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Czcionka:

Annerose Matz-Donath

Deutsche Frauen vor sowjetischen Militärtribunalen

Die Spur der roten Sphinx


IMPRESSUM:

Annerose Matz-Donath,

Deutsche Frauen vor sowjetischen Militärtribunalen. Die Spur der roten Sphinx.

Originalverlag:Verlag Bublies, Schnellbach

Originaltitel:

Die Spur der roten Sphinx. Deutsche Frauen vor sowjetischen Militärtribunalen

© 2000 Verlag Bublies, 56290 Schnellbach

Lizenzausgabe: © 2014 Lindenbaum Verlag GmbH, Beltheim

Internetadresse: http://www.lindenbaum-verlag.de

e-mail-Adresse: lindenbaum-verlag@web.de

eISBN: 978-3-938176-82-5

„Bitter für mich ist nur, daß sie alle auf dem Papier nicht mehr als einen fahlen Schatten des Grauens wiederfinden werden.“

Gabriel García Márques

in „Die Nachricht von einer Entführung“, nach den Erinnerungen der Überlebenden

Mein herzlicher Dank gilt allen, die mich bei der Arbeit an diesem Buch unterstützten,

vor allem den Kameradinnen, die dafür noch einmal eine so schmerzliche Erinnerungsarbeit auf sich genommen haben. In Freundschaft und Liebe sei besonders derer gedacht, die heute nicht mehr unter uns weilen.

Vergessen sei auch nicht

mein lieber Mann, der meine Arbeit jahrelang mit verständnisvoller Geduld begleitet und mit geholfen hat, alle äußeren Schwierigkeiten zu meistern.

Ebenfalls danke ich den Mitgliedern des Beirats der STIFTUNG ZUR AUFARBEITUNG DER SED-DIKTATUR, von der die Drucklegung gefördert wurde.

Alle Frauen, auch da, wo dies nicht besonders erwähnt ist, wurden inzwischen als „zu Unrecht verurteilt“ rehabilitiert.

Die Namen der Interview-Geberinnen wurden zur Schonung der privaten Sphäre auch der betroffenen Familien anonymisiert. Das lag umso näher, als jeder der geschilderten Fälle nicht nur für ein Einzelschicksal steht, sondern für viele von gleicher Art.

Alle Ortsangaben dagegen sind real.

Inhalt

Einleitung

1.Kapitel: Mütter und Kinder

Bitterer Abschied

Der Florian

Zahnschmerz im Herzen

Die Mütterstube

Kindertränen

2.Kapitel: Die Hölle hat viele Tore

Eingefangen

Grenzerfahrungen

Recherche ins Abseits

„Gefährliche Deutsche“

Auf Werwolf-Jagd

3.Kapitel: Verraten und verkauft

Das Butterplätzchen

Terror statt Brot

Um eine Nähmaschine

Unschuldsbewußtsein lebensgefährlich!

