Inselduell

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Inselduell
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Anja Eichbaum

Inselduell

Kriminalroman


Zum Buch

Puppentanz Wer übernimmt das Amt des Bürgermeisters auf Norderney? Umweltbewusst, modern, alleinerziehend – so präsentiert sich die Kandidatin Petra Mertens bei der anstehenden Wahl. Doch noch bevor der Wahlkampf seinen Höhepunkt erreicht hat, wird sie tot am Planetenweg aufgefunden. Mystische Zeichen am Tatort wirken wie eine Visitenkarte des Täters, der ein perfides Spiel mit den Ermittlern zu spielen scheint. Atemlos verfolgt Inselpolizist Martin Ziegler eine Spur nach der anderen und fühlt sich doch immer wieder an der Nase herumgeführt. Ob die Polizeipsychologin Ruth Keiser ihm helfen kann? Sie besucht im Rheinland ihren Freund, der als Journalist nur zu gerne in die Recherchen düsterer Familiengeheimnisse einsteigt. Aber ist das wirklich der richtige Weg oder werden auch sie nur zum Narren gehalten? Die Ermittler sind ratlos. Liegen die Antworten schließlich doch in den Sternen?

Anja Eichbaum stammt aus dem Rheinland, wo sie bis heute mit ihrer Familie lebt. Als Diplom-Sozialarbeiterin ist sie seit vielen Jahren leitend in der Kinder- und Jugendhilfe tätig. Frühere biographische Stationen wie eine Krankenpflegeausbildung und ein »halbes« Germanistikstudium bildeten Grundlage und Füllhorn zugleich für ihr literarisches Arbeiten. Aus ihrer Liebe zum Meer entstand ihr erster Norderney-Krimi, denn ihre Bücher verortet sie gern dort, wo sie selbst am liebsten ist: am Strand mit einem Kaffee in der Hand. Nach Ermittlungen auf Norderney und an der Ostseeküste, agieren ihre Protagonisten diesmal sowohl auf der ostfriesischen Insel als auch in der Heimat der Autorin.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © brndtung / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-6756-1

Personenregister

Gert Schneyder, Mordkommission Aurich

Martin Ziegler, Dienststellenleiter Norderney, lebt mit Anne Wagner zusammen.

Nicole Ennert, Olaf Maternus, Silke Habicht, Ronnie Heitbrink und Lars Sellin, Polizisten

*

Ruth Keiser, Polizeipsychologin

Oskar Schirmeier, Journalist

*

Joseph Thies, Bürgermeister

Petra Mertens, Kandidatin

Klaas Wilko Kroll, Kandidat

Malte Häusler, Kandidat

*

Mattis und Klara Mertens, Kinder

Elisabeth von Möwitz, Schwägerin

Britta Merlenbusch, Patentante

*

Daniela Prinzen, geb. Rick

Frank Prinzen

Marthe Dirkens

Anne Wagner

*

Sabine Hollstein, Sozialarbeiterin

Theresa Westerkamp, Rechtsmedizinerin

Thorsten und Christel Henkel, Dauercamper

Will Reimers, Sternwarte

Mechtild und Hubertus Stock, Bereitschaftspflege

Hendrikje van Hasseln, Tarotlegerin

Dagmar Thies, Ehefrau

Gundula Kroll, Ehefrau

Alexandra Häusler, Ehefrau

Roland Merlenbusch, Ehemann

u. a.

Mittwoch, 20.03.

Hochmut

»Und Sie sind sich sicher, dass Sie eine Chance haben? Zum Bürgermeister gewählt zu werden, ist selbst für einen Insulaner eine Herausforderung und kein Selbstläufer. Sie aber«, er machte eine Pause, und Petra Mertens war versucht, für einen Augenblick die Augen zu schließen, weil sie genau wusste, was kommen würde, »Sie als Zugezogene, als Frau und als alleinerziehende Mutter, das nenne ich mal Chuzpe.«

Petra knipste das routinierte Lächeln an, das sie schon viele Jahrzehnte beherrschte. Nie hätte sie für möglich gehalten, dass ihr ausgerechnet die Erfahrungen als Weinkönigin vor über 20 Jahren von Nutzen wären. Wenn sie etwas konnte, dann war es Repräsentieren, auf Knopfdruck eine fotogene Haltung einnehmen, einen gewinnenden Gesichtsausdruck aufsetzen.

