemfremder Entscheidungen. Verfassungsgerichte haben europäische Grundrechte – ungeachtet punktueller Reserve und Distanz zu Straßburger oder Luxemburger Entscheidungen – durch die Übernahme und häufig auch die „Übersetzung“ in das nationale Verfassungsrecht importiert und diesen so zu größerer Wirkmacht verholfen. Zum anderen aber haben viele Verfassungsgerichte deutlich, wenngleich nicht immer deutliche, Schranken formuliert.[28]

11

Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus der Sicherung verfassungsrechtlicher Substanz im europäischen Rechtsraum: Systemische Defizite an Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechtsschutz oder Demokratie in einem Mitgliedstaat sind ein kollektives Problem. Es gibt ein gemeinsames Interesse an Mindeststandards für alle beteiligten Institutionen, das positivrechtlich etwa in den Art. 2, 7 und 49 EUV sowie in den Verbürgungen der EMRK und in den Voraussetzungen für die Mitgliedschaft im Europarat Ausdruck findet. Diese Thematik wurde etwa im Zuge der ungarischen Verfassunggebung im Jahre 2011 akut, als diese die Kompetenzen des Verfassungsgerichts massiv beschnitt.[29] Juristische Operationen, die solche Normen interpretieren oder anwenden, sollten vergleichend vorgehen, da ihnen eine vergleichende Absicherung normative Substanz verleiht und sie so schwieriger als oktroyierte Vorgaben internationaler Gremien zurückgewiesen werden können. Die Kriterien des Art. 1 des Statuts des Europarates werden auch aus diesem Grund gegenwärtig durch die Mitgliedschaft Russlands in besonderem Maße herausgefordert.

12

Nicht zuletzt geht es um die Fortentwicklung der europäischen Gerichtsbarkeit, die, insbesondere wenn man sie mit verfassungsgerichtlichen Maßstäben misst, nicht in jedem Detail überzeugt.[30] Auch jenseits offensichtlicher Schwächen können die unterschiedlichen nationalen Erfahrungen mit der Verfassungsgerichtsbarkeit nuancierte Konzepte für die weitere Entwicklung von EuGH und EGMR bereithalten. Das EuGH-Gutachten 2/13 bildet insoweit ein offensichtliches Beispiel.[31]

13

Diese genannten Herausforderungen erklären das Aufblühen des innereuropäischen Rechtsvergleichs in den öffentlich-rechtlichen Fächern[32] und speziell zur Verfassungsgerichtsbarkeit,[33] zu dem dieser Band beitragen soll. Rechtsvergleichung ist für das europäische öffentliche Recht unerlässlich. Angesichts der engen Beziehung zwischen Praxis und Forschung soll der Band zugleich den europäischen Forschungsraum im öffentlichen Recht voranbringen. Er will die Wissenschaftssysteme der diversen Länder vernetzen und europäische Forschungsdiskurse stärken, die der Qualität des europäischen Rechtsraums letztlich nur dienen können.[34]

§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › II. Der horizontale Verfassungsgerichtsverbund