Die Prinzipien der Kriegspropaganda

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Die Prinzipien der Kriegspropaganda
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Anne Morelli

Die Prinzipien der Kriegspropaganda

Aus dem Französischen von

Marianne Schönbach


Die französische Originalausgabe erschien bei den Éditions Labor, Brüssel, unter dem Titel: Principes élémentaires de propagande de guerre. Utilisables en cas de guerre froide, chaude ou tiède … © der Originalausgabe 2001, Éditions Labor, Quai du Commerce 29, B-1000 Brüssel.

Die deutsche Ausgabe basiert auf einer aktualisierten Fassung der Autorin aus dem Jahre 2004.

Zweite Auflage 2014

© der deutschen Ausgabe: zu Klampen Verlag

Röse 21 · D-31832 Springe

e-mail: info@zuklampen.de

www.zuklampen.de

Satz: thielenVERLAGSBUERO, Hannover

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Umschlag: Matthias Vogel (paramikron), Hannover

ISBN 978-3-86674-444-8

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Danke, Lord Ponsonby!

1. Wir wollen keinen Krieg

2. Das feindliche Lager trägt die alleinige Schuld am Krieg

3. Der Feind hat dämonische Züge (oder: »Der Teufel vom Dienst«)

4. Wir kämpfen für eine gute Sache und nicht für eigennützige Ziele

5. Der Feind begeht mit Absicht Grausamkeiten. Wenn uns Fehler unterlaufen, dann nur versehentlich

6. Der Feind verwendet unerlaubte Waffen

7. Unsere Verluste sind gering, die des Gegners aber enorm

8. Unsere Sache wird von Künstlern und Intellektuellen unterstützt

9. Unsere Mission ist heilig

10. Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter

Von Lord Ponsonby zu Jamie Shea

Nachweise und Anmerkungen

Danke, Lord Ponsonby!

Als ich an der Freien Universität Brüssel das Lehrgebiet »Historische Quellenkritik« übernahm, empfahl mir mein einstiger akademischer Lehrer, Professor Stengers, zwei Werke zur privaten Lektüre und auch als Basis für meine Lehrveranstaltungen. Erstens legte er mir Jean Norton Crus Studie über Augenzeugenberichte ans Herz, das viele unserer Vorstellungen über den Wahrheitsgehalt persönlicher Kriegsberichte in Frage stellt.1 Zweitens empfahl er mir das aufwühlende Buch von Arthur Ponsonby, das 1928 unter dem Titel Falsehood in Wartime in London erschienen war.2

Vorab ein paar Sätze über Arthur Ponsonby, denn immerhin verdankt das vorliegende Buch seine Entstehung dieser faszinierenden Persönlichkeit und seinen Überlegungen zur Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Baron Arthur Ponsonby (1871 – 1946) stammte aus einer der bedeutendsten Familien Großbritanniens. Da sein Vater Privatsekretär der englischen Königin Victoria war, wurde Arthur auf Schloß Windsor geboren.

Nach standesgemäßem Studium in Eton und Oxford entschied sich Ponsonby für eine diplomatische Laufbahn und zog später als Mitglied der Liberalen Partei (schon das in Anbetracht seiner Herkunft äußerst gewagt!) ins Unterhaus ein. Aus Protest gegen den Kriegsbeitritt seines Landes im Jahr 1914 wechselte er (damals für einen Aristokraten geradezu ungeheuerlich!) zur Labour Party über, die er zunächst im Unter-, dann im Oberhaus repräsentierte. In den von der Labour Party geführten Regierungen war er erst Unterstaatssekretär im Außenministerium, dann Verkehrsminister, schließlich Führer der Labouropposition im Oberhaus. Als sich die Labour Party 1940 den Kriegsbefürwortern anschloß, blieb Arthur Ponsonby seiner pazifistischen Einstellung jedoch treu und brach mit seiner Partei.