Flugblatt im Polizistenschrank

Für Judaslohn

Der wahre Hintergrund

4.Kapitel: Laßt alle Hoffnung fahren

Der erste Schock

Wenn sie „Rosamunde“ spielten

Maden und Fischgerippe

Ein kleiner Funke Menschlichkeit

Psychofolter

Kübelgeschichten

Sexuelle Gewalt

5.Kapitel: Russisches Roulette

Der Tod reiste mit

Die Fratze der Angst

Selber ein Ende machen

Wie ein Indianer am Marterpfahl

Sie lachten, wenn sie sie erschossen

„Ein widerspenstiger Typ“

6.Kapitel: Lügner und Henker

„Gehen wir tanzen zusammen“

Das Tribunal

Wyschinskijs Schatten

Ein teuflisches Drehbuch

Vergeblicher Aufstand

Silberkopf mit Feuerhaken

Begriffe und Abkürzungen

Erläuterndes Glossar


Dejournyj Wachhabender
GPU seit 1922 erste Nachfolge-Organisation der am 20. Dezember 1917 von Lenin gegründeten Geheimpolizei (und Spionageorganisation) TSCHEKA,
NKWD 1934 in NKWD, 1954 in KGB umbenannt bei
KGB unveränderter Zielsetzung und Arbeitsweise.
Gymnastjorka russische Militär-Hemdbluse
K 5 Kommissariat 5, „politisches“ K., STASI-Vorläufer
Natschalnik Chef der Wachschicht / des Haftbereichs
Papyrossi russ. Zigarette mit überlangem Papiermundstück
Plennies Gefangene (russ.)
Podpolkownik Oberst (russ.)
SMA/SMAD Sowjetische Militäradministration / in Deutschland
SMERSCH Smert schpionam (russ., Tod den Spionen)
SMT Sowjetisches Militär-Tribunal
Tête, an der … vorne dran, wichtig (von franz. à la tête / an der Spitze)
Volksempfänger empfangsbegrenztes Radio der Nazi-Zeit
VP, Volkspolizei Schutz-/Verkehrspolizei

Einleitung

Unlängst – 1997 – wurde den Opfern des sowjetischen Staatsterrors in St. Petersburg ein Denkmal errichtet. Eine doppelte Sphinx läßt dort nun ihre dunklen Blicke über die Ufer der Newa schweifen, jede mit einem geteilten Antlitz: zur Hälfte zeigt es die Züge einer schönen jungen Frau, zur anderen bildet es einen nackten, zähnebleckenden Totenschädel ab. Der Bildhauer, der das Denkmal schuf – Michail Schemjakin – fand sein Motiv in einem Gedicht, das einst jeder Russe kannte: „Die Sphinx“ – so hatte 1918 in seinem berühmten Poem „Die Skythen“ der bis heute verehrte russische Dichter Alexander Blok sein Vaterland Rußland genannt.

Doch nicht nur Bürger der einstigen Sowjetunion wurden Opfer des roten Terrors. Der lange Arm der Tscheka – später GPU und zur Zeit des Zweiten Weltkriegs NKWD genannt – reichte überall hin, wo sowjetische Truppen standen. So sehen auch Deutsche – Männer, Frauen und Kinder – in Schemjakins Denkmal ein düsteres Symbol ihres Schicksals – alle die, die nach 1945 in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone von Sowjetischen Militärtribunalen verurteilt wurden.

Kaum einem wurde seine angebliche Schuld bewiesen. Der Verurteilung entging dennoch keiner, war er einmal in den Händen des NKWD. Steine, hilflose, wehrlose kleine Steine waren die Menschen ja nur im großen Schachspiel der Sowjetunion um Einfluß und Macht in Europa.

Wurde einer, wurde eine nach dem Urteil nicht nach Sibirien verschleppt, warteten auf sie das Zuchthaus Bautzen oder die alten Nazi-KZs Buchenwald und Sachsenhausen. Dort, in Sachsenhausen, wurden schließlich auch alle SMT-verurteilten Frauen gesammelt.

Nach der Gründung der DDR erschien Moskau wie Ostberlin ein sowjetischer GULag auf deutschem Boden politisch als nicht mehr tragbar. So kamen die „Gefangenen“, wie Molotow schrieb – „die Verbrecher“, wie es bei Walter Ulbricht zu lesen steht – im Februar 1950 „zur weiteren Strafverbüßung“ in den Gewahrsam der DDR. Die entwarf für sie, speziell für die SMTer, ein besonders strenges Zuchthaus-Regime in einer Reihe von Sonderstrafanstalten.

Zum Ende des Jahres 1954 wurde die DDR sodann auch zum Gerichtsherrn über die alten SMT-Verfahren. Doch von dem damit auch auf sie übergegangenen Gnadenrecht machten die deutschen Kommunisten nur zögernd Gebrauch. Noch Jahre nach 1954 hielten Ulbricht und seine Satrapen viele Gefangene in Hoheneck und Bautzen fest, obwohl diese Menschen niemals gegen Gesetze verstoßen hatten – und am allerwenigsten gegen Gesetze der DDR!

Für die etwa 1.300 SMTerinnen aus Sachsenhausen wurde in Hoheneck über Stollberg im Erzgebirge ein baufällig-altes Gemäuer neu als Zuchthaus hergerichtet. Selbst nach der sehr strengen Berechnung ihrer Verwalter boten die Häuser nicht mehr als 700 Gefangenen Platz. Dennoch wurden zeitweise dort bis zu 1.900 Menschen zusammengepfercht.