»Herr …« Nun war es an Petra Mertens, eine Pause einzulegen. So grässlich sie diese Psychospielchen fand, sie waren ein Teil des Konstrukts. Solange sie nicht an den Schalthebeln saß, tat sie gut daran, sich wenigstens teilweise den Konventionen zu beugen. Nach der Wahl würde sie alle Möglichkeiten nutzen, um Kommunikation und Transparenz zu verbessern. Nur, dass ihre Gegner und die konservativen Wähler genau das befürchteten. Deswegen hielt sie in dem Punkt die Füße stiller, als es ihre Art war. Sie hatte schon zu viele Lasten im Gepäck, die immer und immer wieder auf den Tisch gepackt wurden, wie der vor ihr sitzende Journalist bewiesen hatte.

»Klöne«, antwortete er nach einer sekundenlangen Verzögerung und mit einem süffisanten Grinsen.

Ja, sie wussten beide, was für ein Spiel hier stattfand.

»Herr Klöne, stimmt. Wir hatten ja schon einmal das Vergnügen. Ihren Artikel in Ihrem Internetblog über die Insel habe ich durchaus zur Kenntnis genommen.«

»Das freut mich, Frau Mertens. Es dürfte für Sie ja nicht uninteressant sein, was auf der Insel passiert und gedacht wird. Und das lässt sich in einem Blog etwas differenzierter, oder sagen wir sogar unverfälschter darstellen als in einem offiziellen Presseorgan.«

Petra seufzte. So wie Klöne es formulierte, hörte es sich an, als lebten sie in einer Welt der manipulierten Meinungsmache. Weit davon entfernt waren sie sicherlich nicht immer, aber hier in Ostfriesland bezweifelte sie absichtliche Fake News der Presse.

»Zu Ihrer Ausgangsfrage. Die übrigens die x-te Variante der einzigen Frage zu sein scheint, die alle interessiert. Wenn ich mir keine Chancen ausrechnete, träte ich nicht an. Ich bin keine Freundin davon, Energien sinnlos zu verschleudern. Ich habe etwas zu sagen. Ich kann Probleme erkennen und analysieren. Ich arbeite lösungsorientiert. Vielleicht gerade, weil ich eine Frau bin. Ganz sicher aufgrund der Zukunftsperspektive und der Managementkompetenzen einer alleinerziehenden Mutter. Und insbesondere mit meinem Blick von außen. Das alles ist wichtig für die Weiterentwicklung der Insel.«

»Die Weiterentwicklung der Insel? Haben Sie diese nicht vor kurzer Zeit noch als Ihren Lieblingsort bezeichnet? Wie passt das zusammen?«

»Auch das, was man liebt, darf sich weiterentwickeln. Sehen Sie, ich liebe meine Kinder über alles. Sollte ich deswegen nicht alles dafür tun, dass sie zu der bestmöglichen Version ihrer Selbst werden können? Oder glauben Sie daran, dass alles aus der eigenen Persönlichkeit allein heranwächst?«

Klöne strich über seine Bartstoppeln und schaute sie nicht an, während er mit seinem Bleistift auf dem Block herumkritzelte. Sie ahnte schon, was er aus ihren Worten machen würde, aber was sollte sie tun? Sie konnte immer nur wiederholen, wie sie die Dinge sah und wofür sie stand. Dass es schwer werden würde, war klar. Bei Leuten wie Klöne hatte sie keine Chance. Aber die Insel war im Wandel. Es gab genug Menschen, die sich wünschten, dass jemand käme und die Dinge einmal bei der Wurzel packte, statt immer nur dabei zuzusehen, wie alles schlechter wurde. Wer zuhörte und hinsah, wusste, dass sie genau die Richtige dafür war. Von nichts anderem ließ sie sich Bange machen.

*

»Frühlingsanfang?«, reagierte Ruth fahrig, weil sie von einer Mail abgelenkt wurde, die auf ihrem Bildschirm aufploppte.