Im Oktober 1914 hatte er zusammen mit drei sehr angesehenen englischen Liberalen (Norman Angell, Edmund D. Morel und Trevelyan) und dem damaligen Führer der Labour Party, Ramsay Mac-Donald, die Union of Democratic Control gegründet, die sich als öffentlich operierende Kontrollinstanz der britischen Außenpolitik verstand. Trotz der Verfolgungen, denen ihre Mitglieder ausgesetzt waren,3 veröffentlichte die Union während des Ersten Weltkriegs und auch später Pamphlete, in denen sie die offizielle Propaganda der britischen Regierung bekämpfte. Bald dehnte sie ihre Aktivitäten auch aufs Ausland aus, vor allem durch ihre Monatszeitschrift Foreign Affairs, die den Untertitel trug A Journal of International Understanding. In Frankreich war der Union of Democratic Control die Société d’étude sur la guerre und die Union populaire pour la paix angeschlossen, die sich unter anderem für die Veröffentlichung des Buches von Georges Demartial, Comment on mobilisa les consciences,4 einsetzte.

Als eingefleischter Pazifist wußte Arthur Ponsonby5 natürlich, daß Krieg immer mit unzähligen Greueltaten, Gewaltakten und Barbarei einhergeht. In seinem Buch ging es ihm jedoch in erster Linie darum, die Lügen zu benennen und zu analysieren, die im Ersten Weltkrieg erfunden und propagiert wurden, um den jeweiligen Bevölkerungen der kriegführenden Länder Wut, Angst und Haß einzuflößen, um also die Leidenschaften der Menschen zu entfachen und dadurch – zumindest in Großbritannien, wo es keine allgemeine Wehrpflicht gab – möglichst viele Freiwillige rekrutieren zu können. So zählte er nicht nur die Lügen auf, die in Deutschland, Frankreich, Italien und in den Vereinigten Staaten verbreitet worden waren, sondern vor allem die aus seiner Heimat Großbritannien, wo Lord Northcliffe für die offizielle Propaganda zuständig war.

Auf diese Weise hat Arthur Ponsonby einige entscheidende Mechanismen der Kriegspropaganda herausgearbeitet, die sich in zehn »Geboten« zusammenfassen lassen. Im vorliegenden Buch habe ich diese zehn »Gebote« in zehn Kapiteln systematisch untersucht. Bei jedem einzelnen Prinzip der Propaganda versuche ich zu belegen, daß es nicht nur im Ersten Weltkrieg eine Rolle spielte, sondern seither immer wieder von den Konfliktparteien verwendet wurde.

Es geht mir hier nicht darum, die guten oder bösen Absichten der unterschiedlichen Kriegsparteien zu sondieren. Ich will nicht herausfinden, welche Partei Lügen und welche die Wahrheit propagiert, welche in gutem Glauben handelt und welche nicht. Mein Ziel war einzig und allein, die Prinzipien der Kriegspropaganda, die von allen Konfliktparteien in gleicher Weise verwendet werden, anschaulich zu beschreiben und ihre Mechanismen zu verdeutlichen. Die klassischen Prinzipien Ponsonbys, das sei noch gesagt, lassen sich zwar am Beispiel »heißer« Kriege am einfachsten demonstrieren. Sie werden in »kalten« oder »lauwarmen« Kriegen aber mit ebenso viel Erfolg angewendet.

1. Wir wollen keinen Krieg

In der neueren Geschichte, so hatte bereits Arthur Ponsonby festgestellt, wird von den Staatsmännern aller Länder vor der Kriegserklärung oder in der Kriegserklärung stets beteuert, gegen den Krieg zu sein. Da Krieg und seine grauenhaften Begleiterscheinungen nur selten populär sind, können Regierende gar nicht umhin, sich vorab als Friedensfürsten darzustellen.

Als die französische Regierung 1914 mobil machte, erklärte sie denn auch sofort, daß eine Mobilmachung ja noch kein Krieg sei, sondern im Gegenteil das beste Mittel zur Aufrechterhaltung des Friedens. Am 19. August 1915 beteuerte der deutsche Reichskanzler, Deutschland habe den Krieg nicht gewollt, da der Wohlstand des Landes doch seit Gründung des Kaiserreichs mit jedem weiteren Friedensjahr gewachsen sei.

Bei den Abrüstungsverhandlungen in Washington im November 1921 ließ sich Aristide Briand, der die französischen Kolonialkriege von Napoleon bis zurück zu Ludwig XIV. und auch die französischen Forderungen im Vertrag von Versailles offensichtlich vergessen hatte, zu der Behauptung hinreißen: »Nie während seiner ganzen Geschichte ist das französische Volk imperialistisch oder militaristisch gewesen, und keine andere Siegernation hätte sich mit so bescheidenen Forderungen zufriedengegeben wie wir Franzosen«.