Nun sahen die Frauen nur durch schmale Fensterritzen und Gitter, wie die Blütenhoffnung des Frühlings sich in die leuchtende Fülle des Sommers verklärte, wie das bunte Herbstlaub im strahlenden Weiß des Winters erstarb. Wenigstens siebenmal, meist sogar acht- oder neun- und sogar zwölfmal wechselten ihnen so die Jahreszeiten, seit die Verhaftung sie aus dem Leben gerissen hatte. Sieben, neun oder zwölf – so viele Jahre waren sie alle streng und absolut von der Außenwelt isoliert, waren sie von den Familien, von ihren Kindern getrennt. Verlorene Jahre. Schwarze Jahre!

Aber Schwarz ist nicht nur die Farbe des Schreckens, des Verlusts und der Trauer. Schwarz trugen nicht nur Hitlers SS und die Opritschniki, die frühen Brüder der Tscheka, die Iwan dem Schrecklichen dienten. Auch die Totenkopfhusaren der Freiheitskriege kleideten sich in Schwarz, und Schwarz war für die Chinesen die Farbe der himmlischen Herrlichkeit, in die ihre Kaiser sich hüllten. Wie viele Nuancen hat Schwarz – nicht nur im übertragenen Sinne! 27 fand der Maler Nikolaus de Staël allein in den Bildern dreier berühmter klassischer Maler.1

Schwarz hebt alle Farbe auf und bewahrt sie zugleich wie das Dunkel der Nacht die Buntheit der Welt für den Morgen. Die düstere Farbe steht nicht nur für Weltverlust, wie Haft ihn gewaltsam bewirkt. Denn Unglück kann Menschen zwar brechen, setzt Wunden und lebenslang Narben. Aber es kann auch sensibel machen für anderer Not. So ist es sicher kein Zufall, dass sich später manch eine der Hoheneckerinnen in sozialer Arbeit engagierte.

Doch sie selbst – wer sieht sie – die Frauen, denen man ein Stück ihres Lebens stahl und die man so tief in ihrer menschlichen Würde verletzte? Wer gedenkt der Leiden ihrer verlassenen Kinder, oft nicht nur der Mutterliebe, sondern allen Schutzes und aller Lebenswärme beraubt, dafür von Ängsten und oft auch von materieller Not gequält! Und hätte das nicht tausend Kinder, sondern nur ein einziges betroffen – es müßte unsere Herzen rühren. Noch niemand schrieb bisher auf, was diese Kinder litten, deren Müttern heute in Moskau bescheinigt wird, dass sie seinerzeit „ohne Grund und Ursache“ und „aus politischen Motiven“ verhaftet und zu so hohen Strafen verurteilt wurden, als wolle man sie lebendig begraben.

Wer Verbrechen zum Opfer fällt, dem wird nicht nur das äußere Leben zerbrochen. Ihm geht das Bild der Welt aus den Fugen. Wer aber fügt es den Geschundenen und Gequälten wieder zusammen? Welches Licht löst aus dem Schwarz einer gnadenlosen kollektiven Verfolgung wieder die Farbe des einzelnen menschlichen Lebens heraus?

Wo anders nicht mehr zu helfen ist – Vergangenes ist niemals „gutzumachen“ – da bleibt, im vollen tröstenden Sinne, nur menschliche Anteilnahme. Doch Brücken des Verstehens brauchen zwei Pfeiler. Die heißen „Erzählen dürfen“ und „Zuhören wollen“.

Was in diesem Buche geschildert wird, läßt nur den Anfang der jahrelangen Leidenswege wieder lebendig werden – die Zeit der sowjetischen Untersuchungshaft. Es stützt sich dabei auf viele Gespräche mit ehemaligen Hoheneckerinnen und auf Aufzeichnungen, die einige Frauen für ihre Kinder machten. Vor allem aber beruht es auf etwa 130 ausführlichen Tonband-Interviews.

Auf den rund zehntausend Seiten der ausgeschriebenen Gesprächs-Protokolle sind Schrecken festhalten, die einander bis zur Austauschbarkeit gleichen. Das bekräftigt die Glaubwürdigkeit der Berichte, die aus der Erinnerung schöpfen müssen. Denn im Unterschied zu Gefangenen eines anderen totalitären Systems auf deutschem Boden waren denen der Kommunisten – wenn überhaupt – nur inhaltslose Briefe nach Hause erlaubt. An Tagebuchführen in der Haft oder andere Arten der Aufzeichnung war gar nicht zu denken.