»Ja, Frühlingsanfang.« Ruth hörte die Mischung aus Genervtsein und Belustigung durch den Hörer. »Liebe Frau Keiser, was treiben Sie denn da schon wieder? Ich merke doch, dass etwas wichtiger ist als ich, oder täusche ich mich?«

»Sorry.« Ruth drehte sich auf ihrem Schemel, der vor dem schmalen Schreibtisch stand, vom Laptop weg. Sie wusste als Psychologin, dass feinfühlige Menschen es sofort merkten, wenn man beim Telefonieren nicht bei der Sache war. Und erst recht lehnte sie ein solches Verhalten ab. Theoretisch zumindest. Bei anderen. Oder gefragt nach ihren Wertvorstellungen für zwischenmenschliche Kommunikation. Schuldbewusst senkte sie ihre Stimme. »Ich habe es verstanden. Wenn du mich siezt …«

»Ach, das ist die einzige Art, mir deine Aufmerksamkeit zu sichern? Hätte ich das mal geahnt. Niemals wäre das Du über meine Lippen gekommen.«

»Quatschkopf«, entfuhr es ihr.

Er lachte. »Meine liebe Ruth, wie gehst du bloß mit meinem Sehnen nach dir um? Ich spreche von Frühlingsgefühlen – und du?«

»He! Halt. Stopp. Von Frühlingsgefühlen war bisher keine Rede. Frühlingsanfang war das Stichwort.«

 

»Oh, wie schade. Für mich ist das fast gleichbedeutend. Wenn du das anders siehst. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle …«

»Jetzt ist aber gut. Bleib doch mal ernst. Wo ich dir endlich zuhöre.«

Oskar seufzte theatralisch. »Wie gut, dass mir das gelungen ist. Also, dann noch einmal von vorne. Bis wann hattest du mir zugehört?«

»Fang lieber von vorne an.«

»Oha, mit der Begrüßung also.«

»Nein, mit dem Frühlingsanfang. Manchmal raubst du mir den letzten Nerv.« Ruth lachte auf. »Aber du weißt schon, dass das ein Kompliment ist?«

»Tatsächlich hast du mir in den letzten Monaten ausreichend Gelegenheit gegeben, das festzustellen, ja. Also gut, jetzt mal ernsthaft. Ich dachte über ein gemeinsames Wochenende bei mir nach. Was hältst du davon? Bei uns am Rhein gibt das Frühjahr schon Gas. Es ist herrliches Wetter gemeldet. Über 20 Grad. Ich hätte ein paar gute Ideen, wie wir uns die Zeit vertreiben könnten.«

Ruth lachte erneut. »Letzteres glaube ich dir sofort. Das hast du bei meinen letzten Besuchen eindringlich bewiesen, auch bei schlechtem Wetter.«

»Klingst nicht so, als wärst du unzufrieden gewesen.«

»Das stimmt. Das war ich ganz und gar nicht.«

»Ich wette, du lächelst gerade.«

»Tue ich. Du bist ein Hellseher.«

»Das ist meine Spezialität. Deswegen kenne ich auch die Antwort. Du kommst.«

»Vielleicht musst du an deinem wahrsagerischen Feintuning noch etwas arbeiten. Ich komme. Aber nicht erst am Wochenende, sondern schon Donnerstag. Wenn du magst. Freitag fällt mein Termin aus.«

»Das ist großartig.« Oskar hatte nur einen Moment gestutzt. Nun konnte Ruth die Freude aus seiner Stimme heraushören. »Das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt habe.«

»Passt es auch für dich?«

»Ich muss Freitag arbeiten. Aber ich habe keine Sorge, dass du dich nicht auch alleine amüsierst. Hauptsache, eine gemeinsame Nacht mehr. Das ist das Beste, was ich mir vorstellen kann.«

Ruth merkte, dass sie wie ein Honigkuchenpferd grinste. Wer hätte gedacht, dass es sie so erwischte. Am liebsten würde sie sofort ihre Reisetasche ins Cabrio schmeißen. Aber was waren schon 24 Stunden? »Finde ich auch, mein kleiner, großer Quatschkopf. Ich freue mich riesig auf dich.«

*

Petra Mertens verabschiedete das Kindermädchen betont fröhlich und ließ sich dann mit dem Rücken zur Tür langsam zu Boden sinken. Aus dem Wohnzimmer dröhnten die Stimmen einer Wissenschaftssendung aus dem Kika-Fernsehprogramm. Etwas, was sie ihren Kindern erlaubte, während sie über andere Sendungen heftig diskutierten. Heute war sie, wie wahrscheinlich die Mehrzahl aller Eltern, nur froh, dass ihre Kinder für die nächste halbe Stunde abgelenkt waren. Zeit für eine kleine Verschnaufpause, bevor sie den morgigen Tag vorbereiten musste. Die Müdigkeit saß ihr seit dem unbefriedigenden Interview am Nachmittag in Nacken und Schläfe. Auch wenn sie wusste, dass die Fragen von Klöne Teil des Spiels waren, machten sie trotzdem an Tagen wie diesen mürbe. An Tagen wie diesen, an denen sie sich die gleichen Fragen selbst stellte, an denen sie zuließ, dass die Zweifel sich über den Verstand legten und alle guten Argumente beiseite fegten. Die sie durchaus hatte. Das wusste sie, das wussten ihre Unterstützer, ihre Gegner und nicht zuletzt ein immer größerer potenzieller Wählerkreis. Wenn man den Umfragen Glauben schenkte, hatte sie verdammt gute Karten, die Bürgermeisterwahl zu gewinnen.