 

Im Zweiten Weltkrieg war es nicht anders. Daß die Alliierten ihre Friedensliebe beteuerten, mag nicht verwundern, doch verblüffenderweise behaupteten die Achsenmächte das Gleiche von sich. In alten Wochenschauen kann man sehen, daß der japanische Admiral Tojo und der amerikanische Präsident Roosevelt nach der Kriegserklärung der USA an Japan im Dezember 1941 fast wortwörtlich dieselben Floskeln benutzten. Beide bezeichneten sich als pazifistisch und betonten, sie seien gegen den Krieg.

In den Reden Franklin D. Roosevelts taucht dieses Thema häufig auf. Am 16. Mai und am 10. Juli 1940 etwa versicherte er dem Kongreß, der die Kriegskredite für den Aufbau einer größeren und schlagkräftigeren Armee bewilligen mußte: »Nicht nur jeder amerikanische Bürger, sondern jede Regierung auf der Welt weiß, daß wir keinen Krieg wollen. Wir werden unsere Waffen nicht in einem Aggressionskrieg zum Einsatz bringen; wir werden unsere Soldaten nicht in europäische Kriege schicken. Aber wir werden jeden Angriff gegen die Vereinigten Staaten oder die westliche Welt abwehren.«6 Selbst Hitler, Göring und v. Ribbentrop kehrten 1939 ihren Friedenswillen heraus, genauso wie der französische Ministerpräsident Edouard Daladier, der allerdings wirklich mit aufrichtigem Bemühen versucht hat, den drohenden Krieg zu vermeiden. Die von der französischen Regierung zugänglich gemachten diplomatischen Akten7 aus der Zeit unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs dokumentieren jedoch zahlreiche einander widersprechende Beispiele dieses »Friedenswillens«.

Schon im deutsch-österreichischen Freundschaftsvertrag von 1936 erklärten die Regierungen des Reichs und des Bundesstaates Österreich, ihre Beziehungen verändern zu wollen, aus ihrer Überzeugung heraus, damit einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Friedensentwicklung in Europa zu leisten. Als sich die Krise zuspitzte, die dann zur Zerschlagung der Tschechoslowakei führte, erklärte Hitler am 26. September 1938 in der Rede im Berliner Sportpalast, er habe dem britischen Premierminister Chamberlain versichert, »daß das deutsche Volk nichts anderes will als Frieden. Allein, ich habe ihm auch erklärt, daß ich nicht hinter die Grenzen unserer Geduld zurückgehen kann«.

In derselben Rede – ein Jahr vor dem deutschen Einmarsch in Polen – zitierte Hitler das deutsch-polnische Abkommen als Modell: »Wir alle sind überzeugt, daß dieses Abkommen eine dauernde Befriedung mit sich bringen wird. Wir sehen ein, daß hier zwei Völker sind, die nebeneinander leben müssen und von denen keines das andere beseitigen kann. […] Das Entscheidende ist, daß die beiden Staatsführungen und alle vernünftigen und einsichtigen Menschen in beiden Völkern und Ländern den festen Willen haben, das Verhältnis immer mehr zu bessern«.

Dieser »Friedenswille« ist tatsächlich eines der Leitmotive in den Erklärungen des »Führers«. Gegenüber dem französischen Botschafter in Berlin erklärte er zum Thema deutschfranzösische Beziehungen: »Ich möchte, daß diese Beziehungen friedlich und gut sind und ich sehe keinen Grund, weshalb sie es nicht sein sollten. Es gibt keinen Grund zum Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich.«8 Das von Hitler und dem tschechischen Staatspräsidenten Dr. Hach am 15. März 1939 unterzeichnete Abkommen, das der Existenz der Tschechoslowakei ein Ende bereiten sollte, beginnt mit dem Ausdruck der »Überzeugung, daß das Ziel aller Bemühungen die Sicherung von Ruhe, Ordnung und Frieden in diesem Teil Mitteleuropas sein müsse.«9