„CHRANITJ WETSCHNO“ – Aufbewahren für alle Zeit – steht auf den Deckeln der russischen Gefangenen-Akten. Die SMTerinnen wollen das Ihre dazu tun, indem sie erzählen, wie damals die Wirklichkeit aussah. Denn das sagen die Akten nicht!

Nachtrag zur 2. Auflage:

Naturgemäß kann ein Buch wie das vorliegende nur Ausschnitte aus den stundenlangen Interviews darbieten. Da die Autorin – gelernte Historikerin – sich aber sowohl den Opfern als auch der Zeitgeschichte verpflichtet fühlt, machte sie gerne vom Angebot der Universität Leipzig Gebrauch, alle Unterlagen in die Obhut des dortigen wissenschaftlichen Archivs zu geben. Alle 130 Interviews stehen also in Leipzig in voller Länge in Wort und Ton und mit Klarnamen und genauen persönlichen Daten zur Verfügung.

1 Frans Hals, Veronese, Velázquez

1. Mütter und Kinder

Versuchen Sie, sich ein solches Erlebnis vorzustellen:

Ein strahlender Tag, ein Sonntag. Morgens beim Aufstehen denken Sie, das sei ein richtiger Geburtstags-Sonntag für Ihre Jüngste. Der zweite Geburtstag ist es, aber der erste, den das Kind bewußt erlebt und auf den es sich seit Wochen freut. Alles haben Sie schon gerichtet. Nur das Blumenkränzchen für den kleinen Blondschopf muß noch geflochten werden. Da klingelt es an Ihrer Wohnungstür. Zwei Soldaten – fremde Uniformen – umgeschnallte Pistolen.

Einer drängt in die Tür, hat den Fuß auf der Schwelle. Und ehe Sie recht begreifen, was da vor sich geht, trifft Sie schon wie ein Schlag der Befehl:

„Aufmachen!“ – „Mitkommen!“

„Ich…?-Wieso ….? – Und ….wohin… ?“

„Eine Aussage nur!“

In Ihr zögerndes, ratloses Fragen hinein:

„Eine Aussage – ich…? Wieso ich…?“ Und: „Das muß doch ein Irrtum sein… !?“

Da packt der eine Soldat schon zu. Sein brutaler Griff reißt sie fast von den Füßen, macht Sie stolpern – ins Treppenhaus, die Stufen hinunter, aus der Haustür …

„Das Kind – mein Gott! – ganz allein in der Wohnung …“

fährt es schneidend durch Ihren Sinn. Von Panik erfaßt, spannen sie alle Kraft, um sich loszureißen, holen aus und – erwachen im eigenen Bett, eine Faust ins Kissen gebohrt.

Ein Albtraum nur, und einer, den Sie in Wirklichkeit sicherlich niemals träumten.

Doch hätten Sie je so geträumt – nicht länger als ein, zwei Sekunden hätte der Nachklang von Angst und Schrecken Ihnen das Bild der vertrauten Wirklichkeit verdunkelt. Vorausgesetzt – ja, vorausgesetzt, dass Ihnen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Ihr Wohnort nicht zum Schicksal geworden wäre, wie vielen Männern und Frauen in Sachsen, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen, Brandenburg und in Mecklenburg.

Bitterer Abschied

Dort fing damals für viele ein anderer, ein ganz realer Albtraum an, in dem das Grauen der Tage in die Träume der Nacht und wieder in die Tage hinüberschwang – in Hunderte, nein – in Tausende, Abertausende leidzerquälte Tage. Ein Albtraum, den Menschen im Westen nie träumen mußten. Renate Siebert, damals in Sachsen-Anhalt zu Hause, blieb er nicht erspart. Sie erinnert sich:

„Es war kurz nach Ostern 1948, an einem 6. April. Das Datum werde ich nie vergessen. Denn es ist der Geburtstag meiner Jüngsten. Sie wurde damals gerade zwei. Die Ältere ging seit Ostern in die Schule. Auf die Geburtstagsfeier hatten sich beide Kinder schon lange gefreut. Auch die Kleine. In dem Alter fangen sie ja langsam an zu verstehen. Gerade hatte ich ihr ein Blumenkränzchen gebunden, wie sie es sich wünschte. Genau so eines, wie ihn das kleine Mädchen auf einer Geburtstagskarte trug. Aufsetzen konnte ich’s ihr nicht mehr. ‚Dawai, dawai!‘ – Schnell, schnell, forderten die Männer mit den blauen Kragenspiegeln des NKWD. Und schon fiel die Wohnungstür hinter mir zu.“

Jahrelang ließ die Erinnerung an die verschreckten Gesichter ihrer beiden kleinen Mädchen die Gefangene im Schlafen und im Wachen nicht los. Doch aus diesem Schmerz, aus der Sorge um ihre Kinder erwuchs ihr auch immer wieder die Kraft, allen Leiden und Nöten zum Trotz die Haftjahre durchzuhalten.

In der Sprache der Akten braucht’s nie viele Worte, um ein Schicksal zu fassen. Knappe zehn Zeilen genügen für das der Renate Siebert:

-Geboren 1914, verheiratet, Hausfrau, zwei Kinder (1942 und 1946).

-Verhaftet am 6. April 1948 in Halle/Saale

„wegen Sammeln von Spionage-Informationen betreffs der Sowjetarmee und der Wirtschaft und Politik in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands“.

-Verurteilt dafür am 4. September 1948 zu fünfundzwanzig Jahren Straf- und Arbeitslager.

-„Gnadenhalber“ nach acht Jahren am 31. Juli 1956 vorzeitig aus dem Zuchthaus entlassen.

-Am 18. Oktober 1994 in Moskau rehabilitiert

als „zu Unrecht“ verurteilt und eingesperrt. Denn – so die russische Militärgeneralstaatsanwaltschaft heute:

„(…) Die Akten enthalten keinerlei Beweismittel über (…) eine Spionagetätigkeit oder andere verbrecherische Handlungen zum Schaden der UdSSR (…)“

Wie soll man beschreiben, was es heißt, als Opfer politischer Willkür acht Jahre in Sachsenhausen und Hoheneck am Rande des Hungers zu vegetieren? Von der Familie – ja, von Welt und Leben überhaupt so total getrennt und isoliert, wie nicht einmal die Nazi-KZs es kannten! Wie lebte es sich in solcher Verlassenheit unter dem ständigen Druck eines Urteils, das mit seinen fünfundzwanzig Jahren doch auf ein Lebenslänglich hinauslief? Die Antwort auf solche Fragen steht in keiner Akte verzeichnet! Sie wäre auch nicht in einige knappe Zeilen zu fassen – so wenig, wie das Leben „danach“. Was hielt es für Irene Siebert bereit?

Sie stand vor dem Nichts wie fast alle ihre entlassenen Kameradinnen und Kameraden. Der Kreis, der ihr Leben ausgemacht hatte, die Familie, war zerbrochen. Ihr Mann hatte längst eine neue Ehe geschlossen. Die Kinder kannten die Mutter nicht mehr. Ihre einzige Schwester war ohne sie zu Grabe getragen worden. So kam zu der äußeren materiellen Not die innere einer unsäglichen Einsamkeit. Es war keiner mehr da, der sie liebevoll in die Arme geschlossen hätte.

Wenn sie jetzt, als alte Frau, auf ihr Leben zurückblickt, sind es nicht die bis heute reichenden Folgen der materiellen Verluste von damals, die sie bekümmern. Noch immer stehen die Kinder im Mittelpunkt ihrer Gedanken:

„Es kam alles ganz anders, als ich’s mir erträumte. – Der Frau, die meinen Mann geheiratet hatte, trage ich dabei nichts nach. Wäre es nicht die, dann wäre es eine andere gewesen. Sie hat mir einen sehr anständigen Brief geschrieben, als ich entlassen worden bin: Sie hätte meinen Mann nur geheiratet der Kinder wegen. – Mag sein, dass es stimmte.