War sie bereit, den Preis zu zahlen, fragte die Stimme, die sich zwar in ihrem eng getakteten Alltag unterdrücken ließ, die aber seit drei Stunden einfach nicht mehr die Klappe hielt. Petra hatte es mit allen Coachingtipps versucht. Sie hatte »Stopp« gemurmelt, hatte ihren Gedankenfluss umgekehrt, sich abgelenkt und ein paar halbherzige Entspannungsübungen durchgeführt. Für mehr war keine Zeit gewesen. Das Interview, ein Treffen mit der Umweltgruppe und ein Fototermin an der Baustelle eines neuen Personalwohnheims hatten sich nahtlos aneinandergereiht. Was die Stimme noch gefüttert hatte. Petra fasste sich an die Schläfen. Sie sollte aufhören, ihre Gedanken als ›die Stimme‹ zu betiteln. Wenn einer das mitbekäme, könnte sie einpacken. Das wäre das Ende ihrer kommunalpolitischen Karriere, von der sie doch hoffte, dass sie erst am Anfang stand.

Sie stemmte sich hoch und zog die Tür zum Wohnzimmer zu. In der Küche hatte das Kindermädchen schon klar Schiff gemacht, sodass sie gleich nur dafür sorgen musste, dass die Kinder in die Betten kamen. »Nur«, murmelte sie vor sich hin. Dabei war es meist die größte Herausforderung des Tages. Wenn ihr Ruhebedürfnis auf das Nichtschlafenwollen der Kinder prallte. Wobei sie die Zeit an guten Abenden mochte. Wenn alle im Flow waren, wenn es keine besonderen Störungen gab. Dann genoss sie es, dass selbst der Zwölfjährige mit ins Bett der jüngeren Schwester huschte und die Geschwister mit Engelsaugen darum baten, eine Geschichte vorgelesen zu bekommen.

»Das darfst du niemandem erzählen«, hatten sich beide ausbedungen. Natürlich waren sie längst dem Vorlesealter entwachsen. Aber seit dem Tod ihres Mannes war es so etwas wie ein Heilmittel geworden, ein Festhalten an alten, zumindest für die Kinder glücklicheren Zeiten. Ihr schlechtes Erwachsenengewissen hatte die Gelegenheit gerne ergriffen. Schließlich tat es auch ihr gut. So eng beieinander. In Heile-Welt-Szenarien vertieft, die sie in der Wirklichkeit schon lange nicht mehr erlebt hatte. Sie schluckte. Ihr Mund wurde trocken. Nur nicht daran denken. Schnell öffnete sie die Kühlschranktür und goss sich ein Glas kaltes Wasser ein, das sie ohne Absetzen austrank.

Genauso häufig waren allerdings die Abende, an denen die Kinder eifersüchtig um ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung buhlten und jeglichen Streit vom Zaun brachen, der sich ihnen bot. Da ging es um geklaute Lieblingsdecken, um die Zeit des Zähneputzens, um verschwundene Handys, Bücher und CDs, um angebliche Missetaten am Tag. Haare ziehen, boxen, kneifen, treten – all das wurde eingesetzt, um das eigene Recht zu unterstreichen, und keine der Konfliktlösungen, auf die die Schule so großen Wert legte, konnte sie durchsetzen. Es waren die Abende, an denen sie schließlich alle schrien, nur um den anderen zu übertönen, und sie war in diesen Augenblicken keinen Deut besser als die Kinder. Dass einer das hören würde, war ihre größte Angst. Was Mattis mit seinen zwölf Jahren zu nutzen wusste. »Schreist du dann als Bürgermeisterin auch so rum?«, hatte er letztens gefragt. Sofort danach war eine unheimliche Stille eingetreten. Klara hatte erschrocken die Augen aufgerissen, Mattis war aus dem Zimmer gestürmt, hatte sich im Bad eingeschlossen und dort bitterlich geweint. Es war einer der Abende gewesen, an dem sie sich nach dem ersten Schreck laut zugesprochen hatte: »Aber nicht doch. Ich muss nicht perfekt sein, um dieses Amt anzutreten. Wer fragt danach, ob einer der männlichen Kandidaten zu Hause mit den Kindern brüllt?«