Außenminister v. Ribbentrop erklärte gegenüber dem slowakischen Regierungschef Tiso unter Anspielung auf die deutsch-polnischen Beziehungen: »Der Führer will keinen Krieg. Er wird sich nur mit größtem Widerwillen dazu entschließen.«10Und als Göring Anfang August 1939 vor den Arbeitern der Rheinmetall-Werke sprach, betonte auch er, daß das Reich keinen Krieg wolle, daß es gelassen und voller Vertrauen in den »Führer« dem von diesem ersehnten Frieden entgegensehe, daß es sich jedoch wehren würde, wenn man ihm diesen Frieden verweigere oder wenn jemand die Dummheit begehen sollte, ganz Europa in einen Krieg zu ziehen.11

Hitler beteuerte in einem Brief vom 27. August 1939 an den französischen Ministerpräsidenten Edouard Daladier erneut seinen Friedenswillen. Seine Worte könnten einen zu Tränen rühren, wenn man nicht wüßte, welche tatsächlichen Absichten und Pläne sich dahinter verbargen, Pläne, die schon lange fertig in der Schublade warteten: »Als alter Frontsoldat kenne ich wie Sie die Schrecken des Krieges. Aus dieser Gesinnung und Erkenntnis heraus habe ich mich auch ehrlich bemüht, alle Konfliktstoffe zwischen unseren beiden Völkern zu beseitigen.« Und er versicherte, daß es ihm mit seinem Verzicht auf Elsaß-Lothringen vollkommen ernst sei: »Durch diesen Verzicht und durch diese Haltung glaubte ich jeden denkbaren Konfliktstoff zwischen unseren beiden Völkern ausgeschaltet zu haben, der zu einer Wiederholung der Tragik von 1914 – 1918 würde führen können […]. Wir haben auf Elsaß-Lothringen verzichtet, um ein neues Blutvergießen zu vermeiden.«

Gleichzeitig wandte sich Hitler mit einem Schreiben an die britische Regierung, um auch sie von seinen pazifistischen Absichten zu überzeugen. Wieder brachte er »den Wunsch der Reichsregierung nach einer aufrichtigen deutsch-englischen Verständigung, Zusammenarbeit und Freundschaft« zum Ausdruck. Und als er am 1. September 1939 den Reichstag einberief, um ihn über den Einmarsch in Polen zu unterrichten, unterstrich Hitler auch diesmal seine friedlichen Absichten und seine Bemühungen um Erhaltung des Friedens: »Wie immer, so habe ich auch hier versucht, auf dem Wege friedlicher Revisionsvorschläge eine Änderung des unerträglichen Zustandes herbeizuführen. Es ist eine Lüge, wenn in der Welt behauptet wird, daß wir alle unsere Revisionen nur unter Druck durchzusetzen versuchten. […] In jedem einzelnen Fall habe ich dann von mir aus nicht einmal, sondern oftmals Vorschläge zur Revision unerträglicher Zustände gemacht […]. Sie kennen die […] endlosen Versuche, die ich zu einer friedlichen Verständigung über das Problem Österreich unternahm und später über das Problem Sudetenland, Böhmen und Mähren […]. Ich bin entschlossen, dafür zu sorgen, daß im Verhältnis Deutschlands zu Polen eine Wendung eintritt, die ein friedliches Zusammenleben sicherstellt.«

Ganz ähnliche Worte waren – was uns weit weniger überrascht – aus dem Lager der Alliierten zu hören. Bei einem Gespräch am 15. August 1939, kurz vor Ausbruch der »drôle de guerre«, des zunächst ruhenden Krieges zwischen Deutschland und Frankreich, kennzeichnete der französische Botschafter in Berlin gegenüber dem deutschen Staatssekretär im Außenministerium sein Volk als »arbeitsam, ruhig und friedliebend, das aber für die Verteidigung seiner Ehre und seiner Position in der Welt zu allen Opfern bereit ist.« Als Edouard Daladier am 2. September 1939 das französische Parlament über den Ausbruch des Krieges unterrichtete, griff auch er dieses Thema auf: »Nie wären wir Franzosen bereit, in das Territorium eines fremden Landes einzumarschieren.« Eine koloniale Vergangenheit Frankreichs schien es nicht zu geben. Und auch sein »Appell an die Nation« vom 3. September 1939 kreiste um die Betonung seines Friedenswillens: »Ich kann guten Gewissens behaupten, rastlos, bis zur letzten Minute, gegen den Krieg angekämpft zu haben.«12