Das Tragischste ist, wie die Kinder seelisch gelitten haben. Am meisten meine Älteste. Das ist spürbar bis auf den heutigen Tag, da sie selber bald 50 wird. Als ich abgeholt wurde, war sie sechs. Ich stelle sie mir immer vor, in den Jahren, wo ich weg war: wie ein schwaches, schwankendes Schilfrohr im Wind, das gebeugt und gebeutelt wird und nicht weiß, wohin sich zu wenden. Besonders, nachdem meine Schwester verstorben war. An ihr hingen die Kinder. Sie war immer wie eine zweite Mutter für sie gewesen.

Die Kleinere, an deren zweitem Geburtstag ich verhaftet wurde – mit der habe ich überhaupt niemals wieder richtig Kontakt gekriegt, als beide Kinder nach meiner Rückkehr schließlich doch zu mir kamen. So, als wäre sie gar nicht mein Kind, so entfremdet ist sie mir geblieben.

Natürlich – beide, heute erwachsen und gut erzogen, benehmen sich immer freundlich und lieb. Wenn einer sie jetzt anriefe, sagte, ihrer Mutter sei etwas zugestoßen und sie brauche Hilfe, dann würden sie natürlich kommen. Alle beide. Sofort. Aber dieses Innige, Warme zwischen Mutter und Kindern, das ist leider niemals wieder aufgekommen. Bis heute nicht. Beide wollen auch nichts hören von früher, wollen gar nichts hören. Dieses Schweigen drückt mir auf die Seele. Den bittersten Teil meines Lebens verschweigen zu müssen, als wäre es meine Schande – das ist es wohl auch, was die große Fremdheit zwischen mir und den Kindern macht.“

Zwei kleine Kinder, etwa im gleichen Alter, ließ auch Renate Kunze zurück, als die damals 35-jährige Hausfrau im Februar 1946 dem NKWD in die Hände fiel. Frau Kunze war erst gegen Ende des Krieges aus Wilhelmshaven nach Mitteldeutschland gezogen. Den englischen und amerikanischen Fliegerbomben war sie damit entronnen. Dass die Zukunft für die Mitte Deutschlands Schlimmeres bereithielt als nächtliche Fliegeralarme, das konnte wohl keiner damals ahnen.

So erinnert Irene sich heute:

„In Wilhelmshaven fielen damals, 1944, so viele Bomben; jede Nacht! Und ich war schwanger, erwartete mein zweites Kind. Wie viele andere Frauen mit kleinen Kindern wurde auch ich deshalb in ein ruhigeres Gebiet ‚evakuiert‘. Mit meiner damals vierjährigen Tochter landete ich in Mitteldeutschland, in Suhl in Thüringen. ‚Das wird amerikanisch besetzt werden’, sagte mein Mann noch, als er nach seinem letzten Urlaub wieder an die Front ging. ‚Da kannst du ruhig hinziehen, da passiert dir nichts!’ Er sah wohl damals schon, wie alles enden würde.

Ich habe mir solche Gedanken nicht gemacht. Ich bin ja eine große Träumerin und war glücklich verliebt, verheiratet, eine selige Mutter – und sonst gar nichts! Alles andere interessierte mich nicht. Ich war nur Mutter, nur Mutter und hatte nur meine Kinder im Sinn!

Noch in den letzten Tagen des Krieges ist mein Mann dann gefallen. Auf den 31. März 1945 lautete der Totenschein.“

Kurz darauf ziehen wirklich – wie ihr Mann es vorausgesagt hatte – in Suhl amerikanische Truppen ein. Doch die kümmern sich nicht um die zugereiste junge Familie. Warum auch? Irene Kunze hatte sich niemals öffentlich betätigt, und sie tat es auch jetzt nicht. Sich mit zwei kleinen Kinder überhaupt über Wasser zu halten, war für eine Ortsfremde schwer genug. Nahezu jeder hungerte damals ja und fror.

Am 1. Juli 1945 lösen – Vereinbarungen der Alliierten entsprechend – sowjetische Truppen die Amerikaner ab. Irene spürt von dem Wechsel wenig – vorerst!

„Eines Tages waren die Amis weg. Und plötzlich kamen – na, ich dachte, da kommen so ein paar zerlumpte deutsche Heimkehrer von der Front. Doch das waren die russischen Soldaten! Die sahen ja zum Fürchten aus zu Anfang!