Trotzdem hatte sie seitdem oft Sorge wegen möglicher abendlicher Eskalationen. Dass sie deswegen nach und nach die Freiräume der Kinder etwas ausgeweitet hatte, wusste sie selbst. Andererseits bewegte sie sich immer noch in einem Bereich von Regeln und Grenzen, der in anderen Familien schon lange ausgehebelt war. Tatsächlich war sie sogar dazu übergegangen, das Thema Kinder und Familie immer mehr in ihre Wahlkampfveranstaltungen aufzunehmen. Obwohl es ihr anfangs als die größte Hürde erschienen war. Nach dem, was alles war. Weil sie Angst vor den Fragen gehabt hatte.

Nun aber erlebte sie, wie sehr sie Menschen emotional erreichen konnte. Wenn sie ihre eigenen Sorgen hinsichtlich der Kinder thematisierte, wenn sie Unsicherheiten äußerte und auf die Lebensbedingungen junger Familien einging. Gerade, weil es zu ihrem Schwerpunktthema passte. Umweltschutz. Erhaltung der Natur. Die Zeichen der Zeit standen gut für sie. Es tat sich was. Es war Bewegung in der Sache. Schon lange hatte niemand mehr so wie jetzt damit punkten können, wenn er zu einem Überdenken der eigenen Lebensweise aufrief. Hier war sie klar im Vorteil. Als vergleichsweise junge Kandidatin mit 39 Jahren nahm man ihr ab, wenn sie für die Zukunft ihrer Kinder die Stimme erhob.

Aus dem Wohnzimmer erklang gedämpft die Titelmusik von ›logo!‹, dem Nachrichtenmagazin für Kinder. Es blieben ihr zehn Minuten. Die Zeit für sich allein hatte ihr gutgetan. Sie würde den Abend nutzen, um den morgigen Vortrag vorzubereiten, bei dem sie über die Gleichstellung zwischen Mann und Frau in einer modernen Umweltpolitik sprechen würde. Sie holte ihren Laptop aus der Tasche an der Garderobe und stellte ihn auf den Küchentisch. Daneben das Wasserglas und ein Schälchen mit Gummibären. Genau abgezählt, damit es ihre Energiekalkulation nicht allzu durcheinanderbrachte. Aber als kleine Reminiszenz an ihre Heimat. Die rot-gelb-grün-weiß-orangen Zuckerportionen hatten sie schon durchs Abitur und alle ihre Uniprüfungen gebracht. Nun musste sie nur vermeiden, dass Mattis und Klara die Küche stürmten.

Was sie sofort vergaß, als sich ihr Handy meldete. Die schrille Klingel, die an einen alten Festnetzapparat erinnerte, ließ sich nicht ignorieren. Damit drangen nur die wichtigsten Anrufe zu ihr durch. Es blieb ihr nichts anderes übrig. Wahlkampfzeiten.

»Petra Mertens, hallo?«, meldete sie sich.

Als sie auflegte, hatten ihre Kinder die Süßigkeiten aus der Küche entführt und stritten sich lauthals um die Farben. Petra schaute irritiert auf ihren Laptop. Sie war verwirrt. Verstand nicht, was der Anruf zu bedeuten hatte. Wusste nur, dass sie handeln musste. Jetzt. Sofort. Heute Abend noch.

*

Daniela Prinzen sah sich zufrieden im Frühstücksraum um. Das Essen hatte allen geschmeckt, es war nur wenig übrig geblieben von dem Fingerfood, das sie zubereitet hatte. Der große Suppentopf war sogar komplett leer, wie sie eben bei einem Gang in die Küche festgestellt hatte.

»Möchte noch einer einen Kaffee?«, fragte sie in die Runde. Frank erhob sich. »Den mache ich. Du bleibst jetzt mal sitzen.«

Daniela grinste. Ihr Mann hatte seine guten Seiten nach der Hochzeit im letzten Jahr nicht abgelegt. Immer hatte er im Blick, wie er sie unterstützen konnte. Sie hatten sich ja nicht eben wenig vorgenommen mit einem Hostel auf einer der beliebtesten Ferieninseln der Nordsee.