Wenn alle Staats- und Regierungschefs vom gleichen Friedenswillen beseelt sind, stellt sich natürlich die Frage, warum dennoch immer wieder Kriege ausbrechen! Das zweite Prinzip der Kriegspropaganda begegnet diesem Einwand jedoch sofort: Wir sind zum Krieg gezwungen worden, der Angriff ging vom gegnerischen Lager aus, wir sind gezwungen zu reagieren, aus Notwehr beziehungsweise um unseren internationalen Verpflichtungen nachzukommen.

2. Das feindliche Lager trägt die alleinige Schuld am Krieg

Arthur Ponsonby hatte dieses Paradox bereits am Beispiel des Ersten Weltkriegs aufgedeckt, und wahrscheinlich ließe es sich auch auf Kriege davor beziehen: Stets versichert jede Kriegspartei, sie sei zur Kriegserklärung gezwungen gewesen, um den Gegner daran zu hindern, die Welt in Brand zu stecken. Alle Regierungen betonen immer wieder lauthals, daß manchmal Krieg geführt werden müsse, um dem Krieg ein für allemal ein Ende zu bereiten. Dieses sei nun der letzte Krieg, weil mit ihm sämtliche Konfliktursachen beseitigt würden.

Obwohl sich Paris 1914 klar darüber war, daß die gleichzeitige Mobilmachung Russlands und Frankreichs unweigerlich die Kriegserklärung Deutschlands nach sich ziehen würde, rief Frankreich die allgemeine Mobilmachung aus und wartete auf die dann auch prompt folgende Antwort Deutschlands. Kaum hatte Deutschland den Krieg erklärt, beschworen aber sowohl der französische Staatspräsident als auch der Premierminister in seiner Rede vom 4. August 1914, daß Frankreich völlig überraschend durch die »plötzliche, abscheuliche, heimtückische, beispiellose« Aggression Deutschlands in den Krieg hineingezogen worden sei. Kein Wort natürlich über die geheimen Absprachen Frankreichs mit Russland. Um der Bevölkerung weismachen zu können, daß allein den Deutschen die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zukomme, wurden aus dem sogenannten »Gelben Buch«, einer Sammlung französischer diplomatischer Schriftstücke, einige Dokumente entfernt, andere bewußt verändert, so daß von den französisch-russischen Vereinbarungen und der russischen Mobilmachung nichts an die Öffentlichkeit dringen konnte.

Der französische Historiker Ernest Lavisse behauptete am 5. November 1914 in seiner Rede zu Semesterbeginn an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Paris: »Es hätte keinen Krieg gegeben, wenn Deutschland ihn nicht gewollt hätte; allein [Hervorhebung der Autorin] Deutschland hat den Krieg gewollt«. In dasselbe Horn blies Le Matin vom 1. August 1914: »Wir hätten alles getan, was man nur tun kann, um den Krieg zu verhindern. Aber wenn er ausbricht, werden wir ihn mit größten Erwartungen begrüßen.« Und in Le Temps vom 2. August 1914 war zu lesen: »Da uns dieser Krieg aufgezwungen wurde [Hervorhebung der Autorin], werden wir ihn mit aller Leidenschaft führen.«

Allgemein gilt, daß immer der Nachbar als Aggressor hingestellt wird, obwohl im Moment des Kriegsausbruchs meist gar nicht genau zu ermitteln ist, wer wirklich der Aggressor ist. Tatsächlich jedoch werden Kriege, wie Luigi Sturzo feststellte, fast immer von der Partei ausgelöst, die aufgrund ihrer überlegenen Waffen oder Offensivkraft davon ausgeht, ihn rasch und sicher gewinnen zu können.13