Von den Amis hatten die offenbar Jeeps geklaut, damit rasten sie im Wald herum. Ich wohnte direkt am Wald, und so erlebte ich das aus nächster Nähe mit. Wenn das Benzin alle war, dann ließen sie den Jeep einfach stehen. Die wußten wohl überhaupt nicht, dass da Sprit reingehörte. Die wußten nur, wie die Dinger anzudrehen waren. Ach, es waren ja verdreckte und zerlumpte Kinder, richtige große Kinder – also wirklich.

Man hätte sich vor ihnen fürchten können, weil sie doch Waffen hatten. Aber wir sind nicht vergewaltigt worden. Der Kommandant hat allen Deutschen gesagt, die Frauen sollten sich Pfeffer ans Bett stellen oder in die Tasche stecken und das benutzen, wenn ein Russe sie anfallen würde. Oder eine Flasche Tinte ans Bett. Wenn einer eine Flasche Tinte über die Uniform bekommen hat, dann könnten sie ihn als Übeltäter erkennen. Sich an Frauen heranzumachen war den Soldaten überhaupt streng verboten! Sie durften uns nicht nur nicht anrühren, sondern nicht mal mit uns reden! Die hatten wohl Angst, dass wir sie beeinflussen könnten.“

Die Ruhe, in der die junge Witwe mit ihren Kindern lebte, war trügerisch. Im Februar 1946 – mitten in der Nacht – läutet es plötzlich Sturm an Frau Kunzes Tür. Als sie aufgeregt öffnet, drängt eine Gruppe von Uniformierten in ihren schmalen Wohnungsflur. Von dem Lärm erwachen die Kinder. Sie beginnen zu weinen.

„Sie kamen mit sechs Mann. – Eine Frau darunter zwar, aber das nachts um zwei! Angeblich ging es um meinen gefallenen Mann, der Offizier gewesen war. Er wurde plötzlich gesucht, obwohl sein Tod doch ordnungsgemäß bei allen Behörden registriert war. Ich sage, mein Mann ist gefallen, und habe die Gefallenenmeldung vorgezeigt. Da haben sie erst so ein bißchen Russisch vor sich hingeredet. Und dann haben sie gesagt, ich möchte doch so freundlich sein und mitkommen und ihnen auf der Kommandantur unterschreiben, dass mein Mann gefallen ist. – Nachts um zwei holen die mich dazu aus dem Bett, damit ich unterschreibe, dass mein Mann gefallen ist!“

Auch Irene Kunzes Erinnerung bewahrt bis heute ein schmerzvolles Bild jener Nacht: Wie ihr kleines Mädchen sich ängstlich in ihre Arme schmiegt, der Zweijährige aus seinem Gitterbettchen die kleinen Händchen nach ihr streckt. Aber ‚Dawai, dawai!’ ‚Schnell fort, schnell fort!’ Die Kinder beruhigen? Daran ist gar nicht zu denken. Man läßt Frau Kunze kaum Zeit, sich anzukleiden. Als die Tür hinter ihr ins Schloß fällt, tönt das ängstliche Rufen und Weinen der Kleinen hinter ihr her. Acht Jahre lang gellte ihr das in den Ohren nach – eine Mutter, gezwungen, stumm davonzugehen, als fechte die Not ihrer Kinder sie überhaupt nicht an… Acht Jahre lang – denn erst 1954 wird sie wieder nach Hause kommen.

Besonders quält sie der Gedanke, dass sie keinen weiß, der sich um die beiden kümmern könnte. In Suhl gibt es weder nähere Bekannte noch Verwandte. Und von der Familie in Wilhelmshaven trennt damals, Anfang 1946, unerbittlich die Zonengrenze. Als Irene in den Vernehmungen darüber klagte,

„dass ich doch in Suhl keinen Menschen kannte, der sich um die Kinder hätte kümmern können, da hieß es nur: ‚Die Kinder sind in Moskau und werden dort zu Sowjetbürgern erzogen.’ – Vier Jahre haben die Russen mich in diesem Glauben gelassen! Ich habe darüber bald den Verstand verloren, dass meine Kinder auf Nimmerwiedersehen in der Sowjetunion verschwunden sein sollten!“

Einzelfall oder Methode? Eine anderes Opfer: Helga Söntgen. Und eine andere Szene:

„Dann waren nur Nachtverhöre. Nachts – in der Stille – hörtest du jeden Tritt! Die Schritte – sie kamen immer näher, immer näher. Und da wußtest du: Jetzt, jetzt schließen sie gleich bei dir auf. Jetzt kommst du raus. Dann waren die Vernehmungen – sie waren immer bei Scheinwerferlicht. Und das – wie grausam das war, kann ich keinem beschreiben … !