»Nein. Nein.« Energisch setzte sich die Stimme von Frau Dirkens durch. »Das wollt ihr mir ja wohl nicht antun. Kaffee um diese Uhrzeit?«

»Nun ja, der ein oder andere vielleicht.« Daniela sah fragend in die Runde.

»Aber es ist mein Geburtstag. Liebe Kinder, so geht das nicht.«

Daniela schlug sich an die Stirn. Sie wusste, worauf die alte Dame hinauswollte. Die Teezeremonie fehlte. Frau Dirkens’ ganz spezielle, eigenwillige Version des ostfriesischen Brauchs.

»Aber selbstverständlich sind wir dabei.« Martin Zieglers dunkle Stimme übertönte die Gespräche und das Lachen der Tischrunde. »Wenn ich helfen kann? Soll ich die Flasche aus dem Giftschrank holen?«

Alle brachen in Gelächter aus. Bei Zieglers erster Begegnung mit Frau Dirkens’ Giftschrank war er keineswegs entspannt gewesen, befand er sich doch damals als Inselpolizist in der Ermittlung eines Todesfalls. Heute aber feierten sie privat den Geburtstag der alten Pensionswirtin.

»Nichts da, so weit ist es immer noch nicht. An meinen Schrank darf keiner ran. Auch wenn ich mich auf mein Altenteil zurückgezogen habe. Es hält mich übrigens jung, das Treppensteigen.« Und schon war sie aus dem Raum.

»Das Gefühl habe ich auch, dass es sie jung hält«, warf Anne Wagner ein. »Das ist wirklich ein gutes Konstrukt, das ihr hier gefunden habt.«

Daniela nickte. Sie hatte mit ihrem Mann die Pension von Frau Dirkens übernommen, während die alte Dame mit lebenslangem Wohnrecht in das oberste Stockwerk gezogen war. Nach und nach hatten sie begonnen, die in die Jahre gekommenen Zimmer zu renovieren und auf einen neuen Standard zu bringen. Dabei war eine Art Hostel entstanden, die günstiges und trotzdem modernes Ferienwohnen miteinander verband. Etwas, das mittlerweile selten auf der Insel war. Weshalb sie sich über eine mangelnde Nachfrage nicht beschweren konnten. Für Daniela war ein Traum wahr geworden. Ihren Umzug aus dem Rheinland bereute sie noch keinen Tag.

Frank, der in der Küche das Teewasser aufgesetzt hatte, betrat den Raum mit einem Tablett voller Porzellantassen »Ostfriesische Rose«, den Kluntjes und zwei Sahnekännchen. »Das kann man wohl sagen, Anne. Wirklich eine Win-win-Situation, wie sie im Buche steht. Dass es so glatt läuft, haben wir uns alle nicht vorstellen können.«

 

»Stimmt es denn, dass du zusätzlich wieder als Friseurin arbeiten willst?« Eine der älteren Freundinnen von Frau Dirkens beugte sich vor und hielt sich die Hand hinter das Ohr.

Daniela lachte. »In der Hinsicht unterscheidet sich Norderney nicht vom Rheinland. Gerüchte verbreiten sich in Windeseile.«

»Ach?« Enttäuscht ließ sich die Insulanerin zurückfallen. »Nur ein Gerücht.«

»Nein, das stimmt auch nicht.« Frank ergriff wieder das Wort, während er die Tassen verteilte. »Wir überlegen noch. Das war ja auch immer einer von Danielas Träumen. Sich selbstständig zu machen mit einem mobilen Friseurservice, stimmt doch, oder?«

»Allerdings. Als ich noch unverheiratet war, wollte ich meine Dienste ›Haarick‹ nennen, ein Wortspiel aus haarig und meinem Mädchennamen Rick. Das passt ja nun nicht mehr.«

»Und deswegen hast du den Traum begraben?« Anne schüttelte den Kopf. »Das sieht dir nicht ähnlich.«

»Natürlich nicht. War nur ein Spaß. Wir sind eher noch in der allgemeinen Findungsphase.«

Anne schaute skeptisch. »Ich könnte mir vorstellen, dass alles zusammen auch zu viel wird. Franks Vollzeitstelle, das Hostel, der Umbau. Und noch ein mobiler Friseurdienst?«

»Deswegen gehen wir das Schritt für Schritt an. Aber Pläne schmieden kostet ja nichts.« Daniela sah zu Frank. »Nur ein Wortspiel mit meinem neuen Namen habe ich als Frau Prinzen noch nicht gefunden.«

»Du wirst doch wohl nichts bereuen?« Frank drohte ihr mit dem Zeigefinger.