Darüber hinaus wird dem Feind, dem »anderen«, stets mangelnder Respekt gegenüber Verträgen unterstellt. So behaupteten die Franzosen, daß die Deutschen 1914 die Abmachung von 1839 verletzt hätten, in der die Neutralität Belgiens festgeschrieben war. Aus französischer Sicht waren Verträge für die Deutschen immer nur ein »Fetzen Papier«. Nun besteht jedoch immer nur die Seite auf der strikten Einhaltung von Verträgen, die sie zum eigenen Vorteil brauchen kann, und gelten Verträge immer nur als ein »Fetzen Papier« für die Partei, die sie am liebsten zerreißen würde. Zwar hatten die Deutschen 1914 in der Tat die Neutralität Belgiens verletzt, aber schon 1911 hatte der französische General Michel in einem Bericht seinen Kriegsminister geraten, »einen Großteil unserer Truppen für eine mächtige Offensive in Belgien einzusetzen.«14

Auch die Engländer rechneten schon seit 1911 damit, daß sie im Fall eines Krieges mit Deutschland als Präventivmaßnahme ihre Truppen nach Flandern schicken würden.15 Eine Vereinbarung mit dem belgischen Generalstab lautete entsprechend.

In Paris und London war man beinahe erleichtert, als Deutschland seine Truppen im August 1914 durch Belgien marschieren ließ. Damit konnten sich die französische und englische Regierung gegenüber ihren Völkern leicht für den Kriegsbeitritt rechtfertigen. Schließlich hatte Deutschland diesen Krieg provoziert.

 

Auch die Vereinigten Staaten begründeten ihren Kriegseintritt am 2. April 1917 mit der notwendigen »Bestrafung der illegalen Aggressionen [Hervorhebung der Autorin] Deutschlands gegen Bürger und Güter Amerikas, die aufgrund der Neutralität des Landes nicht mehr wirksam geschützt werden konnten.«16 Jedes Lager präsentierte seinen Kriegseintritt als Antwort auf eine Aggression.

Der Versailler Vertrag, der Deutschland 1919 nach seiner Kapitulation auferlegt wurde, führt in Artikel 231 sogar explizit aus, daß Deutschland die alleinige Kriegsschuld übernimmt. Deutschland und seine Verbündeten seien »verantwortlich dafür, sämtliche Verluste und Schäden verursacht zu haben, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Bürger infolge des ihnen durch die Aggression Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben [Hervorhebung der Autorin].«17

Einige Zeit nach dem Krieg wurden jedoch auch bei den Alliierten Stimmen laut, die einräumten, daß es nicht nur einen Verantwortlichen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gab. So äußerte etwa Henri Poincaré 1925: »Ich behaupte nicht, daß Deutschland und Österreich primär die bewußte und lange gereifte Absicht hatten, einen allgemeinen Krieg auszulösen. Es gibt kein Dokument, das zur Annahme berechtigen würde, daß sie damals irgendeinen systematischen Plan verfolgt hätten.« Und Francesco Nitti, der ehemalige italienische Ministerpräsident, gab nach dem Krieg zu, daß die Alleinschuld des Feindes ein Kriegsmythos war: »Ich kann nicht sagen, daß Deutschland und seine Verbündeten die einzig Schuldigen am Krieg waren, der ganz Europa verwüstet hat […]. Wir alle haben das während des Krieges behauptet, als Waffe, wie man sie in jeder Epoche zu Kriegszeiten verwendet hat; jetzt aber, wo der Krieg beendet ist, läßt es sich nicht mehr als ernsthaftes Argument ins Feld führen […]. Wenn es einst möglich sein wird, die Dokumente der Kriegsdiplomatie sorgfältig zu analysieren und wenn die zeitliche Distanz zu den Geschehnissen uns erlauben wird, sie in Ruhe zu beurteilen, wird man erkennen, daß die Haltung Russlands die wirkliche und eigentliche Ursache des weltweiten Konflikts gewesen war.«

Man sollte meinen, daß dieses Propagandaprinzip 25 Jahre später keine Wirkung mehr auf eine Generation ausüben kann, die von einem weiteren »allerletzten« Krieg kalt erwischt wird. Dennoch wurde es vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von beiden Lagern wieder bemüht.