Mein schlimmstes Erlebnis war, da ließen sie ein Kind nebenan schreien. Es war bestimmt – das sage ich mir heute – es war bestimmt ein Russenkind. Jedenfalls sagten sie, es wäre mein Kind, das ginge jetzt auf Rußland-Transport. Eine Mutter, die Spionin ist, die braucht kein Kind, sagten sie. Das Kind ginge nach Rußland.

Ich habe das damals geglaubt, ich war wie … ach, … wenn ich eine Möglichkeit gehabt hätte, also – da hätte ich Schluß gemacht! Denn wenn man sein Kind schreien hört und man kann nicht hin …! Dass es vielleicht doch nicht das eigene Baby ist, das erkennt man dann ja nicht! Den Ton – durch die Zellentüren durch …! Es war schon grausam. Ich gönne das meinem ärgsten Feind nicht!“

Schon die Verhaftung der jungen Frau war schockierend genug gewesen. Helga Söntgen bleibt noch heute die Stimme im Halse stecken, wenn sie schildert, wie man sie abgeholt hat.

„Ich war gerade anderthalb Jahre verheiratet, mein Junge war neun Monate alt, als es eines Tages an der Tür klopft und klingelt. Ein Deutscher steht da: ‚Für Sie ist ein Einschreibebrief auf der Post. Den müssen Sie abholen. Kommen Sie gleich mit. ‘

Ich gehe runter mit ihm. Da steht unten ein zweiter Mann. Wir gehen ans Auto – ein Auto wartet da, ein Zivilauto. Plötzlich kriege ich einen Sack über den Kopf, ins Auto rein – und weg war ich …“

Bis sie schließlich – 1951, nach der Verurteilung – den Deutschen übergeben wurde, verbrachte Frau Söntgen ein Jahr in russischer Untersuchungshaft. Mehr will sie darüber nicht sagen. Nur diese Begründung noch:

„Das mußt du verstehen. Wir hatten ja nur nachts Verhöre. Und da kommst du raus aus der Zelle, kommst du runter in den Gang da lang – und dann siehst du, dass Blut da aus der Zelle rausfließt!

Das sind alles so Sachen, die du nie vergißt. Nein, ich möchte das gar nicht mehr alles auffrischen, nicht mehr darüber reden!“

Im Frühjahr 1950 also noch immer und immer wieder ganz einfach „Sack über’n Kopf“! Und Vernehmungen, bei denen Menschenblut floß. Denn mit den gleichen Methoden war es schon 1947 zugegangen. Sack über den Kopf – so war mit einer Gruppe junger Frauen und Männer auch Inge Haller abgeholt worden. Und auch ihr weinten zwei kleine Kinder jämmerlich nach.

„Die deutsche Kriminalpolizei hat uns nach Wernigerode gebracht, ins GPU-Gefängnis. Von dort mit verbundenen Augen, die Hände mit Stricken gefesselt, auf einen LKW. Und auf dem LKW Säcke über den Kopf gestülpt, damit wir nichts sahen. Wir haben gedacht, wir werden jetzt irgendwo in den Wald gebracht und erschossen. Aber die Säcke waren kaputt, da haben wir dann auf dem Wagen doch mitgekriegt, dass die uns nach Halle fuhren, in den Roten Ochsen – so als Säcke. Wir wurden so hingestellt, dass keiner sah, dass da Menschen drin waren.“

Als erzähle sie einen Krimi, den sie jüngst gesehen oder gelesen hat, so ruhig berichtet Inge Haller heute über diese Stunden der Todesangst.

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612 str. 87 ilustracje
ISBN:
9783938176825
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