»Nach meiner Teezeremonie bereut niemand etwas. Hier ist das gute Stück.« Frau Dirkens stellte die Whiskeyflasche mit Schwung auf den Tisch. »Also los, Kluntjes in die Tassen, wir wollen loslegen.« Frank hatte den Tee in der Küche aufgebrüht und ihn in der Servierkanne auf den Tisch gestellt. Alle gaben sich nacheinander dem vertrauten Ritual hin. Die Kluntjes wurden mit dem heißen Tee übergossen und knisterten laut. Dann wurde die Sahne vorsichtig mit einem Löffel am Tassenrand eingetröpfelt, sodass die klassische Sahnewolke entstand. Nur – dass hier eben der Schuss Whiskey hinzugefügt wurde, der Frau Dirkens’ Tee erst zu der Besonderheit machte, von der alle schwärmten.

»Denn mal auf meinen Seligen, der uns den Whiskey nahegebracht hat.« Frau Dirkens hob die Tasse. »Wer hätte gedacht, dass ich ihn einmal so lange überlebe.«

»Da sollen auch noch viele Jahre dazukommen«, gab Daniela zurück. Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Die Pensionswirtin war über viele Jahre zu einem Elternersatz für sie geworden.

»Da habe ich gar keine Sorge«, zwinkerte Anne Wagner.

Daniela lächelte sie erleichtert an. Anne musste es als Ärztin im Inselkrankenhaus schließlich wissen.

»Wie schön jedenfalls, dass ihr alle zu meinem Ehrentag zusammengekommen seid. Insulaner und Zugezogene, wo hat man das schon.« Marthe Dirkens nahm einen großen Schluck aus der Tasse, die sie grazil mit abgespreiztem kleinen Finger in der Hand hielt.

»Jo, Marthe, da bist du wirklich was Besonderes auf der Insel.« Eine der Damen aus Frau Dirkens’ Handarbeitskreis erhob die Stimme. »Eigentlich solltest du dich am besten für die Bürgermeisterwahl aufstellen lassen.«

Alle lachten und fingen an durcheinanderzureden.

Doch die Freundin war noch nicht zu Ende. Laut pochte sie auf den Holztisch. »Oder will mir hier irgendjemand weismachen, von den drei aufgestellten Kandidaten könnte man irgendjemanden wählen?« Sie verzog den Mund, als wolle sie gleich ausspeien. »Da kann man froh sein wegen seines Alters, dass man das nicht mehr allzu lange erleben muss.«

*

Klaas Wilko Kroll stellte sein Fahrrad windsicher an der Hauswand ab und öffnete die Tür seiner Stammwirtschaft. So einen neumodischen Kram wie ein Fahrradschloss brauchte er in diesem Teil der Insel glücklicherweise immer noch nicht. Hier war man unter sich. Insulaner und Ostfriesen. Kein Touri weit und breit. Und weil das so bleiben sollte, war es wichtig, heute Abend die Stammkneipe zu besuchen.

»He, KWK!«, schallte es ihm aus fast allen Mündern entgegen. Nicht laut, nicht euphorisch, sondern nüchtern friesisch, wie es hier als Landesart galt. KWK war sein Spitzname, seitdem er sich zur Wahl hatte aufstellen lassen. Das fanden einige eine witzige Anspielung auf die große Politik in Berlin. Wobei ›große Politik‹ von ihnen allen nur ironisch gedacht und ausgesprochen wurde.

Mit seinen 56 Jahren fand er es an der Zeit, sich noch einmal nach einer interessanten Herausforderung umzusehen. Seine Anwaltstätigkeit auf dem Festland langweilte ihn nach fast 30 Jahren und bot kein Weiterkommen. Das Amt des hauptamtlichen Bürgermeisters schien verlockender, als weiterhin Tag für Tag den Ruhestand herbeizusehnen. Das jedenfalls hatte seine Frau ihm klargemacht.