Die Version des alliierten Lagers lautete dabei wie folgt: Die Schicksale des unglücklichen Österreich, das gegen seinen Willen von Deutschland annektiert worden war, der friedliebenden Tschechoslowakei, die man in Stücke zerteilt hatte, des demokratischen Polen, dem man seinen Zugang zum Meer entreißen wollte, stellten Provokationen der Achsenmächte dar, die Frankreich und England dazu zwangen, Deutschland den Krieg zu erklären, um die eigene beschämende Kompromißbereitschaft nicht zu wiederholen, die unter anderem das Sudetenland der deutschen Gefräßigkeit ausgeliefert hatte. Aus diesem englisch-französischen Blickwinkel war die den Tschechen aufgezwungene Abtretung von Bevölkerungen und Gebieten nur durch die Furcht der Alliierten vor dem Reich und die unentschuldbare Schwäche der Politiker zu erklären, von denen die demokratischen Staaten repräsentiert wurden.

Frankreich hatte sich aus der Perspektive der alliierten Sieger daher nur widerstrebend für den Krieg entschieden, weil es ein unauflösbares Band mit der Tschechoslowakei hatte, an deren Gründung es beteiligt gewesen war. Die französische Regierung konnte ihr Wort nicht brechen, das sie damals mit ihrer Unterschrift und den daraus erwachsenden heiligen Verpflichtungen gegeben hatte.

In Wirklichkeit aber war etwa Frankreich in Hinblick auf den letztgenannten Punkt durch keine Unterschrift und keinen Vertrag gezwungen, im Falle eines deutschen Angriffs auf die Tschechoslowakei den Tschechen automatisch beizustehen. Natürlich stand es Frankreich frei, aus eigenem Antrieb so zu handeln, doch weder der Beistandspakt, der zwischen beiden Ländern 1924 unterzeichnet worden war, noch der Vertrag von Locarno von 1925 verpflichtete das Land dazu. Im Beistandspakt von 1924 verpflichteten sich beide Länder, sich in außenpolitischen Fragen abzustimmen (Art. 1) und im Fall von Bedrohung Maßnahmen zur Wahrung gemeinsamer Interessen zu vereinbaren (Art. 2), von Verpflichtungen Frankreichs gegenüber der Tschechoslowakei war also keine Rede.

Im Vertrag von Locarno hatten Frankreich und die Tschechoslowakei zwar gegenseitigen militärischen Beistand im Fall einer deutschen Aggression vereinbart, aber im letzten Artikel hieß es, daß der französisch-tschechische Beistandspakt in dem Moment hinfällig sei, in dem der allgemeine Vertrag von Locarno außer Kraft gesetzt würde.18 Nun war aber der Vertrag von Locarno 1938 von seinen verschiedenen Unterzeichnern schon lange aufgekündigt worden und damit Geschichte, der französisch-tschechische Beistandspakt war also automatisch hinfällig geworden. Die französische Regierung hütete sich jedoch, dies der Bevölkerung klar zu machen, denn nur so konnte sie plausibel versichern, daß Frankreich zum Krieg gezwungen war, zu einem Krieg, der natürlich als rein defensiv beschrieben wurde.

In seiner Parlamentserklärung vom 2. September 1939 versicherte Daladier (und kehrte dabei erneut die koloniale Vergangenheit seines Landes unter den Tisch): »Das Heldentum der Franzosen beruht auf Verteidigung und nicht auf Eroberung. Wenn Frankreich sich erhebt, dann nur aus dem Bewußtsein heraus, daß es bedroht ist.« Und in seinem »Appell an die Nation«, in dem er die französische Verantwortung für die auch durch den Versailler Vertrag hervorgerufene Situation schlichtweg überging, versicherte er am 3. September 1939: »Deutschland hat sich geweigert, allen Menschen guten Willens zu antworten, die ihre Stimme in letzter Zeit für die Wahrung des Weltfriedens erhoben hatten […]. Wir führen den Krieg, weil man ihn uns aufgezwungen hat.« Wiederum trägt das andere Lager die alleinige Schuld am Krieg.

Schaut man sich jedoch die Dokumente der damaligen Zeit noch einmal näher an, so wird verständlich, weshalb es umgekehrt so einfach war, vor der deutschen öffentlichen Meinung, genau wie später gegenüber der öffentlichen Meinung in Japan, behaupten zu können, das Lager der Alliierten habe den Krieg gewollt und bewußt herbeigeführt. Aus deutscher Sicht zum Beispiel, und bei weitem nicht nur aus Sicht der Nazis, waren die Verträge von Versailles, von Saint-Germain und von Trianon unerträgliche Diktate, Konsequenz eines zweifelhaften Sieges. Sie hatten zum Ziel, die Macht des deutschen Reiches und Österreichs zu schmälern und zum Zusammenbruch ihres jeweiligen Kaiserreichs zu führen. Diese Verträge wurden als Demütigungen empfunden, stürzten die besiegten Länder in tiefstes materielles Elend und schnitten einen beträchtlichen Teil der deutschen Minderheiten im Ausland von der Heimat ab. Die Revision dieser Verträge konnte daher als Wiedergutmachung eines Unrechts dargestellt werden, das zu beseitigen sich Engländer und Franzosen weigerten.

Der Anschluß von Österreich an Deutschland am 11. März 1938 war aus dieser Perspektive also keineswegs ein Gewaltakt, abgesehen davon, daß der weitaus größte Teil der Österreicher ihn begrüßte. Die Tschechoslowakei wiederum war aus deutscher Sicht nichts anderes als eine künstliche Kreation der Engländer und Franzosen, durch die katholische Slawen und entkonfessionalisierte19 Tschechen mit einer starken deutschen Minderheit, außerdem mit Ungarn, Ruthenen, Rumänen und Polen zusammengefügt wurden, vorrangig mit dem Ziel, Deutschland zu schwächen.

Die Tschechoslowakei verhielt sich übrigens zwischen den Kriegen gegenüber Minderheiten keineswegs wie das Vorbild an Toleranz und Demokratie, als das die alliierte Propaganda dieses Land darstellte, genausowenig wie Polen, das zwar mit Frankreich und England verbündet war, aber immer von autoritären Regimen beherrscht wurde (Marschall Pilsudski, Oberst Beck …) und schließlich – aber das war natürlich nicht Bestandteil der gegen Deutschland gerichteten alliierten Propaganda – ganz offen antisemitisch war.

In den verschiedenen Krisen, die den Zweiten Weltkrieg vorbereiteten, beteuerte Deutschland stets, nur auf die Aggressionen und Drohungen der Engländer und Franzosen oder ihrer Verbündeten zu reagieren. So behauptete die deutsche Propaganda in der tschechischen Frage ganz forsch, Deutschland habe nur auf die Mobilmachung reagiert, die von Präsident Benes Mitte Mai 1938 angeordnet worden war, und 1939 argumentierte sie, der Einmarsch in Polen sei lediglich die Antwort auf die polnischen Provokationen.

In einem Brief ans Foreign Office20 kurz vor dem Einmarsch in Polen klagte Hitler über »himmelschreiende, barbarische Mißhandlungen und sonstige Verfolgungen der großen deutschen Volksgruppe in Polen, die bis zur Tötung vieler dort lebender Deutscher oder zur Verschleppung unter grausamsten Begleitumständen führten. Diese Zustände sind für eine Großmacht unerträglich. Sie haben Deutschland gezwungen [Hervorhebung der Autorin], nach monatelangem Zusehen nunmehr ebenfalls die notwendigen Schritte zur Wahrung der berechtigten [Hervorhebung der Autorin] deutschen Interessen zu ergreifen.« Klagen, die einen seltenen Zynismus offenbaren, wenn man sich Hitlers unzählige Vorhaben in Bezug auf die slawischen Völker vor Augen hält! Die »Geduld der Deutschen« gegenüber diesen Provokationen hatte im September 1939 angeblich ihre Toleranzschwelle erreicht!

Der deutsche Außenminister v. Ribbentrop griff dieses Thema bei einem Gespräch am 1. September 1939 mit dem französischen Botschafter in Berlin wieder auf und behauptete, von einer deutschen Aggression zu sprechen sei abwegig, da Polen selbst Deutschland seit Monaten provoziert habe. Es habe Danzig wirtschaftlich ausgelaugt, die deutsche Minderheit in Polen mißhandelt und unaufhörlich Grenzverletzungen begangen. Mit größter Geduld habe der Führer diese Provokationen ertragen, in der Hoffnung, Polen würde doch noch zur Vernunft kommen. Doch das Gegenteil sei eingetreten. Polen, das seit Monaten mobil mache, habe am Abend zuvor die allgemeine Mobilmachung beschlossen. Die Polen hätten auf deutschem Territorium drei Angriffe verübt. Angesichts dieser Geschehnisse sei die Version einer deutschen Aggression geradezu absurd.