»Das wird auch mal wieder Zeit, dass du dich bei uns blicken lässt«, haute ihm einer der Thekensteher auf die Schulter. »Wirst ja wohl hoffentlich keiner von denen, die nicht mehr wissen, wo sie herkommen. Denk daran: Wir sind diejenigen, die dich wählen.«

»Weiß ich doch, weiß ich doch.« Mit dem Zeigefinger wies Kroll auf die acht Männer, die sich auf der hölzernen Theke abstützten, und signalisierte dem Wirt, allen einen Schnaps hinzustellen. »Aber noch bin ich nicht gewählt, wie ihr wisst.«

Die Männer tranken alle gleichzeitig und knallten die Gläser zurück auf den Tresen.

»Die Gefahr besteht«, stieß einer hervor.

Klaas Wilko lachte. »Was meinst du mit Gefahr? Dass ich gewählt werde oder nicht?«

Alle brachen in ein dumpfes Gelächter aus. Kroll wusste, wie er die Männer zu nehmen hatte.

»Na, aber ein Selbstläufer wird das nicht, so wie es aussieht«, ließ der Wirt sich vernehmen. Bedeutungsvoll zog er die Augenbrauen hoch. »Auch hier nicht, KWK, das lass dir mal gesagt sein.«

Kroll sah die Männer der Reihe nach an. »Und das soll was heißen? Mach es mal nicht zu spannend.«

Alle schauten auf ihre Hände, die einheitlich um die Biergläser vor ihnen lagen. Kneipenbesucher waren wie Kirchgänger, schoss es Kroll durch den Kopf. Rituale waren es, die die Menschen brauchten. Ob sie die Hände zum Gebet falteten oder das Glas umklammerten. Beides gab Halt. Und weil die Menschheit genau das suchte, deswegen würde er Bürgermeister werden. Bürgermeister seiner Heimatinsel.

Der Wirt polierte mit einem Handtuch die kupfernen Bierhähne. Er ließ sich Zeit. Kroll wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihn zu drängen, wenn er eine ehrliche Antwort bekommen wollte.

»Du bist ja nun mal nicht der einzige Kandidat«, ließ er ihn dann mit einem schnellen Seitenblick wissen.

»Das ist ja keine Neuigkeit.«

»Und die Themen, die uns hier umtreiben, die brennen nun mal. Wird Zeit, dass sich mal einer wirklich darum kümmert.«

»Genau dafür stehe ich.«

Der Wirt richtete sich ein Stück weit auf, drückte den Rücken durch und senkte seine Stimme noch mehr. »Die meisten von uns wissen das. Aber …«

»Aber was?«

»Was man sich so erzählt. Die beiden anderen kommen auch an.«

Kroll gab ein Schnaufen von sich. Er hatte nicht erwartet, dass über seine beiden Gegenkandidaten überhaupt ein Wort in dieser Kneipe verloren wurde.

»Womit denn?«, fragte er und verzog seinen Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Mit Möpsen bei der einen und Pomade bei dem anderen? Da glaubt ihr, da könnte man auf unserer Insel was werden?«

Die meisten lachten bei seinen Worten, aber Kroll sah, dass es nicht alle waren. Irgendetwas hatte sich stimmungsmäßig verändert, seit er das letzte Mal hier war.

»Ich weiß nicht, ob man es sich noch so einfach machen kann.« Der Wirt zapfte ein neues Bier für Kroll und stellte es vor ihn hin. »Besonders die Mertens sammelt Befürworter und Unterstützer um sich. Weil sie Themen anspricht, die alle umtreiben. Wohnungsmarkt. Arbeitskräfte. Weiterentwicklung der Insel.«

»Die Themen stehen auch bei mir im Wahlprogramm.«

»Die Themen ja«, kam eine Stimme von der gegenüberliegenden Seite.

Kroll war es, als würde der ohnehin schon kleine Kneipenraum, der nur aus einem schmalen dreiseitigen Umlauf um die Zapfanlage bestand und keine weiteren Sitzgelegenheiten bot, noch enger.

»Mach noch eine Runde«, wies er an, um etwas Zeit zu gewinnen. Als die leeren Gläser wieder mit einem hellen Klirren zurückgestellt wurden, entgegnete er betont ruhig und besonnen: »So, so, und du glaubst also, dass ich nur Themen habe und keine Antworten.«

»Vielleicht.« Der Angesprochene zog den Kopf zwischen die Schultern. »So richtig eine Lösung habe ich jedenfalls noch nicht von dir gehört.«